Wunsch und Bedeutung -  Axel Hecker

Wunsch und Bedeutung (eBook)

Grundzüge einer naturalistischen Bedeutungstheorie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
160 Seiten
Passagen Verlag
978-3-7092-5041-9 (ISBN)
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Bedeutungen entstehen aus der Kraft des Wünschens. Dies lässt sich an Kindern, die mit dem Sprechen gerade erst beginnen, leicht erkennen. Wünsche haben die überlebenstechnisch unentbehrliche Funktion, ein Lebewesen mit einer grundlegenden Orientierung zu versehen. Das Lebewesen Mensch hat es kraft seiner natürlichen Sprechfähigkeit und seiner hohen Sozialbegabung dahin gebracht, das Wünschen ins Sprachliche zu verlängern und auf diese Weise eine Welt zu imaginieren, die aus Bedeutungen besteht. Die hier vorgelegte Konzeption versteht sich als eine zu Ende gedachte Gebrauchstheorie der Bedeutung, wie sie von Wittgenstein vorgetragen wurde: Bedeutungen sind Phantasieprodukte, die nicht buchstäblich existieren müssen - es genügt, dass Menschen ihr Leben gestalten, indem sie damit umgehen.

Axel Hecker, geboren 1952, ist Literaturwissenschaftler und arbeitet als Systemanalytiker in einem deutschen Großunternehmen.

Axel Hecker, geboren 1952, ist Literaturwissenschaftler und arbeitet als Systemanalytiker in einem deutschen Großunternehmen.

Archäologie des Sprechens


Kern der im vorigen Abschnitt entwickelten „Naturgeschichte des Sprechens“ ist die Idee, dass es, wenn man die beschriebenen, rudimentären und anarchischen Ursituationen des Sprechens als mögliche Ausgangshypothese akzeptiert, keines qualitativen Sprungs bedarf, um die Entstehung dessen, was uns heute an menschlicher Sprach- und sonstiger Kultur vor Augen steht, daraus abzuleiten. Diese Idee dürfte mit den meisten Meinungen und Theorien über das Wesen menschlichen Denkens und Sprechens in Konflikt stehen. Der Konflikt besteht darin, dass wir, diesen Meinungen zufolge, als denkende und sprechende Wesen jedenfalls dazu in der Lage sein müssen, den Sinn sprachlicher Äußerungen zu verstehen. Diese Äußerungen sind, diesen Meinungen zufolge, nicht nur Laute, die – wie dies in den beschriebenen anarchischen Ursituationen nahegelegt wurde – auf eine rational kaum durchdringliche Weise das Handeln begleiten, sondern sie bilden die sprachlichen Bausteine einer geistigen Welt, derer wir als kompetente Sprecher einer natürlichen Sprache und als „rationale Lebewesen“ (Davidson) teilhaftig sind.

Einstiegspunkt in jene naturgeschichtliche Sichtweise war der von George Herbert Mead vorgetragene „Sozialbehaviorismus“. Diese Konzeption ist archäologisch (im Sinne Foucaults), insofern sie möglichst einfache, in der Evolution des Lebendigen möglichst verbreitete Gegebenheiten ausfindig machen will, die bei der Entstehung des spezifisch menschlichen Sprachverhaltens ursächlich mitgewirkt haben könnten. Mead findet eine solche Gegebenheit im Rahmen tierischer Kommunikation, und zwar in der Geste. Er verlängert diese Kommunikationsform ins Menschliche, indem er das Sprechen (Äußern von Lauten) unter diesem Gesichtspunkt beschreibt.

Aber wie weit reicht einer solche naturalistische Betrachtungsweise? Muss sie nicht, sobald man ernsthaft damit beginnt, sich mit Semantik zu befassen, zwangsläufig zusammenbrechen? Muss es der menschlichen Art nicht zu irgendeinem Zeitpunkt der Evolution gelungen sein, jene naturalistisch beschreibbaren Atavismen ganz und gar hinter sich zu lassen, um zu einer echten und eigentlichen, in semantischen Kategorien erfassbaren Darstellung der Weltüberzugehen?

