Mit Epikur auf Wandertour (eBook)

Ein Lesebuch für Nachdenkliche

Günter Stolzenberger (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43850-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mit Epikur auf Wandertour -
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Unterwegs Gedanken tanken Beim Philosophieren in der Natur sind die Gedanken frei: Die hier gesammelten Texte verstehen sich als geistiger Proviant nicht nur für Wanderfreunde, sie passen bequem in den Rucksack und machen jede Rast zu einer inspirierenden Erholung. Die Texte aus Philosophie, Literatur und Wissenschaft spannen einen weiten Bogen von der Antike bis in die Gegenwart, von Jean-Jacques Rousseau bis Bruce Chatwin, von Marcel Proust bis Sarah Kirsch, und laden zu überraschenden Gedankengängen auf unbekannten Pfaden ein. Gehaltvolle Entdeckungen am Wegesrand sind garantiert.

Günter Stolzenberger, Jahrgang 1953, studierte Soziologie, Philosophie und Politik und lebt als freier Publizist in Frankfurt am Main. Er hat mehrere erfolgreiche Anthologien herausgegeben.

Günter Stolzenberger, Jahrgang 1953, studierte Soziologie, Philosophie und Politik und lebt als freier Publizist in Frankfurt am Main. Er hat mehrere erfolgreiche Anthologien herausgegeben.

Vorwort


Ist das Schuhwerk in Ordnung, der Rucksack gepackt, die Karte auf dem neusten Stand? Dann kanns ja losgehen. Das Wetter ist gut, und der geplante Weg verspricht prächtige Aussichten. Vor uns liegt ein Ort, der wahre Wunder bewirkt: die Natur. Sie macht etwas mit uns, das wir im Alltag schmerzlich vermissen. Sie lässt uns fühlen, dass wir Menschen sind. Wandern ist ein Erlebnis. Wir gehen, wir steigen, wir setzen Fuß vor Fuß, wir spüren unsere Muskeln und Knochen, den Wind, die Sonne auf der Haut; begnadet ist, wer sehen, riechen, hören kann. Mehr braucht es nicht, um eine unbezahlbare Erfahrung zu machen: Es ist eine Lust, am Leben zu sein!

Nicht ohne Grund empfiehlt dieses Buch einen antiken Philosophen als Wegbegleiter mitzunehmen. Denn beim Wandern befindet man sich ganz von selbst auf seinen Spuren: auf den Spuren Epikurs, der vor mehr als zweitausend Jahren eine wegweisende Entdeckung gemacht hat: Der Mensch kann glücklich sein! Und er kann diesen Zustand mit einfachen Mitteln selbst herbeiführen. Wie das geht, zeigt uns seine Philosophie der Glückseligkeit, die mit einer einfachen Einsicht beginnt: Wir leben nur einmal. Wir haben ein einziges Leben, nur diese begrenzte Zahl von Jahren, Tagen, Stunden und Augenblicken. Besser, wir fangen rechtzeitig damit an, sie zu genießen.

Sonderbarerweise hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht. Schon zu seinen Lebzeiten sah er sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein unersättlicher Genussmensch zu sein. Bis heute wird diese als Hedonismus geschmähte Haltung mit ihm in Verbindung gebracht – zu Unrecht, denn gut zu leben bedeutete für ihn gerade nicht, den Lüsten hinterherzujagen. Sein Ziel war eher das genaue Gegenteil: die Seelenruhe, das zufriedene Gefühl, das sich einstellt, wenn wir wunschlos glücklich sind.

Idealerweise bedeutet das, weder Wünsche und Gelüste noch Schmerzen oder Ängste zu haben, nichts, was die Gemütsverfassung irgendwie in Aufruhr bringen könnte – ein Dasein in sinnlicher Gegenwart. Viele Kulturen haben ausgefeilte Techniken entwickelt, um diesen Zustand zu erreichen: die Meditation, das Gebet, die Askese, die Tiefenentspannung, Yoga; alle sind sie auf der Suche nach der inneren Ruhe; selbst unsere eigene umtriebige Zeit hat ein großes, wenn auch heimliches Verlangen nach ihr.

Ein Grund mehr, den Epikur dabeizuhaben, denn seine Seelenruhe ist eng verwandt mit der wohltuenden Ausgeglichenheit, die sich beim Wandern sozusagen beiläufig ergibt. Schon nach wenigen Kilometern stellt sie sich ein, besonders gern, nachdem man den mitgebrachten Proviant genossen hat, um sich auf einer sonnigen Bergwiese im Schatten eines windschiefen Baumes auszustrecken. Es ist der ideale Zeitpunkt, in die Philosophie der Glückseligkeit einzusteigen.

