Indigene Völker in Kanada (eBook)

Der schwere Weg zur Verständigung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-483-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Indigene Völker in Kanada - Gerd Braune
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In Europa gilt Kanada im Vergleich zu den USA als »der bessere Teil Nordamerikas«. Doch der Umgang mit der indigenen Bevölkerung ist auch hier ein Sündenfall: Noch bis vor wenigen Jahrzehnten wurde mit teils brutalen Maßnahmen versucht, die kulturelle Identität dieser Menschen auszulöschen und sie zu assimilieren. Wie erfolgversprechend ist da der vor Kurzem eingeleitete Versöhnungsprozess?
Gerd Braune hat indigene Gemeinden im ganzen Land besucht und mit Vertretern der drei indigenen Völker, First Nations, Inuit und Métis, gesprochen. Er erzählt ihre Geschichte vor und nach Ankunft der Europäer und seit der kanadischen Staatsgründung. Vor allem aber berichtet er, wie die indigenen Völker heute leben und um ihre Rechte kämpfen.

Gerd Braune, Jahrgang 1954, berichtet seit 1997 als freiberuflicher Korrespondent über Kanada. Er wurde in Toronto (Kanada) geboren und wuchs in Deutschland auf, nach dem Studium der Politik- und Rechtswissenschaft arbeitete er für die Nachrichtenagentur AP und die Frankfurter Rundschau.

Jahrgang 1954, lebt in Ottawa und berichtet als freiberuflicher Korrespondent über Kanada. Er wurde in Toronto / Kanada geboren und wuchs in Deutschland auf; nach dem Studium der Politik und Rechtswissenschaft arbeitete er für die Nachrichtenagentur AP und die Frankfurter Rundschau.

Versöhnung am Scheideweg


Eine Zerreißprobe für die Politik des Ausgleichs


Brennende Autoreifen, Holzpaletten, die in Flammen aufgehen, blockierte Eisenbahnlinien und Straßen: Im Februar 2020 beobachten die Kanadier mit Verwunderung, Überraschung, Entsetzen und Enttäuschung, dass die von Premierminister Justin Trudeau und seiner liberalen Regierung seit 2015 geförderte Versöhnung zwischen Kanadas nichtindigener und indigener Bevölkerung noch lange nicht erreicht ist. Der Konflikt um den Bau einer Erdgaspipeline auf dem Territorium des Volks der Wet’suwet’en in der westlichen Provinz British Columbia und die dadurch ausgelösten landesweiten Protestaktionen setzen eine Politik, die auf Ausgleich, Verständigung und respektvollen Umgang miteinander baut, einer Zerreißprobe aus. Als zwischen Toronto und Kingston die Polizei auf dem Territorium Tyendinaga der Mohawk die Blockade einer der wichtigsten Eisenbahnlinien des Landes räumt und einige Demonstranten vorübergehend festnimmt, sind Plakate zu sehen, die postulieren: »Reconciliation is dead!« – Die Versöhnung ist tot. In Kanadas Hauptstadt Ottawa ziehen Demonstranten mit Mohawk-Flaggen, Trommeln und Gesang vor das Parlament. Sie fordern, dass sich die Polizei aus dem Territorium der First Nations zurückziehen müsse.

Den Bemühungen, Vertrauen zwischen dem kanadischen Staat und den indigenen Völkern aufzubauen, droht in den ersten Monaten des Jahres 2020 ein erheblicher Rückschlag, trotz der ebenfalls zu hörenden Parolen »Reconciliation is alive« – Die Versöhnung lebt weiter. Nach Jahren des feierlich beschworenen Wegs zur Aussöhnung und vielen kleinen und größeren Erfolgen auf diesem Pfad – der langsamen Verbesserung der Lebensverhältnisse in Reservationen und abgelegenen Gemeinden der indigenen Völker und der Anerkennung ihrer Rechte – muss die kanadische Mehrheitsgesellschaft erleben, dass eine gleichberechtigte und respektvolle Koexistenz mit den indianischen Völkern, den First Nations, und den Inuit und Métis offenbar noch in weiter Ferne liegt. Wird es gelingen, die Politik der Versöhnung fortzusetzen? Das Wort der »Truth and Reconciliation Commission« vom Herbst 2015, die Versöhnung stehe am Scheideweg – »Reconciliation at the crossroads«1 –, gewinnt unerwartete Aktualität.

