Martin Buber und die Deutschen (eBook)

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2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-27343-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Martin Buber und die Deutschen -  Bernd Witte
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Eine noch offene Geschichte
Er arbeitete für eine Erneuerung des Judentums auf der Grundlage der deutschen Sprache. Doch das Land, das ihm Heimat war, verjagte ihn. Nach Auschwitz sah er die Beziehung des Judentums mit Deutschland zerstört, und ist doch offen für ein neues Gespräch. Was hat es mit Martin Buber und den Deutschen auf sich? War er der vom »geistigen Deutschland anerkannter deutsche Jude« oder nur der »Jude für die Deutschen nach Auschwitz«? Dieser Essay begibt sich auf eine spannende Spurensuche. Er bringt das facettenreiche Bild einer ebenso spannungsvollen wie fruchtbaren Beziehung zu Tage. Die Geschichte von Martin Buber und den Deutschen, sie ist lange noch nicht zu Ende erzählt!

Bernd Witte unterrichtete Neuere Deutsche Literatur in Düsseldorf und betreute die Martin Buber Werkausgabe. Er hat zahlreiche Arbeiten zu J. W. Goethe, Heinrich Heine, Walter Benjamin und Franz Kafka veröffentlicht und Gesamtausgaben der Werke von C. F. Gellert und Franz Hessel herausgegeben. Erschienen sind u. a. die monographische Arbeit Walter Benjamin (1985), das Goethe Handbuch (1997), und Jüdische Tradition und literarische Moderne (2007).

II. JÜDISCHE IDENTITÄT – DEUTSCHE IDENTITÄT

BUBER IN PRAG
DIE NEUDEFINITION DES JUDENTUMS

Martin Buber, der sich schon als Student für die Sache des Zionismus engagiert hatte, machte 1901 mit einem von den Schriften Achad Haams inspirierten Leitartikel im ersten Heft der neugegründeten Zeitschrift Ost und West deutlich, dass er dem politischen Zionismus Herzlscher Prägung kritisch gegenüberstand. Unter der Überschrift »Jüdische Renaissance« gab sein Manifest nicht nur dem neu gegründeten Publikationsorgan das Programm vor, sondern verlieh gleichzeitig den Bestrebungen für eine kulturelle Erneuerung des Judentums im deutschen Sprachraum augenblicklich Namen und Richtung. Der dreiundzwanzigjährige Autor, der sich in diesem Artikel zum ersten Mal öffentlich zu Fragen des Judentums äußerte, ordnet dessen kulturellen Aufbruch in die allgemeine Kulturbewegung der europäischen Völker um die Jahrhundertwende ein, die er in neoromantischer Terminologie als »die Selbstbesinnung der Völkerseelen« interpretiert. (MBW 3. S. 143) Schon hier, wie in allen späteren Äußerungen zum Thema, definiert er die Eigenart der Judenheit dadurch, dass sie ein »Volk« sei. Mit Hinweis auf die europäische Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts möchte er »die neue Schönheitskultur« auch für das Judentum in Anspruch nehmen, um den beiden gesellschaftlichen Formationen der zeitgenössischen europäischen Judenheit, dem Ghetto, als dem »Zwang einer ihres Sinnes entkleideten Tradition«, aber auch der »armseligen Episode der ›Assimilation‹« zu entkommen und so »das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl der Juden wieder auf den Thron [zu] setzen«. (MBW 3. S. 146 f.)

Schon hier zeigt sich, wie schwierig es ist, einem Gegenstand wie »Martin Buber und die Deutschen« methodisch gerecht zu werden. Denn gerade in diesen frühen Texten, in denen Buber den Versuch unternimmt, eine eigenständige Definition der jüdischen Identität zu geben, bedient er sich in verstärktem Masse der Vorstellungen und Begriffe, die er aus der zeitgenössischen Diskussion im deutschsprachigen Kulturraum übernimmt. Dem können traditionelle methodische Konzepte der Geisteswissenschaften, wie etwa die des literarischen Einflusses, nicht gerecht werden. Vielmehr ist bei einem Intellektuellen wie Martin Buber, der seit seinem achtzehnten Lebensjahr im deutschen Kulturraum gelebt hat, aber einer religiösen und ethnischen Minderheit angehörte, davon auszugehen, dass er in all seinen Äußerungen auch ein Kind seiner Zeit ist, sich also im öffentlichen Diskurs, in den er sich einmischt, vor allem der kulturellen Konzepte bedient, die in seiner geistigen Umgebung dominant sind, was sich in seinem Text »Jüdische Renaissance« an Begriffen wie »Schönheitskultur« oder »Lebensgefühl« ablesen lässt, die der allgemeinen kulturellen Diskussion der Zeit entstammen.