Im Vorliegenden wird argumentiert, dass es der Annahme eines solchen fundamentalen Übergangs nicht bedarf. Dabei hat der vorgenommene Umweg über den Entwurf einer Situation, in der Urmenschen damit begonnen haben könnten, lautliche Zeichen auszutauschen, die dezidiert noch nicht den Ansprüchen einer konstituierten Semantik und Geisteswelt genügen, die doppelte archäologische Funktion, mögliche natürliche Entstehungsbedingungen des Sprechens aufzuzeigen, zugleich aber das moderne Selbstverständnis kompetenter Sprecher daraufhin zu untersuchen, ob in ihm jenes primitive Modell nicht nach wie vor in sehr verkappter Weise steckt.

Gesetzt, dieser Gedanke ließe sich plausibel machen, was gewönne man durch eine solche Betrachtungsweise? Der Gewinn, den ich mir davon verspreche, besteht darin, dass man a) besser begreift, was beim Sprechen und Hören geschieht, und b) dass bestimmte epistemische Schwierigkeiten, die Sprachtheorien seit jeher hatten, auf eine neue Weise beleuchtet werden können. Vorläufig und vorwegnehmend gesagt: Sprachtheorien haben das Gegebensein von „Bedeutungen“ und deren intersubjektive und soziale „Allgemeinheit“ jederzeit zwar angenommen und vorausgesetzt, jedoch nie erklären können. Obwohl es sich bei Bedeutungstheorien um ein eminentes Tätigkeitsgebiet der Philosophie der letzten ca. 120 Jahre handelt, ist dabei nie etwas herausgekommen, das, wie Davidson gelegentlich bemerkt, nicht mehr oder weniger zirkulären, pseudo-erklärenden Charakter hätte.1

Es wäre allerdings zu viel versprochen, die vorliegenden Ausführungen dazu lieferten endlich die richtige Erklärung. Die Tendenz der vorliegenden Überlegungen folgt vielmehr Ockhams Rasiermesser: „Allgemeine“, intersubjektiv qua „Konvention“ oder wie auch immer sonst „geregelte“ Bedeutungen gibt es nicht, sie werden nicht gebraucht. Was es allerdings gibt, das ist – und dadurch werden die Dinge noch um eine Stufe komplizierter – so etwas wie die Fata Morgana einer „allgemeinen Bedeutung“, die die Gedankenwelt kompetenter Sprecher durch und durch beherrscht.

Extensionalität und Konditionierung


Spracherwerb als „Abrichtung“ (Wittgenstein)


Um den Gedanken des Scheincharakters „allgemeiner Bedeutungen“ Schritt für Schritt plausibel zu machen, gehe ich nochmals zurück zu jenem Primitivismus, der am Anfang der Überlegungen von George Herbert Mead stand: dem rituellen Hundekampf, wo zwei Lebewesen, statt die Konkurrenz um Rangpositionen durch offene Aggression auszutragen, eine Art gestischen Stellvertreterkrieg führen. Dieses Modell ist äußerst sparsam, was die epistemischen Ansprüche an die beteiligten Individuen betrifft. Keines der beiden Lebewesen, zwischen denen sich besagter Kampf abspielt, benötigt irgendein Wissen von dem, was da geschieht. Es genügt anzunehmen, dass die Zurücknahme der Handlung in die Geste (als „Anfang der Handlung“) von sich aus eine Signifikanz entwickelt, die das von Mead so genannte „Hundepalaver“ entstehen lässt, eine Kommunikation, die ohne Rest behavioristisch beschrieben werden kann, für deren Funktionsablauf es also keines Interpreten bedarf, sondern die aufgeht in der Abfolge von Geste und dadurch beim jeweils anderen ausgelöster Reaktion.

