»Prosa der Welt« (eBook)

Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
350 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76637-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Prosa der Welt« - Hans Ulrich Gumbrecht
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Philosoph und Übersetzer, Kritiker und Schriftsteller, Kunstagent und Enzyklopädist: Denis Diderot, 1713 in der Champagne geboren, 1784 in Paris gestorben, war eine der prägenden Figuren jener Bewegung, die als europäische Aufklärung in die Geschichte eingegangen ist. Doch was ist der Fluchtpunkt seines vielgestaltigen ?uvre, das anders als die Werke seiner Zeitgenossen Voltaire und Rousseau, Schiller, Kant und Hume von einer geradezu zentrifugalen Dynamik gekennzeichnet ist?

Entlang von Szenen aus Diderots bewegtem und bewegendem Leben und in genauen Lektüren seiner Schlüsselwerke geht Hans Ulrich Gumbrecht in seinem eleganten Buch dieser Frage nach und entwickelt einen neuen Zugang zu diesem außergewöhnlichen Intellektuellen. Als Kontrastfolie dient ihm dabei das Systemdenken Hegels, der von Diderots Texten ebenso irritiert wie fasziniert war und sie unter den Begriff einer »Prosa der Welt« brachte. Gumbrecht zeigt, wie radikal sich Diderot auf die Konkretheiten und Kontingenzen der Welt eingelassen hat und dadurch ins Zentrum einer intellektuellen Peripherie gelangt ist, in die es noch andere zog: Goya zum Beispiel, aber auch Lichtenberg und Mozart. Die Denkbewegungen dieser Peripherie erreichen uns heute als die von Zeitgenossen.



<p>Hans Ulrich Gumbrecht wurde 1948 in Würzburg geboren. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca (Spanien) und Pavia (Italien). Nach seiner Habilitation 1974 war er von 1975-1982 Professor in Bochum und von 1983-1989 an der Universität in Siegen. Von 1989 bis 2018 hatte er den Lehrstuhl für Komparatistik an der Stanford University inne. Gegenwärtig ist er ständiger Gastprofessor an der Université de Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2015 den Kulturpreis der Stadt Würzburg.</p>

1


»Man kann mit mir machen, was man will«[1] 
Ein glücklicher Tag in Diderots Leben


Denis Diderot mag in mancherlei Hinsicht frühreif gewesen sein, als Schüler etwa oder zuweilen in seiner Art des Denkens und Schreibens – aber wie es scheint, war er nie in Hast. Der Fluss der Zeit und die Versprechen der Zukunft lenkten ihn nicht von den vielen Gegenständen, Problemen und Personen ab, für die er sich interessierte. So erschien er seinen Zeitgenossen als aktiv, produktiv und großzügig und war kaum darauf bedacht, die Ereignisse und Bedingungen seines Lebens in unabänderliche Bahnen zu lenken oder zu klar umrissenen Lebenslagen auszuformen.

Es ist nicht klar, wann genau er seine Geburtsstadt Langres in der Champagne verließ, eine Stadt von ein paar Tausend Einwohnern, in der Diderots Vater als wohlhabender Messerschmied tätig war und sein Onkel der höheren Geistlichkeit angehörte, und wann er die provinzielle Welt seiner Kindheit und Jugend, die ihm auch weiterhin ohne jede Zweideutigkeit am Herzen lag, hinter sich ließ, um sein Studium in Paris fortzusetzen. Es muss 1728 oder 1729 gewesen sein, als Diderot zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren alt war, und für die folgenden anderthalb Jahrzehnte wissen wir nur von einigen akademischen Institutionen, von häufig wechselnden intellektuellen Interessen und existenziellen Orientierungen, mit denen er die Geduld seines Vaters überstrapazierte, und – als die finanzielle Unterstützung aus Langres deshalb ausblieb – von vielfältigen Aktivitäten zur Bestreitung seines Lebensunterhalts in einem Lebensrhythmus, den seine Biographen recht anachronistisch als den eines »Bohemiens« beschreiben. 1734 heiratete Denis Diderot – ohne die gesetzlich erforderliche Erlaubnis seiner Familie, die er ernsthaft zu erlangen versucht hatte – die drei Jahre ältere Stickerin Anne-Toinette Champion, die ohne Vermögen, von geringem gesellschaftlichem Stand, tief religiös und nach mehreren Quellen sehr schön war. Angélique, die einzige überlebende und überaus geliebte Tochter ihrer Eltern, die schlussendlich mehr als vier Jahrzehnte zusammenlebten, die meiste Zeit unglücklich, aber nie sichtbar getrennt oder in Distanz zueinander, wurde ihrer dreiundvierzigjährigen Mutter und ihrem vierzigjährigen Vater 1753 geboren.

Erst um 1750, weit jenseits der Mitte der durchschnittlichen Lebenserwartung im 17. Jahrhundert, begann Diderot, sich in der intellektuellen Welt von Paris zu etablieren, nicht als geistige Autorität, sondern eher als eine Kraftquelle und eine anziehende Figur innerhalb einer neuen, gerade erst entstehenden Form von Geselligkeit. Schon früh hatte die staatliche Zensur ihn als »un garçon très dangereux«, als einen »sehr gefährlichen Kerl«, identifiziert, und 1749 inhaftierte man ihn dreieinhalb Monate lang im Donjon von Vincennes. Der erste Band der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts, des sciences et des métiers, des allumfassenden Buchprojekts, dessen Herausgabe Diderot 1747 zusammen mit dem Mathematiker Jean le Rond d'Alembert übernommen hatte, erschien drei Jahre später und fand sogleich großen Anklang in Europa und sogar in Nordamerika, während unter seinen eigenen Schriften eine 1749 erschienene Abhandlung über erkenntnistheoretische Fragen mit dem Titel Lettre sur les aveugles (Brief über die Blinden) nicht nur den Grund für seine Inhaftierung bildete, sondern auch besonders intensive Diskussionen auslöste.

