Zerrissen zwischen Extremen (eBook)

Leben mit einer Borderline-Störung - Hilfe für Betroffene und Angehörige
eBook Download: EPUB
2020
416 Seiten
Kösel-Verlag
978-3-641-27036-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zerrissen zwischen Extremen - Jerold J. Kreisman, Hal Straus
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Bis vor kurzem galt die Borderline-Störung als kaum therapierbar. Mit neuen Erkenntnissen aus langjähriger Praxis bringen die Autoren neue Hoffnung. Sie machen die Krankheit besser begreifbar, bieten hilfreiche Strategien für das Leben mit Borderline und beschreiben die Erfolg versprechendsten Behandlungsmethoden. Wertvolle Unterstützung für Betroffene, Angehörige und medizinisches Fachpersonal.

• Vom führenden Experten Dr. Jerold J. Kreisman.

Dr. med. Jerold J. Kreisman ist Psychiater und einer der weltweit führenden Experten zur Borderline-Persönlichkeitsstörung mit über 40-jähriger Erfahrung auf diesem Gebiet. Er gründete eine der ersten Betreuungseinrichtungen für Borderline-Patienten weltweit und führt eine Privatpraxis in St. Louis, Missouri. Der Autor betreibt einen Blog für Psychology Today und hält seit Jahrzehnten Vorträge in den gesamten USA und auch im Ausland. Sein Buch »Ich hasse dich - verlass mich nicht« gilt längst als Klassiker, sowohl unter Fachleuten wie auch bei Betroffenen.

Kapitel 2

Angst vor dem Verlassenwerden


Einsamkeit ist eine zentrale und unausweichliche Erfahrung
in jedem menschlichen Leben.

Thomas Wolfe

»Rhett … Wenn du gehst, was wird dann aus mir?
Was soll ich tun?«

Scarlett O’Hara: Vom Winde verweht

Zum ein oder anderen Zeitpunkt hat fast jeder von uns die Befürchtung, ein geliebter Mensch könne uns verlassen. Aber für Borderline-Kranke kann die Angst vor dem Verlassenwerden – die in einer jahrelangen Familiengeschichte wurzelt – außerordentlich schmerzlich sein. Der Schrecken bedeutet sehr viel mehr als die simple Bedrohung, allein zu sein. Die Erfahrung, verlassen zu werden, kann die Identität des borderlinekranken Menschen zerstören. In diesem Kapitel erfahren Sie zunächst von Arleen, deren Kindheitspanik, vom Vater allein gelassen zu werden, sich zu noch stärkeren Ängsten um ihren Ehemann Greg entwickelte und schwere Komplikationen in ihrem Leben nach sich zog. In den anschließenden inhaltlichen Ausführungen wenden wir uns den psychologischen Grundlagen dieser Ängste zu und schildern, wie Borderline-Kranke mit der Bedrohung, verlassen zu werden, umgehen und enge Angehörige ihnen helfen können, diese Ängste abzubauen.

Arleen: Erster Teil


Als sie wieder allein ist, da die anderen Makler aus dem Haus sind, um Kunden Immobilien zu zeigen, sich mit Hypothekenmaklern zu treffen oder mit sonst was zu beschäftigen, fragt sich Arleen, ob Greg wohl bei Eastland Casualty, der Unfallstation, für die er arbeitet, an seinem Schreibtisch sitzt. Sie wirft einen Blick auf die Uhr über ihrem Schreibtisch: zehn nach drei. Es wäre verdammt noch mal besser, wenn er dort säße, aber seit dem 11. September besucht Greg ständig irgendwelche Meetings. »Vorbereitungsmeetings, Nachbereitungsmeetings, Meetings, um zu entscheiden, ob wir ein Meeting einberaumen sollen«, hatte er mit seiner liebenswerten Stimme aufgebracht gejammert. »Wir sind wie eine kaputte Familie, die ständig zusammenhocken muss.«

Bevor sie zum Telefonhörer greifen kann, spaziert Eddie herein. Die dämliche Kuhglocke, die er trotz ihrer heftigen Proteste über der Eingangstür von Red Oak Realty angebracht hat, verkündet seine Ankunft in dem Raum, in dem sie bislang allein war.

