Sibiriens vergessene Klaviere (eBook)
400 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07219-0 (ISBN)
Sibirien, das ist unerbittliche Kälte und enorme Weite. Sibirien, dieses Gefängnis ohne Dach, ist aber ebenso von verblüffender Schönheit. Welch bedeutende Rolle ausgerechnet hier Klaviere als Symbol europäischer Kultur spielen, zeigt die Britin Sophy Roberts auf ihrer extravaganten Spurensuche. Dabei gelingt es ihr nicht nur, zahlreiche einst berühmte Instrumente zwischen dem Ural und der Insel Sachalin ausfindig zu machen, sondern auch ihre Geschichten zu rekonstruieren: von der Pianomanie der Zarenzeit bis zur Leidenschaft des Lotsen der Aeroflot, von der sowjetischen Manufaktur 'Roter Oktober' bis zur jungen mongolischen Pianistin Odgorel, die in ihrer Jurte Bach spielt. Sophy Roberts' Erkundungen führen tief in das Herz der Geschichte und erzählen uns nicht weniger von der Gegenwart.
Sophy Roberts studierte unter anderem in Oxford und an der Columbia University, New York, und arbeitete für Condé Nast Traveller, The Economist und Financial Times Weekend. Sie lebt in West Dorset (GB). Sibiriens vergessene Klaviere ist ihr erstes Buch.
»Sibiriens vergessene Klaviere ist die wahrscheinlich schönste Sammlung von Überlebensgeschichten des Jahres. … Und eine Liebeserklärung an eine in Worten eigentlich unfassbare Landschaft ist dieses Buch natürlich auch.« Elmar Krekeler, Die Welt, 07.11.20
»Eine große Reportage über Sibirien und seine wechselvolle Geschichte, eine Liebeserklärung an die Kraft der Musik und nicht zuletzt eine detektivische Suche nach alten Klavieren. ... Ein so vielseitiges wie fesselndes Buch, dessen verschlungenen Wegen man nur zu gern folgt«“ Sebastian Fasthuber, Falter, 21.10.20
»Ein faszinierendes, ... an Volten und Entdeckungen reiches Buch. ... Spannend geschrieben und von Brigitte Hilzensauer ebenso gut übersetzt.« Michael Freund, Der Standard, 17.10.20
»Journalismus und Poesie.« Peter Pisa, Kurier, 12.10.20
»Haut voll in die Tasten« Süddeutsche Zeitung, 29.09.20
»Das beste Sachbuch, das ich je gelesen habe. … Brillant erzählt, in einer Sprache, in der sehr viel Herz ist, Seele; in der Roberts in einer überbereisten Welt einen ganz neuen Sound findet, um eine solche Reiseerfahrung zu beschreiben.« Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 06.10.20
»Eine spannende Mixtur aus Geschichte und persönlichem Erleben. Ein Buch, das die Faszination der Autorin bei ihrer nie ermüdenden Spurensuche lebendig werden lässt, und ein Buch, das zeigt, wie eng Politik und Kultur in Sibirien zusammenhängen.« Christoph Vratz, WDR3 Tonart, 21.09.20
»Reiseerfahrungen, Klaviersuchen, historische Ereignisse und persönliche Erinnerungen einiger Sibirier bilden ein wunderbar anschauliches Mosaik.« Julia Rodeland, SWR2 Treffpunkt Klassik, 24.09.20
»Ein gefühlvolles Porträt von Land und Leuten, Geschichtensammlung und Reisereportage.« Jutta Sommerbauer, Die Presse, 19.09.20
Vorbemerkung
Nimm den Zug von Moskau ostwärts, und das Scheppern von Eisen auf Schienen schlägt den Takt zum Rhythmus deiner Annäherung an das Uralgebirge. Diese Bergkette trennt das westliche Russland von Sibirien, steigt auf in Kasachstan und folgt einer beinahe direkten Linie durch Russland bis an das Nördliche Eismeer. Vorüber fährt der Zug an trägen Spuren von Kaminrauch, goldverzierten Kirchen und Schichten von Schnee, gestapelt wie Seidenballen, und der Rhythmus der Reise — die träge Gangart, die knirschenden Halte an öden Bahnsteigen, in zusammengekuschelten Städtchen — ist etwa so, wie frühe Reisende russische Züge in den damals modischen Eisenbahnskizzen aus Sibirien beschrieben hatten. Heutzutage allerdings sind Mitreisende spärlich; die meisten Russen fliegen nach und von Sibirien, statt die Eisenbahn zu nehmen.
