Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess (eBook)

[Was bedeutet das alles?]
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2020 | 1. Auflage
143 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961764-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess -  Marie-Luisa Frick
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Was war die Aufklärung? Ist sie gar am Ende? Das Erstarken politischer Ränder, ansteigende religiöse Gewalt und ein Vertrauensverlust in Wissenschaft und Medien legen dies anscheinend nahe. Marie-Luisa Frick führt durch die Geschichte und spannungsgeladene Normativität aufklärerischen Denkens und zeigt: Aufklärung ist kein 'Erbe', bei dem wir immer schon wüssten, worum es sich handelt. Mutiges und eigenständiges Denken müssen wir uns immer wieder neu erarbeiten und immer wieder neu entdecken. Oder wie Frick es ausdrückt: 'Die Zukunft des Humanismus, sie liegt zwischen Verzagtheit und Übermut.'

Marie-Luisa Frick, geb. 1983, ist habilitierte Philosophin und arbeitet als Assoziierte Professorin am Institut für Philosophie an der Universität Innsbruck. Von ihr ist bei Reclam in der Reihe [Was bedeutet das alles?] bereits 2017 der Band 'Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft' erschienen.

Marie-Luisa Frick, geb. 1983, ist habilitierte Philosophin und arbeitet als Assoziierte Professorin am Institut für Philosophie an der Universität Innsbruck. Von ihr ist bei Reclam in der Reihe [Was bedeutet das alles?] bereits 2017 der Band "Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft" erschienen.

Vorbemerkung

I. Einführung: Was war Aufklärung?
Deutung des Undeutlichen
Der Humus der Krise
Aufklärung im Plural: neue Probleme
Und wir?

II. Selbst denken
Gefährliches Selbstdenken
Selbstdenken für Alle?
Selbstdenken – aber richtig
Die mündige Frau

III. Souverän sein
Alle Macht dem Volk!
Widerstand erlaubt
Alle Macht dem Volk?
Rechte haben

IV. Zusammen leben
Wer gehört zum Volk?
Gemeinschaft ohne Nation?
Sich ertragen
Unerträgliches

V. Mensch sein
Da ist niemand
Verbrechen und Strafe
Eine Welt ohne Krieg?
Die Zukunft des Humanismus

Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Zur Autorin

Die mündige Frau


Die Gründung der Königlichen Gesellschaft für Ökonomie in Madrid im Jahr 1775 brachte Unruhe in die Stadt. Einige Damen verlangten, in die philanthropische Vereinigung aufgenommen zu werden. Für die meisten Männer, aber auch andere Frauen: eine Ungeheuerlichkeit. Frauen, so die herrschende Ansicht, haben ihren natürlichen Platz nicht in der politischen Öffentlichkeit, sondern im Haushalt. Ihre natürlichen Pflichten ließen ihnen gar keine Zeit, sich für anderes zu interessieren, und man könne auch nicht sicher sein, ob sie wirklich über dieselben intellektuellen Kapazitäten verfügen wie Männer, seien sie doch offensichtlich stark von Gefühlen und sonstigen Schwächen bestimmt, die mit ihrer weiblichen Natur einhergehen. Angesichts der dichten Argumentationswand, gegen die Befürworter*innen der Aufnahme von Frauen in diesen elitären Club ankämpfen mussten, konzentrierten sie sich auf ein Argument im Besonderen. Man kann es als ›Erfolg-durch-Diversität-Argument‹ bezeichnen: Es sei von Vorteil für die Arbeit der Ökonomischen Gesellschaft, wenn sie auch Personen in ihren Reihen hat, die eine spezifische weibliche Perspektive einbringen.

So wurde zwölf Jahre lang gestritten. Schließlich beschloss man, innerhalb der Gesellschaft einen eigenen Damenrat einzurichten, die Junta de Damas. Angeführt wurde er von der adeligen Gelehrten María Isidra de Guzmán. Sie gilt als erste Frau, die in Spanien einen Doktortitel in Philosophie erworben hat – nur aufgrund eines königlichen Ausnahmeerlasses, denn Frauen waren zu diesem Zeitpunkt an keiner Universität Europas offiziell zugelassen. Die Junta de Damas kümmerte sich vorwiegend um Fürsorgeeinrichtungen wie Krankenhäuser oder Schulen und damit um gesellschaftliche Bereiche, die noch am ehesten der ›natürlichen Kompetenz‹ der Frau entsprachen. Von einer Anerkennung als gleichwertige Mitglieder des politischen Gemeinwesens waren die Damas von Madrid 1787 noch gleich weit entfernt wie alle anderen Frauen des Kontinents. Und das, obwohl bereits hundert(fünfzig) Jahre zuvor erste Feminist*innen gegen die Vorstellungen natürlicher Ungleichwertigkeit der Geschlechter in den Kampf gezogen waren.