»Sie ist so heimelig«, hatte er mit einem Grinsen gesagt.

»Ich finde eher, das ist Schnickschnack«, hatte sie erwidert.

Natürlich durfte sie sich nicht zu heftig beklagen. Sie beide wussten den wirklichen Grund dafür, dass er die Glocke dort angebracht hatte: seine kindische Idee, bei ihren sexuellen Spielchen in seinem Büro ein Frühwarnsystem zu haben. Doch den eigentlichen Grund für ihre Abneigung gegen das Ding konnte sie ihm nicht sagen.

»He, Puppe« – Eddie zwinkert ihr jetzt zu – »Whhhaaaahhhhzzzzupppp?« Schon wieder diese dämliche Zeile aus der Bierwerbung. Das ist so abgedroschen. Warum kann Eddie nicht einfach er selbst sein? Klein, untersetzt, schütteres Haar, mit einem Bauch, der den unteren Knopf seines gestärkten weißen Hemdes zu sprengen droht, ist er körperlich mit Sicherheit nicht Arleens Typ, und doch hat er für sie etwas Anziehendes. Vielleicht weil er selbst einsam ist. Vielleicht weil er sie braucht und so tut, als brauche er sie überhaupt nicht. Eddie und Doreen sind jetzt schon fast ein Jahr getrennt und er hat als alleinstehender Vater schwere Zeiten durchgemacht. Die Tatsache, dass seine drei Kinder alle Mädchen sind, macht es nicht leichter. Eddie hat einfach nie gelernt, mit Frauen umzugehen. Noch schlimmer, es ist ihm noch nicht einmal bewusst.

»He, wo sind denn alle abgeblieben?«, fragt er mit gespielt grimmiger Miene, als wäre er wirklich überrascht angesichts der leeren Stühle, die in alle Richtungen zeigen. Seit fast drei Monaten sieht es jetzt fast jeden Montag und jeden Donnerstag in diesem Raum so aus. Seine Frage hängt in der Luft wie die Pointe eines abgedroschenen Witzes.

Sie seufzt, schüttelt den Kopf und muss dann unwillkürlich lächeln. Vor zehn Jahren an der Highschool war Eddie Mittelstürmer. Das weiß sie, weil er ihr das bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt. Sie hat wirklich keine Ahnung, was ein Mittelstürmer ist, und es ist ihr auch egal. Er scheint so stolz darauf zu sein, als wäre das auch für sie wichtig. »Nummer 56, Mittelstürmer, Eddie Miles«, summt er immer wieder, legt seine Hände um ein imaginäres Stadionmikrophon, weidet sich am Echo der Stabreime – »Middleton Matadors« – und freut sich diebisch an seinem klingenden »Aaaaaaaahhhhhhhh«, mit dem er das Heer von Teenagern imitiert, die ihm vor vielen Jahren zujohlten.

Eddie scheint heute Nachmittag besonders gut gelaunt zu sein und sie versucht in seine Fröhlichkeit einzustimmen, was sie ihren Frust mit Greg vergessen lässt, wenn auch nur für einen Moment. Während Eddie zur Kaffeemaschine am anderen Ende des kleinen Büros geht, kann Arleen spüren, dass er sich in Gedanken bereits ausmalt, was sie in ein paar Minuten tun werden. Fast automatisch greift sie zum Telefon, um Gregs Nummer zu wählen, und rutscht nervös auf dem Stuhl hin und her, während es bei Eastland klingelt.

Sie und Greg haben sich in ihrem vorletzten Studienjahr in Ohio kennen gelernt. Groß, blond und Mitglied der Tennismannschaft, war er von einem kleinen College in San Diego hierher übergewechselt. Sie gingen überall gemeinsam hin, in die Oxley-Bücherei, zur Royer-Verbindung, sie begleitete ihn sogar in das Owens-Freizeitzentrum und zu seiner Routineuntersuchung in den Kardiogrammraum. Bevor sie Greg kennen lernte, waren alle ihre Beziehungen zu Männern eine einzige Folge von Ernüchterungen und Enttäuschungen gewesen. Da sie frühreif war, sah sie bereits in der achten Klasse so ähnlich aus wie jetzt, zehn Jahre später: eine brünette Frau mit gut proportionierter Figur, grünen Augen und einem Gesicht, das man nicht umhinkonnte, hübsch zu nennen. Weil ihre Augen so glänzten, nannten ihre Freundinnen sie »Mad« – eine Abkürzung für Madonna. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bevor die Jungen ihre koketten Blicke mit kichernden Flirtversuchen beantworteten, was sie offen begrüßte, denn es nahm ihr etwas von der Anspannung und dem Alleinsein bei sich zu Hause. Keine Woche verging, ohne dass sie ihren Freundinnen stolz verkündete, sie habe Joey oder Billy geküsst, ihren neuen »Freund« aus der Nachbarschaft, der schon die Highschool besuchte.