Sie besagt, dass der Mensch Bedürfnisse hat, natürliche Bedürfnisse vor allem, die der Erhaltung des Lebens und der körperlichen Gesundheit dienen. Die Natur hat es so eingerichtet, dass bei ihrer Befriedigung Lust entsteht, und weil das ein angenehmes Gefühl ist, hat sich der Lustsucher Mensch auf den Weg gemacht, seine Bedürfnisse zu verfeinern, vor allem aber zu vermehren – eine Entwicklung, der wir, nicht nur was Essen und Trinken betrifft, viel zu verdanken haben.

Es ließe sich daraus schließen, dass der eingeschlagene Weg so weitergehen kann, gäbe es da nicht eine unangenehme Begleiterscheinung: die Unlust. Sie wächst mit dem Aufwand, den wir für immer größere Bedürfnisse betreiben müssen. Das artet dann schnell in Arbeit aus. Ganze Wochen sind mit Unlust gepflastert, mit Stress und Ärger, mit Ängsten und Zwängen. Wir kennen das alle und wissen, was Unlust bedeutet, wenn sie am frühen Morgen in eben noch friedlichen Schlafzimmern mit ihrem Wecker rasselt.

Aus dieser Perspektive betrachtet, wird eine Kernthese epikureischen Denkens unmittelbar verständlich: Die größte Lust ist die Freiheit von Unlust. Die größte Lust ist die Seelenruhe. Sie ist das eigentliche Ziel unseres Handelns, unser höchstes Gut, und wer nach ihm strebt, darf sich weise nennen.

Uns Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts erschließt sich dieser Gedanke nicht unmittelbar. Wir leben in einer Welt, deren Geschäft darin besteht, immer neue Wünsche zu erzeugen. Zufriedene Menschen kommen darin nicht vor, dürfen darin nicht vorkommen, denn damit sie funktioniert, müssen alle immer wieder unzufrieden sein. Nur zu diesem Zweck werden immer neue Dinge erfunden. Um sie zu besitzen, nehmen wir in Kauf, ganze Tage in bleierner Unlust zu verbringen; Jahre unseres Lebens geben wir dahin für Dinge, die schon in der nächsten Saison obsolet sind: Must-haves und Nice-to-haves; je lustloser wir werden, desto mehr von ihnen müssen wir haben, um in dem, was wir tun, noch irgendeinen Sinn zu sehen. Es ist ein trauriges Geschäft und ein schlechtes obendrein, aber solange wir es mitmachen, geht es immer weiter. Da hilft uns auch kein Epikur – oder vielleicht doch?

Die Situation, in der wir uns befinden, ist ihm jedenfalls nicht unbekannt. Viele Dinge zu besitzen, galt schon im Altertum als höchst erstrebenswertes Indiz für ein gelungenes Leben. Epikur erkennt darin einen Trugschluss, der auf falschen Meinungen der Masse beruht, auf der Meinung etwa, dass, wer reich, mächtig und berühmt ist, gleichzeitig auch glücklich und zufrieden sein müsse. Das Gegenteil ist der Fall, denn Reichtum, Macht und Ruhm haben einen nimmersatten Charakter. Sie können nicht genug bekommen, erwecken immer neue Begierden und verurteilen uns so dazu, ein endloses Rad zu treiben.

Genug! Das ist das Zauberwort, mit dem es Epikur gelingt, diesem Teufelskreis zu entkommen. Nur wer genug hat, kann zufrieden sein. Der Schlüssel zum glücklichen Leben liegt in der Genügsamkeit. So sehen das alle antiken Glückslehren, aber während der Kyniker Diogenes, der Genügsamste von allen, in einer Tonne wohnt und sich die Stoiker gegen jegliche Unbill mit unerschütterlichem Gleichmut wappnen, wählt Epikur eine moderate Variante des genügsamen Lebens. Sie weiß die Annehmlichkeiten der Zivilisation sehr wohl zu schätzen, ist sinnlichen Freuden nicht abgeneigt, kennt die Köstlichkeit edler Speisen und Getränke und hat auch keine Berührungsängste mit gelegentlichem Luxus. Nur eine Regel hat sie zu befolgen: Lebe naturgemäß!