Zur Zeit des letzten Zaren berichteten die Reisenden im symbolträchtigsten Zug des Landes — dem Train de luxe Siberien, der in beinahe gerader Linie von Moskau nach Wladiwostok an der russischen Pazifikküste fuhr — von beinahe überschwänglichem Luxus, von Passagierinnen, über und über mit Diamanten behängt, »die einem die Augen schmerzen machten«, von Musik auf einem Bechstein-Klavier. Die sibirische Eisenbahn war schwindelerregend ambitiös: »Von den Küsten des Pazifik und den Gipfeln des Himalaya aus wird Russland nicht nur die Angelegenheiten Asiens beherrschen, sondern auch jene Europas«, erklärte Sergei Witte, der Staatsmann und Ingenieur, unter dessen Ägide Ende des 19. Jahrhunderts die Bahnstrecke angelegt wurde. Neben den noblen Waggons für die Touristen gab es auch noch einen gutbesuchten, mahagonigetäfelten Speisewagen und eine Raucherlounge im chinesischen Stil; dem Zug präsidierte ein stark parfümierter, beleibter Schaffner mit rosaseidenem Taschentuch. Französisch sprechende Kellner eilten hin und her mit Rotwein von der Krim und Beluga-Kaviar, zwängten sich durch mit Spiegeln und Wandmalereien geschmückte Waggons, in denen es eine Bibliothek gab, eine Dunkelkammer, wo die Passagiere ihre Filme entwickeln konnten, und laut Annoncen, die Sibirien den Touristen anpriesen, einen Frisiersalon sowie einen Turnraum mit einem einfachen Zimmerfahrrad. Geträller kam aus dem Speisewagen, als wäre er ein Varieté, und das Klavier diente als Anrichte, auf dem die schmutzigen Teller gestapelt wurden.
Nirgendwo auf dieser langen eurasischen Zugreise fand sich, damals wie heute, ein Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Sibirien«. Nur der von den Kartographen eingezeichnete dunkle Fleck, der das Uralgebirge anzeigte — eine Linie, die etwas vage Monumentales heraufbeschwört. In der Realität fühlt sich der Ural eher wie ein geographisches Hmmpf an, als wäre das Land irgendwie gelangweilt, die Berge präsentieren sich als Beulen und Höcker und verstreute Kuppen. Es gibt kein dramatisches Vorhangaufziehen am Rand Sibiriens, keine bedeutungsschwangere Schwelle zu einem besonderen Ort, nur schweres Wetter, das über einer abstrakten Vorstellung hängt.
Sibirien ist schwer festzumachen, seine losen Grenzen erlauben es allen Besuchern, ihm jegliche Gestalt zu geben, die ihnen beliebt. Der Einfachheit halber, um diese undeutlichen Grenzen irgendwie in eine Ordnung zu bringen, folgen hier ein paar Anmerkungen, die meine geographischen Parameter erklären. Die Breite Russlands wurde in den vor den Kapiteln eingefügten Karten zusammengequetscht und -gestaucht, damit das riesige Territorium auf eine Seite passt. Was es noch schwieriger macht, ist der Umstand, dass dieses Land, abgesehen von China, mehr internationale Grenzen hat als jedes andere. Ich liefere auch Erklärungen über Zeitzonen und Terminologie, die in Russland kompliziert sein kann. Falls meine Definitionen irgendwie simplifizierend sind, dann deshalb, weil ich keine Historikerin bin. Falls eurozentrisch, dann, weil ich Britin bin; jede Reise nach Sibirien ist eine, die ich von West nach Ost unternehme — kulturell, physisch, musikalisch. Dieses Buch — für den normalen Leser geschrieben, über eine Jagd, bei der es im sogenannten »Land des endlosen Geredes« manchmal mehr um das Suchen als um das Finden geht — ist ein persönliches, ein literarisches Abenteuer. Eingehendere wissenschaftliche Untersuchungen und weiterführende Literatur sind in den Quellenangaben und in einer Liste ausgewählter Literatur angeführt.