Darunter befinden sich die französische Philosophin Marie Le Jars de Gournay, eine Freundin Montaignes, mit ihrer Abhandlung zur Egalité des hommes et des femmes (Zur Gleichheit von Frauen und Männern, 1622) oder der in der Tradition Descartes’ stehende Philosoph Francois Poullain de La Barre. Er analysierte in seiner Schrift De l'Égalité des deux sexes (›Über die Gleichheit der beiden Geschlechter‹, 1673) geflissentlich die überlieferten Vorurteile über die Unterlegenheit der Frau und kam zum Schluss: Es ist nichts anderes als die Herrschaft des etablierten Stärkeren, die Frauen in eine unterwürfige Position gebracht hat. Gegenüber Männern hätten Frauen keinerlei relevante natürliche Defizite. Man gebe Frauen Bildung, ihre Selbstermächtigung werde folgen. Wozu aber diese Selbstermächtigung, fragten Verteidiger der alten Ordnung? In ihren Augen besteht der Zweck des Frauen-Daseins in reproduktiver Arbeit – was dazu führt, dass Frauen sich wirtschaftlich nicht selbst erhalten können und daher wiederum dem Manne unterstehen. Wie sollen sie jemals autonom, geschweige denn autonome politische Subjekte sein?

Wie man sich als alleinstehende Frau selbst erhalten kann, wenn außer Lehrerin oder Gouvernante keine Berufe offenstehen und frau sich nicht in einer Versorgungsehe prostituieren möchte, wie sie sich ausdrückt, fragt sich 1787 auch die Britin Mary Wollstonecraft. Soeben hatte die 28-Jährige ihre Anstellung als Erzieherin bei einer Adelsfamilie in Irland verloren und fasste einen kühnen Entschluss: Sie wolle ein ganz neuer Typ Frau sein; anders als ihre Mutter, die in einer unglücklichen Ehe mit einem Alkoholkranken lebte; anders als ihre Schwester, die nach ihrer Scheidung die Obsorge über ihre Kinder verlor, wie es dem Gesetz entsprach. Und anders auch als die galanten Damen der Oberschicht, die sich mit stumpfsinnigen Wettbewerben um die schönste Erscheinung und die ›beste Partie‹ selbst über ihr sklavenartiges Dasein hinwegtäuschen.

Wollstonecraft bezieht eine Wohnung in London, bringt sich Französisch sowie Deutsch bei und arbeitet als Übersetzerin und Autorin. Sie schreibt für das Magazin Analytical Review, deren Herausgeber sie unterstützt und mit radikalen Intellektuellen der Zeit zusammenbringt. Darunter sind der Naturforscher und Philosoph Erasmus Darwin, Charles Darwins Großvater, außerdem der Spiritus Rector der Amerikanischen Revolution Thomas Paine oder auch der Vordenker des Anarchismus, William Godwin (den sie später, nach einem turbulent-unkonventionellen Liebesleben und der Geburt einer unehelichen Tochter, heiraten wird). Es ist die konsequente Selbstbehauptung, mit welcher sich Wollstonecraft über gesellschaftliche Normen und Usancen hinwegsetzt, die sie im Laufe ihres Lebens und darüber hinaus für viele außerhalb ihres Zirkels zum roten Tuch gemacht hat, zur Verkörperung der ›unregierbaren‹ Frau und damit zu einer Infektionsquelle für Subversion.