Von der Zeit an war sie nie ohne Freund gewesen. Selbst wenn sie einen Jungen nicht besonders mochte, sorgte sie immer dafür, dass ein anderer schon in der Warteschleife stand, bevor sie die Beziehung beendete. Sie hatte sich weiß Gott bei allen Mühe gegeben, dass es klappte. Wenn sie sich im College an einen Jungen heranmachte, fing er an sie abzuspeisen mit lahmen Entschuldigungen wie, er müsse sich »auf seine Bücher konzentrieren« oder »seine Eltern zu Hause besuchen«. Nachdem sie sich ein paarmal getroffen hatten, rief er sie überhaupt nicht mehr an, als sei er völlig vom Erdboden verschwunden. In ihrem Zimmer hängte sie ein Bild an die Wand, das sie in der zweiten Klasse gezeichnet hatte, eine Bleistiftzeichnung von Kolumbus’ Schiffen, die von der »flachen« Erde herunterfielen, und schrieb mit schwarzen Buchstaben »Jungen!« oben auf das Bild. Jungen hatten keine Ahnung, sie stammten aus dem Mittelalter!

Trotzdem rief sie ihre verlorenen Seemänner zu allen möglichen Tageszeiten an und forderte sie auf, ihr zu sagen, was falschgelaufen war. Selbst Jungen, mit denen sie schlief, verloren das Interesse an ihr. Sie war sicher manchmal wirklich zu fordernd, aber konnten sie denn nicht einsehen, dass sie mehr brauchte? Nicht nur Sex oder eine weitere Verabredung; sie musste darauf vertrauen können, dass sie ihre intimsten Geheimnisse mit ihr teilten, so wie auch sie ihnen alles aus ihrem Leben erzählte. Sie kamen ihr alle so windig vor, als würden sie sich in Luft auflösen, wenn sie ihnen auch nur einen Moment den Rücken zuwandte. Das erinnerte sie an eine Zeit als Kind, wo sie glaubte, die einzige Person zu sein, die wirklich existierte und alles andere – die Nachbarn, die Autos auf der Straße – war nichts als eine raffinierte Bühnenkulisse, die Gott je nach Laune verschwinden ließ, wenn sie nicht hinsah, und wieder ins Leben rief, wenn sie sich ihr zuwandte. Die Vorbeigehenden, das wusste sie genau, waren in Wirklichkeit Luftspiegelungen, die in dem Augenblick verschwanden, wo sie ihnen den Rücken zukehrte. Manchmal drehte sie sich plötzlich um, um diese körperlichen Wesen als das zu entlarven, was sie in Wirklichkeit waren: nichts als Luft. Aber nein, sie waren dann immer noch da, protzten mit ihrem Dasein und entfernten sich von ihr in demselben Körper und denselben Kleidern, die sie getragen hatten, als sie näher kamen. Es hatte keinen Zweck; Gott war viel zu schnell für sie.

Dem Himmel sei Dank, dass Greg Petersen ihren Weg gekreuzt hatte. Er war anders als all die Jungen, mit denen sie sich bislang eingelassen hatte. Greg war so intelligent, er brauchte gar nicht groß studieren....

Erscheint lt. Verlag 7.12.2020
Sprache deutsch
Original-Titel Sometimes I Act Crazy
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Borderline • Borderline-Syndrom • BPS • eBooks • Gesundheit • Persönlichkeitsstörung • Psychische Erkrankung • Psychotherapie • Ratgeber
ISBN-10 3-641-27036-7 / 3641270367
ISBN-13 978-3-641-27036-0 / 9783641270360
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