Die Waage im Ungrund oder Aristoteles als konservativer Revolutionär -  Timo Kölling

Die Waage im Ungrund oder Aristoteles als konservativer Revolutionär (eBook)

Naturrechtliches Fragment
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2020 | 1. Auflage
96 Seiten
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978-3-7519-8724-0 (ISBN)
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Es ist Tradition deutschen Rechtsdenkens, in Krisenzeiten die Wiederkehr des abendländischen Naturrechts zu beschwören. Was aber das Naturrecht sei, wird nicht ausreichend bedacht. Schuld hieran trägt die Ungenauigkeit des neuzeitlichen Naturbegriffs. Sie widerspricht der Genauigkeit des Denkens Aristoteles', dem »Vater« des Naturrechtsgedankens. Der Verfasser der »Metaphysik«, einem der Ausgangsbücher der abendländischen Philosophie, konnte das Recht nicht auf die Natur gründen, wie der Begriff »Naturrecht« es nahelegt, weil es in der Antike »die Natur« als solche nicht gab. Was später im Lateinischen »die Natur« genannt wurde, konnte nur deshalb in den Vorstellungsraum eintreten, weil zuvor Aristoteles im Recht die ursprünglichste aller Ordnungen erkannt hatte. Damit wurde er zum konservativen Revolutionär des griechischen Denkens. Er setzte dem Phantasma der von Parmenides begründeten Ontologie, auf die sich »das Abendland« gründen sollte, eine ältere Tradition entgegen: die eurasische Gnosis. Das Naturrecht gründet nicht das Recht auf die Natur, sondern vielmehr die Natur auf das Recht. Es ruht nicht einem metaphysischen Grund auf, sondern ist die Waage im Ungrund. Das griechische Wort »Physis« meint anderes und mehr als »Natur«. In diesem Punkt knüpft das »Naturrechtliche Fragment« an Heideggers Auslegung des Physis-Begriffs an. »Physis« und »Energeia«, »Kinesis« und »Entelecheia« - für jedes dieser vier Grundwörter der aristotelischen Metaphysik wird in Köllings Traktat ein deutsches Wort gesucht und gefunden, das den ursprünglichen Sinngehalt präzise abbildet. Im Zusammenspiel der vier Wörter entsteht die erste und für alle Zeiten prägende abendländische Erkenntnis- und Rechtsfigur: die der Grenze. Europa ist Grenzland, das seine Ordnung auf die Figur der Grenze baut - oder es ist nicht. In der Denkfigur der Grenze besitzt die politische Organisation der Ordnung, die für Europa zur Überlebensfrage geworden ist, ihr tiefstes und ältestes Fundament. Europa ist Grenze, weil es der Westen des Ostens ist.

Timo Kölling, 1978 in Ostwestfalen geboren und dort aufgewachsen, ist Lyriker und Philosoph. Tradition und Bruch, Schrift und Rettung, Grenze und Landschaft, Selbstsein und Fremdheit sowie immer wieder das Gehen und das Wandern gehören zu den Themen seiner Dichtung und Deutung.

I.
NICHT DIE NATUR IST DER GRUND,
SONDERN DAS RECHT IST DER UNGRUND
DES NATURRECHTS


Was bedeutet das griechische Wort phýsis? Heidegger hat ihm eine Studie gewidmet, von der sich die folgenden Bemerkungen in einigen wesentlichen Punkten unterscheiden, ohne verleugnen zu können und zu wollen, was sie dem größten Philosophen des 20. Jahrhunderts verdanken.

Wir finden phýsis zumeist mit »Natur« übersetzt. Diese Übersetzung wird aber nicht der Bedeutungsfülle gerecht, die dem Wort in der griechischen Sprache zukommt. Unser Begriff »Natur« findet erst seit dem 16. Jahrhundert als Ableitung aus dem lateinischen natura Anwendung, wo das Wort das Gebärende oder Hervorbringende bezeichnet, was auch eine der Bedeutungen ist, die das Wort im Griechischen ausdrücken kann. Im Gegensatz zu einem rationalistisch geprägten Naturbegriff, der in der Neuzeit entweder das »Wesen« einer Sache, mehr noch aber die Summe aller »objektiv« erfaß- und erforschbaren Gegenständlichkeiten stofflicher und unstofflicher Art bezeichnet, liegt der Schwerpunkt im Lateinischen auf dem Gebären oder Hervorbringen als Tätigkeit oder Prinzip: natura wird gedacht als natura naturata, natura naturans.

Es ist bezeichnend, daß dem Deutschen eine verbale Ab- oder Herleitung des Wortes »Natur« fehlt. Daraus wird deutlich, daß es sich von vornherein um eine begriffliche Konstruktion handelt, welcher kein reales Erleben entspricht. Nur als Abstrakta der extremsten Art konnten »die Natur«, »das Natürliche« usw. im Deutschen zu unbedingten Wertbegriffen erhoben werden (ein Pleonasmus, gewiß, denn jeder Wert als Wert tritt als unbedingte Forderung auf). Sie wurden zu Wertbegriffen von der höchsten Dignität und sind es noch heute, wenn auch in anderer Ausprägung als nach dem Zweiten Weltkrieg.

