Borderline und Narzissmus (eBook)
480 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-26473-4 (ISBN)
Dr. Elinor Greenberg zeigt mit diesem leicht verständlichen Praxisbuch, wie Borderline-, narzisstische und schizoide Persönlichkeitsanpassungen erkannt werden und wie Therapeut*innen, Psycholog*innen und Ärzt*innen erfolgreich mit betroffenen Patient*innen arbeiten können. Im Gegensatz zu vielen anderen Therapeut*innen hält Greenberg narzisstische Persönlichkeitsstörungen für behandelbar: »Muster können verändert werden. Jeder, der die notwendige Therapiearbeit macht, kann Bewältigungsstrategien entwickeln und Kindheitswunden heilen.«
Die Autorin präsentiert Diagnosen und Erfolg versprechende Behandlungsmöglichkeiten und veranschaulicht diese mit vielen Beispielen aus ihrer langjährigen Praxis. Deutlich wird dabei: Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sehnen sich vor allem nach Liebe, Narzissten streben nach Bewunderung und schizoid geprägte Persönlichkeiten suchen zentral nach Sicherheit - im Vergleich zu anderen Menschen jeweils in extremer bis pathologischer Ausprägung.
Dr. Elinor Greenberg ist international bekannte Gestalttherapeutin und auf Persönlichkeitsstörungen spezialisiert. Sie ist Vizepräsidentin des New York Institute for Gestalt Therapy (NYIGT), Lehrbeauftragte am Gestalt Center for Psychotherapy and Training und Mitherausgeberin der Zeitschrift Gestalt Review. Sie gehört zu den meistgelesenen Autorinnen auf der Internetplattform Quora, auf der Experten Antworten zu relevanten Themen liefern. Dr. Greenberg betrieb bis 2020 eine eigene Praxis in New York und lebt jetzt in Florida.
Liebe, Bewunderung oder Sicherheit? Die Gestalt als Weg zur Diagnose von Borderline-, narzisstischen und schizoiden Anpassungen1
Wenn man Ihnen auftragen würde, schnell zu entscheiden, was Ihnen bei Ihren Beziehungen wichtiger ist – die Liebe anderer, ihre Bewunderung oder Geborgenheit und Sicherheit – werden Sie vielleicht feststellen, dass instinktiv einer dieser drei Aspekte die größere Anziehungskraft für Sie hat. Vielleicht finden Sie auch die bloße Frage seltsam, da nichts davon für Sie in Ihren Beziehungen besonders im Vordergrund steht oder aber Ihnen alle drei Punkte gleich wichtig vorkommen.
Ich stelle jedoch immer wieder fest, dass meinen Klienten mit Anpassungen des Selbst, vor allem denjenigen, die landläufig als Menschen mit Borderline-, narzisstischen oder schizoiden Störungen beschrieben werden, die Wahl hier überraschend leichtfällt. Borderline-Klienten ist Liebe so gut wie immer wichtiger als Bewunderung oder Sicherheit. Für narzisstische Klienten rangiert Bewunderung an erster Stelle, so gut wie alles andere ist sekundär. Und schizoide Klienten müssen sich um jeden Preis sicher fühlen, oder sie können emotional gar nicht genug präsent sein, um überhaupt etwas von Liebe oder Bewunderung zu haben.
Die interpersonelle Gestalt
Mein Punkt ist der, dass wir auf einem schnellen und einfachen Weg ziemlich viel über unsere Klienten in Erfahrung bringen können, indem wir einfach beobachten, was bei ihnen im Umgang mit anderen üblicherweise im Vordergrund steht. Ich nenne die Figur, die sich bei ihnen standardmäßig zeigt, ihre »interpersonelle Gestalt« (IG). Im allgemeinsten Sinn ist die interpersonelle Gestalt die Ordnung, die wir im jeweiligen Moment in unserem interpersonellen Feld sehen: Was von den vielen interpersonellen Möglichkeiten zur Figur wird und was zum Grund? Hierzu gehört zum Beispiel, welche Rolle wir im Rahmen einer Interaktion spielen möchten. Wie wir vom anderen gesehen und behandelt werden wollen. Wie wir uns während der Interaktion zu fühlen erwarten. Und wonach wir uns im Hinblick auf die andere Person insgeheim sehnen oder wovor wir Angst haben.