Die Beziehung zwischen Mehrheitskultur und Minderheitskultur ist ein dialektischer Prozess, bei dem das Geben und Nehmen auf beiden Seiten stattfindet. Daran kann auch die nachträgliche Konstatierung seines Scheiterns nichts ändern, die mit Verweis auf die Shoa behauptet, eine deutsch-jüdische »Symbiose« habe es nie gegeben. Ein ahistorisches Verdikt wie das Gershom Scholems, der auf dem Jüdischen Weltkongress in Brüssel im August 1966 in seiner Rede »Juden und Deutsche« »diese unaufhörlichen Aderlässe« beklagte, »durch die die Juden die Majorität ihrer fortgeschrittensten Schichten an die Deutschen verloren«, wird der Wechselwirkung zwischen den beiden Kulturen in keiner Weise gerecht.1 Dennoch hat er mit seiner Leugnung dessen, was er »die so genannte deutsch-jüdische Symbiose« nennt, die öffentliche Meinung im Nachkriegsdeutschland entscheidend beeinflusst.2 Der Fall Buber zeigt schon am Beginn seiner Karriere, erst recht aber später, dass gerade im Versuch, die jüdische Tradition zu erneuern und zu einer »Renaissance« zu führen, das deutsche kulturelle Umfeld eine entscheidende Rolle gespielt hat.

In seinem Manifest bestimmt Buber die Kunst, insbesondere die jungjüdische Dichtung, als wichtigstes Instrument der Wiedergeburt des jüdischen Volkes. Was er hier zunächst allgemein als Ziel der jungjüdischen Bewegung definiert und im Dezember 1901 mit dem Referat über »Jüdische Kunst« dem 5. Zionistenkongress in Basel vorgetragen hat, bezieht er in einem weiteren Aufsatz mit dem Titel »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung« auf seine eigene Stellung innerhalb der jüdischen Renaissance. Auch hier gelingt es ihm, seinen Text an weithin sichtbarer Stelle zu platzieren, als programmatische Eröffnung des Jüdischen Almanachs, den der von ihm in Berlin mitgegründete Jüdische Verlag als seine erste Publikation im September 1902 veröffentlichte. Mit der Figur des »Schaffenden«, die er von der des »Intellektuellen« und der des nur reproduktiven »Künstlers« abgrenzt, beschreibt er die von ihm selbst erstrebte Rolle für die erhoffte Erneuerung des Judentums. In diesem Begriff kommt – wie auch in der enthusiastischen Redeweise des Textes – die Durchdringung seines Denkens durch die Philosophie Nietzsches zum Ausdruck, dessen Zarathustra sich, wie er in seinen »autobiographischen Fragmenten« mit dem Titel Begegnung schreibt, des Studenten der Philosophie »bemächtigt« hatte. (MBW 7. S. 283)3 Ihm, der in dieser Phase seines Lebens den althergebrachten Glauben verloren hatte, eröffnet sich im jüdischen »Volk« die neue metaphysische Größe, die für ihn eine Etappe auf dem Weg zu einer erneuerten, individuellen Religion werden sollte. Daher die für seine eigene Entwicklung geradezu prophetischen Sätze: »Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Wege kann da das Volk eine erste Station werden.« (MBW 3. S. 167)

