Ungarn in der Nußschale (eBook)
271 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75803-4 (ISBN)
Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller György Dalos fängt in seinem prägnanten, brillant geschriebenen Überblick die mehr als tausendjährige Geschichte seines Landes ein - von den Tagen der Landnahme im 10. Jahrhundert, als die noch nomadisierenden Magyaren weite Teile Europas in Angst und Schrecken versetzten, bis in die Ära Orbán, da ein zunehmend autokratischer Regierungschef die freiheitlich-demokratischen Kräfte seines eigenen Volkes einschüchtert.
György Dalos ist freier Autor und Historiker. 1995 wurde er mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
I. Blutige Anfänge
Phantombilder und Eigenbild. Die Landnahme
Eine der frühesten schriftlichen Erwähnungen der Ungarn bezieht sich auf die Jahre um 870 unserer Zeitrechnung. Der persische Chronist Dshaihani berichtet über sie Folgendes: «Die Ungarn sind eine Art der Türken. Ihr Anführer reitet mit 20 000 Kriegern aus. Der Name ihres Anführers lautet Kende. Dies ist jedoch nur der nominelle Titel ihres Königs, da derjenige, der als König über sie herrscht, Gyula genannt wird. (…) Die Ungarn haben Zelte (gewölbte Jurten) und ziehen mit dem sprießenden Gras und der grünen Vegetation. Ihr Reich ist ausgedehnt (…) Eine Grenze ist das Meer von Rum [das Schwarze Meer], in das zwei Flüsse münden. Ihre Wohngebiete liegen zwischen diesen beiden Flüssen [gemeint sind vermutlich die Wolga und der Don]. Nahen sich die Wintertage, ziehen sie näher an jenen Fluß, in dessen Nähe sie sich gerade befinden. Dort bleiben sie den Winter über und fischen. Der Winteraufenthalt ist dort für sie angenehmer.»
Die als Feueranbeter geschilderten «Türken» – sie werden erst später als «Oguren», «Ugren» oder «Magyaren» identifiziert – sind zu dieser Zeit, wie alle Stämme des Ostens, unterwegs. Sie kommen aus dem Gebiet zwischen der nördlichen Wolga und dem Ural, lassen sich zunächst in der geographisch oben umrissenen Lebedia nieder und ziehen bald nach Etelköz (Zwischenstromland) am Dnjepr und Prut weiter, um von dort aus endgültig in das Karpatenbecken zu gelangen.
Die Schilderung des Persers Dshaihani ist ebenso eine Momentaufnahme wie diejenige des Arabers Ibn Rusta, der die Ungarn allerdings auf einer höheren Stufe der Zivilisation sieht: «Wenn die Ungarn in Kertsch ankommen, halten sie mit den ihnen entgegenkommenden Byzantinern einen Markt. Sie verkaufen ihnen Sklaven und kaufen byzantinischen Brokat, Wollteppiche und andere byzantinische Waren. Die Ungarn sind ansehnlich und schön anzusehen. Ihre Kleidung ist aus Brokat. Ihre Waffen sind mit Silber beschlagen und mit Perlmutt ausgelegt.» Merken wir uns diese Worte, denn sie bleiben für lange Zeit die letzten, in denen das kleine Nomadenvolk halbwegs lobend erwähnt wird.
Die Ungarn gehörten damals zu den zahlreichen Volksstämmen der Region, die sich ständig auf der Flucht befanden. Sie flüchteten voreinander, vor dem Hunger, vor der Kälte, der Hitze und dem Untergang. Der letztere holte dann die meisten doch ein. Fast alle Protagonisten der Völkerwanderung – Chasaren, Kabaren, Sawarden, Petschenegen sowie die damaligen Bulgaren – überlebten diesen dramatischen «struggle for life» nicht und haben sich bestenfalls in der historischen Überlieferung – wohl in den Namen einiger Siedlungen – erhalten. Die Vertreter der großen Kulturnationen – Araber, Perser und Byzantiner – blickten auf sie mit einer Mischung aus Neugier und Befremdung herab.
Für den byzantinischen Kaiser Leo den Weisen verkörperten die Ungarn anno 904 den Inbegriff der militärisch organisierten Barbarei. In seiner Taktik widmet er ihnen ein ganzes Kapitel: «Die Stämme der Ungarn sind Späher und verhehlen ihre Absichten, sind unfreundlich und unzuverlässig, und da sie einen ständigen Drang nach Reichtümern verspüren, brechen sie den Eid, halten auch keine Verträge, geben sich auch mit Geschenken nicht zufrieden, sondern bevor sie das Gegebene annehmen würden, zerbrechen sie sich den Kopf über Arglist und Wortbruch. (…) Geschickt kundschaften sie die geeignete Gelegenheit aus und sind bemüht, ihre Feinde nicht so sehr mit ihrem Arm und ihrer Streitkraft zu besiegen, sondern eher durch Arglist, Überfall und Raub des Lebensnotwendigen.»
Wir haben keinen Grund, an der Chrarakterisierung durch den weisen Herrscher (886–912) zu zweifeln. Vielmehr stellt sich die Frage: Wieso konnten die Ur-Ungarn, diese heimtückischen Regelverletzer und Spielverderber, anders als die ihnen ebenbürtigen Nomaden zwischen der Wolga und der Donau, Wurzeln schlagen? Wie ist es ihnen gelungen, letztendlich das hochzivilisierte persische, arabische und byzantinische Reich zu überleben? Steckt dahinter eine göttliche Fügung, die Genialität der Stammesführer oder eine historische Notwendigkeit? Die Antwort auf diese Frage macht einen noch heute – wie Kleider die Leute – zum Christen, Nationalisten oder (horribile dictu!) Marxisten. Meinerseits neige ich als Historiker am ehesten zur letzteren Weltdeutung, doch möchte ich sie keineswegs als endgültige Wahrheit bezeichnen.