Über mehrere Wochen zieht sich die Krise hin. Die Trudeau-Regierung widersetzt sich unverantwortlichen Forderungen unter anderem des konservativen Parteivorsitzenden Andrew Scheer, hart durchzugreifen. Trudeau will den Dialog: »Dies ist ein kritischer Moment für unser Land und unsere Zukunft. Es gibt keine Beziehung, die für mich und Kanada wichtiger ist als die Beziehungen zu den indigenen Völkern.« Perry Bellegarde, der National Chief und Vorsitzende des Dachverbands »Assembly of First Nations« (AFN), konstatiert: »Wir werden Versöhnung niemals durch Gewalt erreichen.«2

Ende Februar setzen sich die Hereditary Chiefs der Wet’suwet’en und die Bundes- und Provinzregierung schließlich an einen Tisch und handeln eine Vereinbarung aus, die den Weg für eine Beendigung der Blockaden und eine friedliche Beilegung des Konflikts freimachen soll. Sie verständigen sich auf zügige Gespräche über die Rechte der Wet’suwet’en auf ihrem traditionellen Territorium, finden aber zunächst keine Lösung im Konflikt um die Pipeline, die offensichtlich von der Mehrheit der Wet’suwet’en abgelehnt wird, aber auch Unterstützer hat, selbst unter den Chiefs. Ein für Mitte März geplantes Treffen aller Chiefs der Wet’suwet’en zur Beilegung der Krise muss dann aber wegen einer anderen Krise, der Coronaviruspandemie, verschoben werden.

Als das Konzept für dieses Buch ausgearbeitet wurde, war die dramatische Entwicklung vom Januar und Februar 2020 nicht zu erwarten, aber sie rückte die fragilen Beziehungen zwischen beiden Seiten wieder in das Augenmerk nicht nur der Kanadier, sondern fand auch international Aufmerksamkeit. Das Buch soll einen Überblick über die indigenen Völker Kanadas geben, die First Nations, die Inuit und die Métis, ihre Geschichte und ihre Rolle und Position im heutigen Kanada. Vor allem geht es in diesem Buch um »Reconciliation«, um Versöhnung und Verständigung, die Auseinandersetzung mit dunklen Seiten kanadischer Geschichte und den Versuch, respektvolle Beziehungen aufzubauen. Ich möchte die Leser zu einigen Schauplätzen führen, anhand derer ich die »Geschichte« erzählen will. Viele dieser Schauplätze habe ich bei zwei Kanada-Reisen 1978 und 1982 und im Zuge meiner Korrespondententätigkeit in Kanada seit 1997 besucht und dabei viele interessante indigene und nichtindigene Gesprächspartner getroffen. Ich stütze mich auf aktuelle Recherchen und Quellen, aber auch auf nachrichtliche Texte, Features und Reportagen, die ich in den vergangenen 23 Jahren geschrieben habe. Ich werde meine Gesprächspartner ausführlich zu Wort kommen lassen, nicht nur in Fußnoten.

Reconciliation – Heilen und respektvolles Miteinander


»Reconciliation«, Versöhnung oder Aussöhnung, ist ein zentraler Begriff in der kanadischen Politik, wenn es um die Beziehungen zwischen der nichtindigenen und der indigenen Bevölkerung geht. Er fehlt in keiner Rede, in keinem Dokument, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Diese Bedeutung hat »Reconciliation« aber erst in den vergangenen Jahren erlangt. Nach der Oka-Krise von 19903 war eine Untersuchungskommission, die »Royal Commission on Aboriginal Peoples«, eingesetzt worden. Als sie 1996 ihren mehrbändigen, 3500 Seiten langen Bericht über die kritische Lage der indigenen Völker Kanadas vorlegte – damals hieß es »aboriginal peoples« –, tauchte der Begriff »Reconciliation« noch nicht auf, weder im Vorwort des zusammenfassenden Bandes noch im Schlusswort, das eine Beschreibung des Wegs in den kommenden 20 Jahren enthielt. Festgehalten wurden aber die Bedingungen für eine »faire und auf gegenseitiger Achtung beruhende Beziehung« zwischen indigener und nichtindigener Bevölkerung, die Beendigung kolonialistischer Politik und die Notwendigkeit, dass Kanada akzeptiert, dass die indigenen Völker »Nationen« sind: dass sie politische und kulturelle Gruppen mit Werten und Lebensstil sind, die sich von denen der anderen Kanadier unterscheiden. Dabei wird »Nation« nicht im Sinne eines Nationalstaates gesehen, der Unabhängigkeit von Kanada sucht, sondern als Einheit mit eigener Geschichte und dem Recht zur Selbstregierung in Partnerschaft mit Kanada.4