Der Aufsatz »Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung« ist stark von der ideologischen Terminologie der Zeit geprägt. Buber versucht in ihm, die Eigenarten und Gemeinsamkeiten eines Volkes mit den drei Begriffen »Blut, Schicksal, kulturschöpferische Kraft« zu umschreiben. (MBW 3. S. 167) Mit der Betonung von »Blut« und »Schicksal« übernimmt er unkritisch Kategorien aus dem damals gängigen Populärdarwinismus, wie sie etwa in den Schriften Houston Stewart Chamberlains zu finden sind. Allerdings geht er in seinen Ausführungen nur auf die produktiven Kräfte des Volkes näher ein, die zu erwecken er den Schaffenden als deren originäre Aufgabe zuschreibt. Dabei grenzt er sich deutlich vom orthodoxen Judentum ab, wenn er fordert, dass der Schaffende »nicht vom seit jeher thronenden, sondern von dem werdenden Gotte das Gesetz empfangen« solle. Diese abstrakte Zielsetzung konkretisiert er in »zwei Grundmächten des schöpferischen Lebens«, worunter er die Rückkehr in das angestammte Land Erez Israel und die Verbundenheit mit der zweitausendjährigen Leidensgeschichte der Juden versteht. Beides, von ihm als »Wurzelhaftigkeit« und »gebundene Tragik« definiert, sollen die Schaffenden in ihrer Kunst dem im Galut zerstreuten Volk vermitteln und dadurch in ihm ein neues Selbstbewusstsein und einen neuen Stolz erwecken. (MBW 3. S. 168 f.)

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Buber sich in den Jahren um die Jahrhundertwende selbst als ein solcher »Schaffender« versteht, das heißt als einer, der durch seine Aufrufe, aber auch durch sein dichterisches Wirken das jüdische Volk zu einem neuen Bewusstsein seiner selbst bringen will. Dieser Impuls hat in den zehn Jahren seit der Jahrhundertwende durch Bubers Entdeckung des Chassidismus eine inhaltliche Konkretisierung erfahren. Seine neue Auffassung vom Volk hat er erstmals in seinen Drei Reden über das Judentum verkündet, die er 1910/11 auf Einladung des Vereins jüdischer Studenten »Bar Kochba« in Prag gehalten hat. Sie wurden zur Wegweisung für eine ganze Generation junger mitteleuropäischer Juden aus assimiliertem Milieu, die sich in ihnen ihrer eigenen Identität vergewissert sahen. In der ersten dieser Reden ruft er seine Altersgenossen zur »Selbstbejahung« auf: »Wenn wir uns so aus tiefster Selbsterkenntnis heraus bejaht haben, wenn wir uns zu uns selbst, zu unserer ganzen jüdischen Existenz Ja gesagt haben, dann fühlen wir nicht mehr als Einzelne, dann fühlt jeder Einzelne von uns als Volk, denn er fühlt das Volk in sich.« (MBW 3. S. 226) Dieser rhetorisch hoch aufgeladene Appell will den in der Diaspora zerstreuten Juden, die weder in der Religion noch in »Heimat, Sprache und Sitte« ein Gemeinschaft stiftendes Band finden, in dem Bewusstsein, einem Volk anzugehören, eine neue Identität geben.

Buber bestimmt also von Anfang an die Eigenart der jüdischen Gemeinschaft nicht mit den Begriffen »Religion« oder »Nation«, sondern mit dem Terminus »Volk«. Dieser Begriff, der in der gleichzeitigen nationalen Ideologie wie in der neuromantischen kulturellen Diskussion der Deutschen eine wichtige Rolle spielt, wird in all seinen künftigen Reden und Schriften zu einer der zentralen politischen und zugleich religiösen Kategorien seines Denkens. Dabei geht seine Definition dessen, was ein Volk ist, in zwei Richtungen, die beide der religiösen Tradition des Judentums entstammen und somit der rassistisch aufgeladenen Diskussion im deutschen Sprachraum diametral zuwiderlaufen. In der ersten der Drei Reden über das Judentum definiert er das Volk als den Generationen übergreifenden Zusammenhang verwandter Menschen von den Anfängen bis zur Gegenwart, gründet es also auf das kollektive Gedächtnis, das bis in die Zeiten der Patriarchen zurückreiche. »Jetzt ist ihm [dem Juden]...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Judentum
Schlagworte 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland • #2021JLID - Jüdisches Leben in Deutschland • 2021JLID - Jüdisches Leben in Deutschland • Antisemitismus • Auschwitz • Bibelübersetzung • Chassidismus • Diaologische Philosophie • eBooks • Geschichte • Holocaust • Judentum • Judentum in Deutschland • Judentum und Kultur • Juden und Christen • Jüdisches Leben • Jüdisches Leben in Deutschland • Menora • Philosophie
ISBN-10 3-641-27343-9 / 3641273439
ISBN-13 978-3-641-27343-9 / 9783641273439
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