Er verlangt damit keineswegs den Rückzug in die Wildnis, wohl aber eine gewisse liebhaberische Neugier für die Vorgänge in der Natur. Sie ist der Ursprung, das große Ganze, und der Mensch ist selbstverständlich Teil von ihr. Naturgemäß zu leben bedeutet demnach auch, sich selbst zu kennen, die eigene Natur mit ihren unverwechselbaren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Talenten – vergrabene Schätze, die nur darauf warten, gehoben zu werden.

Keine leichte Aufgabe, aber die Suche nach ihnen führt durch ein abwechslungsreiches Gelände. Es gilt, Höhen und Tiefen zu überwinden. Irrwege sind nicht ausgeschlossen und gelegentlich kann es auch anstrengend werden, vor allem für den Kopf. Denn der Mensch ist nicht nur ein Teil der Natur. Er ist auch ein vernunftbegabtes Wesen und verfügt über einen freien Willen; nicht zu vergessen seine Vorstellungskraft und seine Fähigkeit, arbeitend in die Welt einzugreifen und sie damit nach seinen Wünschen zu gestalten. Die Aufklärung hat uns diesen Weg gewiesen, aber mehr als zweitausend Jahre vor Kant hat Epikur dieses Programm ganz ähnlich formuliert. Nutze deine Vernunft, um ein Leben zu führen, das dich glücklich macht.

Es ist dies in aller Kürze das Programm der Lebenskunstphilosophie, jener Disziplin also, der es um die ältesten Fragen der Menschheit geht: Wie ist das Leben überhaupt möglich? Wie lässt es sich so gestalten, dass es ein gutes Leben wird? Die Antworten fallen unterschiedlich aus, aber in einem Punkt sind sich alle einig: Leben ist kein Selbstläufer. Es will in die Hand genommen und geführt werden, damit es nicht verlorengeht auf seinem Weg, der voller Hindernisse ist und voller Widerstände aus Naturnotwendigkeiten und gesellschaftlichen Zwängen.

Die Kunst zu leben besteht darin, sich diesen Widerständen keinesfalls zu ergeben, sie stattdessen aufzuheben oder, wo das nicht möglich ist, sie zu umgehen, ihnen auszuweichen, nach Nischen zu suchen, nach Lichtungen und Freiflächen, diese auszubauen, um Plätze zu schaffen, Zeiträume, um Mensch zu sein auf dem Planeten Erde, der uns als Heimat geschenkt ist für ein paar wunderbare Jahre. Besser, wir fangen rechtzeitig damit an.

Die Weisheit der Philosophie kann uns dabei eine große Hilfe sein. Ihre Aufgabe besteht darin, uns Argumente zu liefern, die Ordnung der Dinge in unseren Köpfen zurechtzurücken, damit das wirklich Wichtige seinen Platz bekommt. Epikur hat das Leben an die erste Stelle gerückt und so einen philosophischen Maßstab gesetzt, der das rastlose Treiben der Menschheit radikal in Frage stellt.

Er hat damit Anhänger in allen Epochen gefunden. Seine Gedanken wirken fort im antiken Rom, im frühen Christentum, in der Neuzeit, und wenig überraschend ist, dass sie in der krisengeschüttelten Gegenwart eine Renaissance erleben. Angesichts einer steigenden Zahl bedrohlicher Klimaphänomene trifft seine Forderung nach naturgemäßem Leben den Nerv der Zeit, und sie befreit ganz nebenbei die Diskussion über den Umbau einer wachstumssüchtigen Ökonomie von ihrem Dauerthema Verzicht. Er erklärt Weniger zu Mehr und hat dafür die besten Argumente: die Lust, das Glück und das Leben.

Weniger ist mehr, das gilt auch für dieses Buch, denn es könnte um vieles dicker sein, soll aber schließlich in einen Rucksack passen. Es beschränkt sich also darauf, die Perlen epikureischen Gedankenguts zu sammeln. Sie stammen...

Erscheint lt. Verlag 21.5.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Anthologie • Denkanstöße • Erkenntnis • Ethik • Gedanken • Geschenkbuch • Geschichte • Lebenskunst • Lesebuch • Lesebuch für Nachdenkliche • Lesebuch Glück • Lesebuch Natur • Literatur • Mit Kant am Strand • Natur • Philosophie • philosophisch-literarische Anthologie • Praktische Philosophie • Sachbuch Neuerscheinung 2021 • Sinn des Lebens • Urlaubslektüre • Wandern • Werte
ISBN-10 3-423-43850-9 / 3423438509
ISBN-13 978-3-423-43850-6 / 9783423438506
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