Die interpersonelle Gestalt folgt den gleichen Gesetzen wie andere Gestaltgeschehen. Unsere Interessen, Bedürfnisse, Erwartungen, Physiologie, Kultur, unsere Geschichte und unser Temperament – sie alle haben Einfluss darauf, was für uns zur Figur wird. Wir neigen dazu, die Dinge wahrzunehmen, die wir wollen, brauchen oder fürchten. Daher ist davon auszugehen, dass wir besonders auf interpersonelle Signale ansprechen, die entweder die Erfüllung unserer größten Sehnsüchte und unerfüllten Bedürfnisse versprechen oder aber unsere tiefsten Ängste auf zwischenmenschlichem Gebiet wecken. Wer von uns in der Vergangenheit interpersonelle Traumen wie Verlassenwerden, körperliche Gewalt oder Demütigung erfahren hat, neigt dazu, extrem sensibel auf interpersonelle Signale zu reagieren, die die Angst wecken, ein weiteres Mal solche Traumen zu erleben. Jemand, der laute Stimmen mit Prügel in Verbindung bringt, wird seine interpersonelle Gestalt tendenziell so organisieren, dass laute Stimmen besonders leicht zur Figur werden.
Die Idee einer interpersonellen Gestalt weist gewisse Überschneidungen mit der Vorstellung der Objektbeziehungstheoretiker von einer inneren Objektbeziehungseinheit auf, die aus einer Sicht des Selbst und einer Sicht des Objekts (der anderen Person) besteht, deren Verbindungselement ein charakteristischer Affekt ist. Diese bei der Interaktion zwischen Klient und Therapeut aktivierte Einheit bewirkt, dass der Klient sich selbst und den Therapeuten verzerrt wahrnimmt. Bei Klienten mit neurotischen Problemen wird diese Verzerrung üblicherweise als »Übertragung« bezeichnet; oder bei Anpassungen des Selbst als ein »Ausagieren in der Übertragung« (Masterson 1981).
Um die Begrifflichkeit der Gestalttherapie zu benutzen, entsteht die Übertragung durch die vom Klienten nicht bewusst registrierte Reaktion auf jene Details der interpersonellen Situation, die am meisten mit seinem aktuellen emotionalen Bedürfnis zusammenhängen oder dem, womit er sich gerade am meisten beschäftigt. Das heißt, »Übertragung« beschreibt letztlich ein Figur-Grund-Geschehen.
Die interpersonelle Gestalt deckt sich zudem mit Daniel Sterns Idee der RIGs (Representations of Interactions that have been Generalized). Hierbei geht es um wiederholte Interaktionserfahrungen, die im Laufe der Zeit verinnerlicht und aus denen Verallgemeinerungen abgeleitet werden. Die Idee ist, dass der Säugling auf der Basis immer wieder gemachter früher Erfahrungen mit der Mutter oder einer sonstigen primären Bezugsperson innerlich ein auf Hirnprozessen basierendes Fazit im Hinblick auf Interaktionen zieht, das dann zur Basis für seine späteren Beziehungserwartungen wird (Stern 2016).
Als Gestalttherapeuten interessiert uns jedoch – anders als die Objektbeziehungstheoretiker oder als Entwicklungstheoretiker wie Stern – hauptsächlich der Prozess, wie Individuen sich durch selektive Auswahl aus allen verfügbaren Informationen ihre Wirklichkeit erschaffen. Und uns geht es in erster Linie um die interpersonellen Aspekte des individuellen Erlebens, die sich an der Kontaktgrenze beobachten lassen (der Grenze zwischen dem jeweiligen Organismus und seiner Umgebung). Uns interessiert also mehr, wie Menschen sich gegenwärtig, im jeweiligen Moment ihre Realität erschaffen. Theorien zu nicht beobachtbaren, hypothetischen Konstrukten wie Objektbeziehungseinheiten oder RIGs interessieren uns dabei in der Regel weniger.
Aus meiner Sicht könnte die Idee einer in der Sitzung beobachtbaren interpersonellen Gestalt ein nützliches Bindeglied zwischen Gestalttherapie und den Entwicklungs- und Objektbeziehungstheoretikern darstellen. Die Entwicklungstheoretiker stellen Hypothesen dazu auf, wie Kindheitsbeziehungen physiologisch im Gehirn kodiert und abgelegt werden. Die Objektbeziehungstheoretiker befassen sich damit, wie das Individuum diese psychophysiologischen Repräsentationen im Erwachsenenalter organisiert und auf sie zurückgreift. Die Gestalttherapie hingegen mit ihrem Schwerpunkt, zu beobachten und zu erfahren, was im gegenwärtigen Moment abläuft, bietet einen Weg, zu verfolgen, wie diese innerlichen Landkarten interpersonell in jedem einzelnen Augenblick zum Tragen kommen – wie aus RIGs die IG wird.