Mein Sibirien umfasst das gesamte Territorium östlich des Uralgebirges bis zum Pazifik; das ist das »Sibirien«, wie es auf den kaiserlich-russischen Landkarten bis in die Sowjetzeit definiert war. Es ist eine äußerst weit gefasste Interpretation Sibiriens, die auch den Hohen Norden und den Fernen Osten Russlands und zudem Gebiete einschließt, die im 18. und 19. Jahrhundert gewonnen und wieder verloren wurden. Ich entschuldige mich deshalb im Voraus in dem Wissen, dass ich mich nicht an die modernen Verwaltungsgrenzen oder an die vorherrschende politische Korrektheit gehalten habe, wer oder was sibirisch ist. Stattdessen folge ich Anton Tschechows Erklärung: »Die sibirische Ebene beginnt, so scheint es, direkt hinter Ekaterinburg und endet der Teufel weiß wo …«
Es gab drei bedeutende Revolutionen im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Die erste fand im Januar 1905 statt, nachdem Regierungssoldaten am später so genannten »Blutsonntag« das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnet hatten. Wladimir Iljitsch Uljanow, bekannt unter seinem Tarnnamen Lenin, und Leo Trotzki wurden die beiden Hauptarchitekten der zwei sozialistischen Revolutionen 1917 — der Februarrevolution und der Oktober- oder bolschewistischen Revolution. Falls nicht anders angegeben, nenne ich die Ereignisse von 1917 allgemein Russische Revolution.
Da in den letzten paar Jahrzehnten in Archiven Belege aufgetaucht sind, konnten die Historiker mehr belastbares Zahlenmaterial über die Verbannung nach Sibirien in der Zarenzeit und zur Zahl der Gefangenen in den Gulags1 zusammenstellen. Die verlässlichsten neueren Statistiken2, um das Ausmaß im Großen und Ganzen ermessen zu können, sehen so aus: Von 1801 bis 1917 wurden mehr als eine Million Untertanen im zaristischen Strafexilsystem nach Sibirien verbannt. Von 1929 bis 1953 starben 2.749.163 Zwangsarbeiter im sowjetischen Gulag.3 Es gibt noch viel mehr Zahlen und ein unfassbares Ausmaß an Leiden, doch ich werde kaum noch Statistiken über die Todesraten und die Zahl der Gefangenen anführen. Offizielle Angaben sind unverlässlich und andere Zahlenangaben nach wie vor grobe Schätzungen.
Mit dem Wort »Russland« bezeichne ich das Land vor dem Ende des Bürgerkriegs, der von 1918 bis 1922 dauerte, als die »Roten« (die Kommunisten) gegen die »Weißen« (Antikommunisten, einige Fraktionen hegten Sympathie für den Zaren) kämpften. UdSSR bezieht sich auf die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken oder Sowjetunion, gegründet 1922; sie umfasste das Gebiet Russlands und vierzehn Nachbarrepubliken. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR in der turbulenten Zeit des ökonomischen Umbaus, der sogenannten Perestroika, änderte Russland seinen Namen. Am 31. Dezember 1991 wurde es zur Russischen Föderation, die ich der Einfachheit halber zu Russland verkürze. Einen Überblick über diese politischen Umstürze sowie über Schlüsselmomente der sibirischen Geschichte bietet die kurze Chronologie am Ende des Buches.
Bis zum 31. Januar 1918 richtete sich die russische Zeitrechnung nach dem Julianischen Kalender (oder Kalender im alten Stil), der dem Gregorianischen Kalender elf bis dreizehn Tage nachhinkte. Ich verwende die alte Datierung für Ereignisse, die innerhalb Russlands vor der Revolution stattfanden, die neue für jene nachher.
Manchmal bin ich selbst asynchron. Obwohl dieses Buch aus Gründen des erzählerischen Zusammenhangs als fortlaufende Reise dargestellt ist, wurden meine diversen Recherchereisen nicht immer in dem zeitlichen Ablauf unternommen, wie er hier erscheint. Manchmal musste ich an einen Ort zurückkehren, um meine Recherchen zu vertiefen. Ich hatte es auch mit unzuverlässigen Hinweisen, schlechtem Wetter und unvorhersehbaren Kontrollen durch den russischen FSB zu tun, dem Inlandsgeheimdienst, direkter Nachfolger des KGB. Ich bereiste Sibirien meist im Winter, nicht im Sommer. Hauptgrund dafür war eine gefährliche allergische Reaktion auf die dortigen Mücken; sie sind so...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2020 |
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Übersetzer | Brigitte Hilzensauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Lost Pianos of Siberia |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
Schlagworte | Baikalsee • Clavichord • Der Hase mit den Bernsteinaugen • Edmund de Waal • Exil • GULAG • Kerker • Landschaft • Musik • #ohnefolie • ohnefolie • Piano • Reise • Revolution • Russland • Schnee • Zarin |
ISBN-10 | 3-552-07219-5 / 3552072195 |
ISBN-13 | 978-3-552-07219-0 / 9783552072190 |
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