Zwei Jahre später, am 7. Januar 1998, legte die kanadische Regierung das Dokument »Gathering Strength – Canada’s Aboriginal Action Plan« mit einem »Statement of Reconciliation« vor.5 Zentraler Punkt der Versöhnungserklärung war das Eingeständnis, dass Kinder der indigenen Völker in den vom Staat errichteten Residential Schools, Internaten fernab der Reservationen, körperlicher Gewalt bis hin zum sexuellen Missbrauch ausgesetzt waren. Die Residential Schools gehören zu den dunkelsten Kapiteln kanadischer Geschichte.

Spätestens seit Veröffentlichung der Versöhnungserklärung ist »Reconciliation« ein Begriff des politischen Diskurses und des politischen Handelns. 2008 sprach der konservative Premierminister Stephen Harper im Parlament für die Regierung und das kanadische Volk eine formelle Entschuldigung aus.6 2009 nahm die »Truth and Reconciliation Commission« unter Vorsitz von Richter Murray Sinclair aus dem Volk der Ojibwe ihre Arbeit auf. Sie hatte das Mandat, »die Kanadier durch die schwierige Entdeckung der Fakten hinter dem System der Residential Schools zu leiten« und zudem die Grundlage für eine dauerhafte Versöhnung in ganz Kanada zu schaffen.7 Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hörte die Überlebenden, die »survivors«, des Residential-School-Systems an und veröffentlichte 2015 ihren Bericht, in dem sie das System und die staatliche Politik gegenüber den indigenen Völkern als »kulturellen Genozid« bezeichnet.

»Die Wahrheit aufzudecken, war schwer. Zur Versöhnung zu kommen, wird schwerer«, stellt die Kommission fest.8 Reconciliation – ich möchte so oft wie möglich diesen englischsprachigen Begriff verwenden und schreibe ihn deshalb ab sofort ohne Anführungszeichen – bedeutet, die Ereignisse der Vergangenheit zu begreifen, sich dieser Vergangenheit bewusst zu werden und eine Beziehung zu schaffen, die von Respekt gekennzeichnet ist. Nach dem Bericht der »Royal Commission on Aboriginal Peoples« von 1996 hat Kanada nach Ansicht der »Truth and Reconciliation Commission« nun eine zweite Chance zur Reconciliation.

Dies bedeutet zunächst, dass den indigenen Gemeinden, den Familien und Einzelpersonen im Heilungsprozess geholfen wird, das Trauma der Residential Schools und der destruktiven Folgen kolonialer Politik zu überwinden. Die...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2020
Zusatzinfo 25 s/w-Abbildungen und 1 Karte/Tabelle
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Schlagworte Britisch-Amerikanischer Krieg • First Nations • Internate • Inuit • Justin Trudeau • Kolonialismus • Kultur • Louis Riel • Métis • Nation-to-Nation • Pelzhandel • Reservate • residential schools • Sprache • stolen sisters • Ureinwohner • Zwangsadoptionen • Zwangsumsiedlungen
ISBN-10 3-86284-483-8 / 3862844838
ISBN-13 978-3-86284-483-8 / 9783862844838
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 7,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

von Andreas Kappeler

eBook Download (2023)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel

von Gudrun Krämer

eBook Download (2015)
C.H.Beck (Verlag)
13,99
Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart

von Andreas Kappeler

eBook Download (2023)
C.H.Beck (Verlag)
12,99