Die interpersonelle Gestalt ist ein Prozess
Konzeptionell beschreibt die interpersonelle Gestalt wirklich einen unentwegt ablaufenden Prozess, der in jedem einzelnen Moment über den Mechanismus des Figur-Grund-Geschehens an der Kontaktgrenze stattfindet und immer wieder umgestaltet wird. Das heißt, wenn wir dasitzen, schauen und einer anderen Person zuhören, werden bestimmte Aspekte dessen, was wir sehen, hören, riechen oder anderweitig über unsere Sinne wahrnehmen – je nachdem, wie unsere Bedürfnisse und Interessen in diesem Moment gelagert sind –, für uns zur Figur, während andere in den Hintergrund treten. All das wird durch unsere verinnerlichten erlernten Erwartungen im Hinblick auf nahe Beziehungen gefiltert, die verschlüsselt in unserem Gehirn gespeichert wurden (Sterns RIGs). Das bringt uns dazu, aufmerksamer auf Signale in unserem Organismus und Umgebungsfeld zu achten, die sich mit unseren Annahmen decken. Jemand, der generell eher erwartet, dass zwischenmenschliche Beziehungen befriedigend verlaufen und erfüllend sind, dürfte theoretisch also eher interpersonelle Signale wahrnehmen, die mit einem wechselseitigen guten Gefühl in Verbindung stehen, als jemand, der erwartet, zurückgewiesen zu werden.
Wenn wir von den Kriterien für einen »gesunden« Gestaltbildungsprozess ausgehen, die wir aus der Gestalttherapie kennen, können wir also sagen, dass eine interpersonelle Gestalt in dem Umfang gesund ist, wie sie nicht auf Störungen an der Kontaktgrenze aufbaut, etwa Konfluenz, Projektion, Introjektion und Retroflektion, und dass das Wechselspiel beim Figur-Grund-Geschehen von Aufmerksamkeit, Konzentration, Interesse, Beteiligtsein, Erregung und Anmut (Perls et al. 1997) gekennzeichnet ist. Eine etwas langatmige Art, zu sagen, dass unsere interpersonelle Gestalt in dem Maße gesund ist, wie wir tatsächlich voll und ganz beim anderen sein und lebendig die Möglichkeiten des Augenblicks erfassen können.
Feste Gestalt und flexible Gestalt
Bei Klienten mit Anpassungen des Selbst ist die interpersonelle Gestalt »fest« statt »flexibel«. Das heißt, sie organisieren alle oder die meisten ihrer Beziehungen hartnäckig nach dem gleichen Prinzip, statt Raum dafür zu geben, dass die einmaligen Merkmale der jeweiligen Beziehung und der Fluss der Interaktion im jeweiligen Moment darüber entscheiden, was für sie Figur ist und was Grund. Vermutlich geht dies darauf zurück, dass diese Klienten enorme unerfüllte interpersonelle Bedürfnisse von früher haben, die auf Erfüllung drängen. Dementsprechend richten sie das interpersonelle Feld ständig danach aus, was ihnen die beste Chance zu bieten scheint, die Situation, mit der sie noch nicht abgeschlossen haben, zu einem Ende zu bringen.
Diese Dynamik deckt sich mit dem grundlegenden Prinzip der Gestaltpsychologie, dass Unerledigtes aus der Vergangenheit nach Erfüllung in der Gegenwart drängt (Perls et al. 1997). Außerdem wirkt sich die akute Natur des Bedürfnisses störend darauf aus, inwieweit die Klienten in Gegenwart anderer voll und ganz präsent sein und treffsicher beurteilen können, wer sie sind. Also werden die Betroffenen eher eine ihrer Rollen im Rahmen ihres unabgeschlossenen interpersonellen...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2021 |
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Übersetzer | Silvia Autenrieth |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Borderline, Narcissistic, and Schizoid Adaptations. The Pursuit of Love, Admiration, and Safety |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Borderline • Borderline Persönlichkeitsstörung • Borderline Syndrom • eBooks • Gestalttherapie • Gesundheit • Lebenshilfe • Medizin • Narzissmus • Narzisst • narzisstische Persönlichkeit • Psychiatrie • Psychologie • Psychotherapie • Schizoide Persönlichkeitsstörung • Schizophrenie |
ISBN-10 | 3-641-26473-1 / 3641264731 |
ISBN-13 | 978-3-641-26473-4 / 9783641264734 |
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