Männern fühlte sie sich nicht unter- oder überlegen, sondern ebenbürtig. Auch Standesunterschiede waren für die Anhängerin des republikanischen und non-konformistischen Prediger-Philosophen Richard Price irrelevant, um den Wert eines Menschen zu bestimmen. Es zählt nicht, wer man ist, sondern entscheidend ist, was man denkt und wie man handelt. Mit diesem Motto betrat Wollstonecraft, die bis dahin einer breiten Öffentlichkeit unbekannt war, 1791 die politische Bühne. Zwei Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution debattierte man im Königreich Großbritannien heftig darüber, inwiefern dieser Umbruch bestehender Ordnung nachahmenswert oder umgekehrt eine Bedrohung für die »englischen Freiheiten« darstellt, wie sie seit der Magna Charta (1215) bis zur Bill of Rights (1689) errungen wurden. Die zweite Position vertrat Edmund Burke in seinen Reflections on the Revolution in France (Betrachtungen über die Französische Revolution, 1790). Innerhalb nur weniger Wochen lag mit A Vindication of the Rights of Men (Eine Verteidigung der Menschenrechte) eine erste flammende Replik von Wollstonecraft auf den Abgeordneten vor. In ihr wirft sie Burke vor, Tradition zu hoch zu schätzen – aus irrationaler Sentimentalität. Ohne heftige Umbrüche gebe es keinen Fortschritt. Das Argument der Autorität müsse daher »irgendwo enden, ansonsten kehren wir zurück zu Barbarei«, so Wollstonecraft. England brauche dringend mehr Freiheitsrechte und auch gerechte Eigentumsverhältnisse, verweist sie auf die Elenden, »deren Eigentum, die Frucht ihres Fleißes, gänzlich der Verfügung ihrer Herren untersteht«. Auch die Frauenfrage spricht sie an und übt Kritik an einer »verkommenen Gesellschaft«, die aus Frauen »unnütze und unbedachte Puppen« mache.

Weitere Repliken auf Burke sollten folgen, darunter nicht nur Paines berühmtes Werk Rights of Man (Die Rechte des Menschen, 1791/92), sondern auch eine Streitschrift der renommierten Historikerin und radikalen Denkerin Catharine Macaulay. Mit der Französischen Revolution verband sie wie die jüngere und von ihr inspirierte Wollstonecraft die Hoffnung auf Befreiung von feudaler Unterdrückung und monarchischer Willkür – und nicht zuletzt von der Herrschaft des Mannes über die Frau.

Die ersten Anzeichen waren vielversprechend: Die revolutionär gegründete französische Nationalversammlung hatte 1789 die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) verabschiedet, die der ersten Verfassung des Landes (1791) vorangestellt wurde. »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein«, heißt es dort im ersten Artikel. Das konnte doch nur so verstanden werden, dass auch weibliche Menschen den gleichen Anspruch auf gleiche Rechte erheben können. Oder etwa doch nicht?

Bereits 90 Jahre zuvor hat die Britin Mary Astell als Erste politische mit patriarchaler Willkürherrschaft gleichgesetzt und es zum Widerspruch erklärt, wenn Republikaner Frauen die Freiheit verwehren: »Wenn absolute Herrschaft im Staat nicht notwendig ist, wie kommt es dann, dass sie offenbar in der Familie notwendig ist? Wenn alle Menschen frei geboren sind, wie kommt es, dass Frauen als Sklaven geboren sind?« Den französischen Frauen – sie hatten in den ersten Revolutionsjahren an der Umgestaltung der absolutistischen Monarchie in eine konstitutionelle entscheidend mitgewirkt – stutzten die Revolutionäre allerdings bald die Flügel. Sie waren – bis auf wenige Ausnahmen wie Nicolas de Condorcet – überzeugt, dass der »allgemeine Nutzen« Schaden nehmen würde, sollte man Frauen nicht nur die gleichen Menschenrechte, sondern auch die Bürgerrechte zugestehen, sie also als politisch gleich mündig und entscheidungsberechtigt ansehen. Frauen hätten schließlich Familienarbeit zu leisten und damit auch die wichtige Aufgabe, die nächste, kräftige und tugendhafte Generation von freien französischen Männern heranzuziehen. Damit wollte sich Olympe de Gouges nicht abfinden (wie Wollstonecraft stammte sie aus einfachen Verhältnissen). Sie legte mit ihrer Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne (Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin) 1791 eine pointierte Kritik der sie...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2020
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Schlagworte Aufklärung aktuell • Aufklärung Gesellschaft • Aufklärung heute • Aufklärung Moderne • Bedeutung Aufklärung • Geschichte der Aufklärung • Ideengeschichte • Kulturgeschichte • Mündigkeit des Bürgers • Mündigkeit des Menschen • Praktische Philosophie • selber denken • Selberdenken • selbst denken • Selbstständig denken
ISBN-10 3-15-961764-5 / 3159617645
ISBN-13 978-3-15-961764-0 / 9783159617640
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