Dieses Modell kann auf die menschliche Lautartikulation übertragen werden. Das Produzieren von Lauten stellt bestimmte Anforderungen an die dafür zuständige Motorik. Nachwachsende menschliche Erdenbürger erwerben die betreffenden Fähigkeiten im Rahmen eines komplizierten Konditionierungsprozesses, genannt „Spracherwerb“. Diese Prozesse können ebenfalls behavioristisch beschrieben werden, frei nach Wittgensteins Dictum: Wenn das Kind lernt, „Ich habe Schmerzen“ zu sagen, dann lernt es ein anderes „Schmerzbenehmen“, und zwar durch „Abrichtung“.2 Damit widerspricht Wittgenstein der verführerischen Idee, das Kind lerne dabei, was Schmerzen sind – nach dem Motto: da sei etwas in ihm, in seinem Inneren, das mit dem Wort „Schmerz“ nur benannt wird. Der Schmerz ist kein Ding, das sich im Inneren befindet. Wittgenstein insistiert, aus einem Schmerz könne nur dann ein sprachlich so bezeichnetes „etwas“ werden, wenn das Lebewesen, das die Schmerzen hat, ein äußeres Verhalten zeigt, aufgrund dessen andere kompetente Sprecher das Vorhandensein dieser Befindlichkeit feststellen und mit Worten belegen können. Auf dieser extensionalen Basis kann dann erklärt werden, wie das Kind dazu „abgerichtet“ werden kann, sein Schmerzbenehmen dahingehend zu ändern, dass es die Laute „Ich habe Schmerzen“ von sich gibt.

Diese Idee kann verallgemeinert werden. Jedes „etwas“, das zum Gegenstand eines sprachlichen Diskurses werden kann, führt über die Äußerlichkeit einer diesbezüglichen Konditionierung. Diese Konditionierung wird geleistet in Handlungssituationen, wo bestimmte, äußerlich wahrnehmbare Gegebenheiten enggeführt werden mit bestimmten Lautzeichen, die in diesem Zusammenhang geäußert werden. Das spracherwerbende Kind adaptiert diese Konditionierungsangebote in einer Weise, die sich nicht grundsätzlich davon unterscheidet, wie man Tiere dressiert, wobei natürlich die Tiere aufgrund bestimmter, physiologisch bedingter Mängel nicht sprechen lernen können.3 Die Übernahme dieser Konditionierungsangebote wird gefördert durch ein sorgfältig exponiertes System von Belohnungen, die dem Kind zuteilwerden, wobei sicherlich nicht die geringste darin liegt, selbst in die Lage versetzt zu werden, die mit dem Sprechen konstitutiv verbundene Macht über seine soziale Umgebung auszuüben.

Mit zunehmendem Alter lernt das Kind, sofern seine Umgebung ihm das nahelegt, die Feinheiten von Sprache und Kultur auf die eigene Person zu beziehen.4 Dabei wird das Argument von Mead, dem zufolge beim Sprechen nicht nur Gesten produziert, sondern diese zugleich vom Sprecher selbst rezipiert werden, in eminenter Weise wirksam. In der Tat ist es vermutlich diese Bifurkation, die die größte Tragweite im Hinblick auf die Entstehung einer spezifisch menschlichen Konstitution enthält: Anders als das Tier, das aus der Engführung einer quasi automatischen Abfolge von Reiz und Reaktion nicht herausfindet, erlebt das Kind sich selbst als die und die Laute produzierend, also als jemanden, der das und das sagt, so wie wenn es sich zugleich aus der Perspektive einer dritten Person wahrnehmen könnte. Darin könnte so etwas wie der Anfang einer allgemeinen Ethik liegen – eine Interpretation, die Mead explizit nahelegt.5

Es kann dahingestellt bleiben, wie nachhaltig solche reflexiven...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2020
Reihe/Serie Passagen Philosophie
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Schlagworte Bedeutungstheorie • Ludwig Wittgenstein • Philosophie • Sprache
ISBN-10 3-7092-5041-2 / 3709250412
ISBN-13 978-3-7092-5041-9 / 9783709250419
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