Am wenigsten glaube ich daran, daß bei der Rettung der Magyaren die von Dshaihani apostrophierten 20 000 Krieger, überhaupt Kriegslust oder -list eine relevante Rolle gespielt haben. Imperien, die weitaus besser mit allen damals modernen Mitteln der Verteidigung und des Angriffs ausgestattet waren, sind heute nur noch Tradition. Vielmehr waltete über das Geschick des kleinen Nomadenvolkes der Zufall.
Genauer gesagt handelte es sich um zweierlei Zufälle. Erstens wurden die Ungarn durch die rivalisierenden Stämme mehrere tausend Kilometer westwärts von ihrem ursprünglichen Standort vertrieben. Zweitens erreichten sie das Karpatenbecken zu einer Zeit, als weder das Frankenreich noch die Lombardei oder Byzanz aufgrund ihrer inneren Probleme imstande waren, die ehemalige römische Provinz Pannonia unter Kontrolle zu halten. Zwischen Donau und Theiss lebten damals schwach strukturierte awarische und slawische Volksgruppen, die den Eindringlingen keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen konnten. Dies ist wichtig zu erwähnen, denn besonders im stürmischen 20. Jahrhundert zweifelten die Ungarn nicht ohne Grund daran, ob die Auswahl des neuen Heimatortes exakt am Kreuzweg zwischen Ost und West wirklich optimal gewesen ist.
Den ethnisch und sprachlich verwandten Finnen schob man eine ironische Legende in den Mund, der entsprechend die beiden Völker während der gemeinsamen Wanderung in der Steppe plötzlich zwei Wegweiser mit der Inschrift «Ungarn» und «Finnland» erblickt hätten und die Magyaren, die, ganz anders als die gebildeten Kinder von Suomi, Analphabeten gewesen seien, sich für die erste Lösung ausgesprochen hätten.
Diese skeptische Auffassung reflektierte jedoch eine viel spätere Konstellation. Die Chronisten des Mittelalters bezeichneten die Tiefebene im Donautal vielmehr als ein Kanaan, in dem Milch und Honig flossen, und auch das Volk, das dieses Paradies erobert hatte, als eines von ganz edler Herkunft. Simon von Kézai, der Hoferzähler des 13. Jahrhunderts, führte den Stammbaum der Ungarn direkt auf die Hunnen zurück – einer der populärsten Männernamen in Ungarn ist bis heute Attila. Abenteuerlichere, um nicht zu sagen, dümmere Theorien entdecken im Eifer der Ahnenforschung das Sumererreich, Japan oder gar direkt den Garten Eden.
Der Notar von König Béla III., Anonymus, dessen sitzende Statue mit den unergründlichen Gesichtszügen im Budapester Stadtpark besichtigt werden kann, suchte in seinen Gesta Ungarorum die Wurzeln der Nation bei den Skyten und sogar beim Geschlecht Magogs, einem Urenkel des Japhet. Auch die Schulbücher des romantischen 19. Jahrhunderts sparen nicht mit biblischen Parallelen. So führt der hochbetagte Fürst Álmos das Volk, wie seinerzeit Moses die Juden, nur bis zur Grenze des Gelobten Landes und überläßt das Werk der «Landnahme» seinem Sohn Árpád:
«Die Reise unserer Vorfahren» – lesen wir in einem Lehrbuch aus dem Jahre 1845 – «dauerte lange und war reich an Verwicklungen; da sie aber an Mühen, Kälte und Hitze gewöhnt waren, trugen sie jedwede Last leicht. (…) So erreichten sie die Karpaten, über die sie Árpád hinwegführte, und im Jahre 896 ließ er sie vierzig Tage lang in Munkács [heute Mukačevo, Ukraine] ausruhen. 896 war jenes heilige Jahr, als Árpád (…) zum ersten Mal die vor seinen Füßen liegende lächelnde Niederung, die zukünftige süße Heimat erblickte. Endlich hatte das umherirrende ungarische Volk eine eigene Heimat.»
Kurz vor Álmos’ Tod sollen die Fürsten der sieben Stämme ihm und seinen Nachfahren ewige Treue geschworen haben. Dies geschah in der Form eines sogenannten Blutvertrags, indem die Häuptlinge – so lesen wir bei Anonymus – ihr Blut in ein Gefäß rinnen ließen und einstimmig erklärten: «Vom heutigen Tag an wählen wir dich zu unserem Anführer und Befehlshaber, und wohin dich dein Glück führt, dorthin folgen wir dir.» Zu demselben Legendenkreis gehören noch die Versammlung von Pusztaszer, bei der das Land «in schöner Eintracht» unter den Fürsten verteilt worden ist, sowie die von den Malern ebenfalls bevorzugte Szene von Árpáds «Schilderhebung», das heißt, seine rituelle Wahl zum Großfürsten der Magyaren.
Die Streifzüge
Entgegen den literarisierenden Schilderungen erlebten die Ungarn, deren Bevölkerungszahl zu dieser Zeit die Historiker auf 500 000 schätzten, die sogenannte Landnahme bestenfalls als eine Zwischenstation in ihrer langen...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2020 |
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Reihe/Serie | Beck Paperback | Beck Paperback |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Gegenwart • Gesamtdarstellung • Geschichte • Kultur • Mitteleuropa • Politik • Sachbuch • Sprache • Ungarn |
ISBN-10 | 3-406-75803-7 / 3406758037 |
ISBN-13 | 978-3-406-75803-4 / 9783406758034 |
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