In diesen Jahren lernte Diderot einige der namhaftesten und einflussreichsten Figuren der Pariser Aufklärungskreise persönlich kennen, etwa Voltaire und Rousseau, aber auch Friedrich Melchior Baron von Grimm und Paul-Henri Thiry Baron d'Holbach, zwei wohlhabende Immigranten aus Deutschland, die beide zehn Jahre jünger waren als er und in vielfältiger Weise den materiellen Rahmen für Gespräche und Begegnungen bereitstellten, in deren Klima er zu brillieren vermochte. In diesem Kontext dürfte Diderot auch irgendwann nach 1755 Louise-Henriette Volland begegnet sein, die er »Sophie« nennen sollte und der er bis 1784, dem Jahr, in dem beide starben, mit einer Heiterkeit und Zärtlichkeit zugetan blieb, die er weder bei seiner Frau noch bei Madeleine de Puisieux gefunden hatte, einer kampfeslustigen Schriftstellerin und Philosophin, deren leidenschaftlicher Geliebter er 1745 wurde.

»Sophie« war die unverheiratete Tochter einer angesehenen bürgerlichen Familie und schon um die vierzig Jahre alt, als ihr Verhältnis mit Diderot begann. Sie lebte bei ihrer verwitweten Mutter und über lange Zeiten auch bei ihrer verheirateten Schwester, auf die Diderot oft eifersüchtig war. Die sehr belesene Sophie teilte die intellektuellen Neigungen ihres Freundes. Sie muss gesundheitlich labil gewesen sein, trug eine Brille und hatte, wie Diderot einmal in einem Brief berichtete, »trockene Hände«. Wir besitzen kein Porträt von Sophie und auch nicht die Briefe, die sie an ihren Freund schrieb. Dennoch ist sie für uns sehr lebendig präsent in den hundertsiebenundachtzig (von wahrscheinlich mehr als fünfhundert) Briefen, die Diderot an sie schrieb und die erhalten geblieben sind. Wir können diese Briefe als Tagebuch in Briefform begreifen, aber eher noch als Ausdruck seines dauerhaften Wunsches, die unmittelbaren Erlebnisse seines alltäglichen Lebens in all ihren sozialen, intellektuellen und sogar sinnlichen Verwicklungen mit Sophie zu teilen. Wir wissen nicht sicher, ob auch eine erotische Beziehung Teil ihrer Liebe war, wahrscheinlich fand jedoch Sophie Vollands und Denis Diderots Begehren schon bald seine angemessenste und reizvollste Form im Schreiben und Lesen dieser Briefe und vielleicht sogar im ungeduldigen Warten darauf – denn obwohl sie ihre Beziehung nicht streng geheim hielten und die Pariser Wohnung der Vollands nicht weit von d'Holbachs Wohnsitz entfernt lag, wo Diderot viel Zeit verbrachte, fanden sie doch recht selten Gelegenheit zu physischem Zusammensein. Als Sophie Volland 1784 – fünf Monate vor Denis Diderot – starb, hinterließ sie ihm einen Ring und eine in rotes Maroquin gebundene Ausgabe von Montaignes Briefen.

Den Sommer 1760 verbrachte Diderot – wie so oft fern von Sophie Volland – in La Chevrette, einem bei Paris gelegenen Schloss, das sich im Besitz von Louise d'Épinay befand, der reichen und gebildeten Geliebten des Barons Grimm. Der seit 1753 als Ausländer in Paris lebende Grimm hatte sich einen Namen und ein Vermögen gemacht mit der Herausgabe der Correspondance littéraire, philosophique et critique, einer regelmäßig und in Briefform verbreiteten Sammlung von Berichten über neue Publikationen, Debatten, Theateraufführungen und Ausstellungen in der französischen Hauptstadt, deren handgeschriebene Exemplare von einer kleinen Zahl europäischer Aristokraten abonniert worden war, darunter die russische Zarin Katharina die Große, Leopold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, und Gustav III. von Schweden. Wenn Grimm – meist aus geschäftlichen Gründen – auf Reisen war, sorgte Madame d'Épinay für die Kontinuität der Correspondance, während Diderot regelmäßig Beiträge beisteuerte, da er auf dieses Einkommen angewiesen war, wenngleich er sich ansonsten offenbar nicht sonderlich um seine finanziellen Interessen scherte.

So waren Aufenthalte in La Chevrette und gelegentlich auch auf d'Holbachs Landgut in Grandval zu einem festen Bestandteil in Diderots Leben geworden. Ansonsten wechselte er in Paris zwischen der Wohnung, in der er gemeinsam mit Frau und Tochter lebte, und einem Arbeitsraum, den er für seine Arbeit an der Encyclopédie gemietet hatte. So war es ihm möglich, in mehreren Salons zu verkehren, vor allem in denen der Barone von Grimm und d'Holbach. Die Briefe, die er an Sophie Volland und viele seiner Philosophenkollegen[2]  schrieb, oft besorgt hinsichtlich des Status ihrer Zustellung, deckten beide Dimensionen seiner intellektuellen Geselligkeit ab. Die enge räumliche Begrenztheit des Lebens eines Mannes, dessen Interessen buchstäblich keinerlei Grenzen kannten, wurde, von seltenen Besuchen in Langres abgesehen, nur ein einziges Mal gesprengt, als Diderot ...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Übersetzer Michael Bischoff
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Aufklärer • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Biographie • buch bestseller • Literaturwissenschaft • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste
ISBN-10 3-518-76637-6 / 3518766376
ISBN-13 978-3-518-76637-8 / 9783518766378
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