Damals wurde die Wiederkehr des abendländischen Naturrechts beschworen, um die rechtspositivistischen und, wie man es sah, werterelativistischen Elemente des Nationalsozialismus auszuheilen. Heute dagegen wird der Rechts- als Gesetzespositivismus benutzt, um bestimmte Vorstellungen von einem »natürlichen Leben« festzuschreiben. Um welche Vorstellungen es sich handelt, hängt davon ab, welche Interessengruppe sich gerade in der Position befindet, ihren Werten die Macht von Gesetzen zu verleihen.

Die »Tyrannei der Werte«, die die gesamte westliche und vielleicht nicht nur die westliche Welt ergriffen hat (wer kennt schon alle die Gestalten einer Tyrannei, wenn diese noch dabei ist, sich zu konsolidieren) – in Deutschland wäre es nicht möglich gewesen, diese Tyrannei zu errichten, wenn es nicht mit Hilfe des Naturbegriffs geschehen wäre, im Medium der deutschen Natur- und Natürlichkeitsbehauptung. Von allen möglichen Ausprägungsformen der Wertetyrannei ist diese deutsche vielleicht die unberechenbarste. Die Unberechenbarkeit ist die des Naturbegriffs selbst. Er kann für einander diametral Widersprechendes in Anspruch genommen werden.

So besteht zum einen die Möglichkeit, das Ideal des »natürlichen Lebens« zur Proklamation eines schrankenlosen Individualismus der Selbstverwirklichung zu gebrauchen. Diese (in der gesamten westlichen Welt verbreitete) Ideologie ist paradoxerweise wie keine zweite geeignet, den Menschen zum Opfer von spätkapitalistischer Ausbeutung, sozialstaatlicher Fürsorge und positivistischem Gesetzesterror zu erniedrigen. Hier wird die unüberwindliche Macht des Fleisches, die im Menschen kein fest eingrenzbarer Bereich-an-sich qua Sexualität ist, sondern das gesamte Leben und alle Wahrnehmungsweisen mitbestimmt, zum Zweck der Entfesselung einer Revolution in Permanenz eingesetzt und verstärkt. Die Macht des Fleisches wird zur Triebkraft der immer weiter sich beschleunigenden Verbeweglichung und Entwurzelung des Daseins im Zeichen einer waste economy apokalyptischen Ausmaßes. Wir nennen einen Staat oder einen Staatenbund, der als apokalyptischer Beschleuniger auftritt und versucht, seine Bürger zu besinnungslosen Funktionselementen des Beschleunigungsbetriebs zu erziehen, den Tierstaat.

Die andere Möglichkeit der »Verwertung« des Naturbegriffs ist, zum einzigen Reservat des Natürlichen die »Ganzheiten« des Volkes, der Familie, der Vereine, der Parteien, der Religionsgemeinschaften, der »Gemeinschaft« als solcher auf allen Ebenen ihrer Organisation zu erklären. Insofern dies eben im Zeichen von Werten geschieht (des Natürlichen als Wert), ist der Aspekt der Tradition, der heilen Überlieferung, dabei weniger wichtig, als es den Anschein hat. Zwar werden hier in der Regel, anders als im ersten Fall, ausdrückliche Bezüge zum Naturrecht hergestellt. Aber die Gefahr eines solchen Holismus der »Kultur« ist, daß individuelle Freiheitsansprüche auch dort geopfert werden, wo diese selbst sich naturrechtlich zu legitimieren wissen. Es wird dann erklärt, die Freiheit des Einzelnen realisiere und erfülle sich erst in der Freiheit des Kulturganzen und der einzelnen Ganzheiten; der deutsche Bürger tritt auf als Neuidealist.

Der Neuidealist ist in seiner verzweifelten Anhänglichkeit an eine Epoche, die längst vorbei ist, und die auch nicht wiederkehren wird (es sei denn als Witz, denn auch die Geschichte macht Witze), eine bemitleidenswerte Erscheinung. Harmlos ist er nur, solange man ihm seinen Traum von einer Rückkehr ins heile bürgerliche Zeitalter nicht nimmt. Einige werden finden, daß dies Grund genug ist, dem Traum des Neuidealisten das schwächliche Lebenslicht auszublasen. Der deutschidealistische Träumer macht nämlich, um wenn schon nicht das Erträumte, so wenigstens den Traum zu retten (der alles ist, was er hat), jeden furor teutonicus mit. Dabei bleibt die Antwort auf die Frage, worin das bürgerliche Zeitalter denn das heile gewesen sein soll, das Rätsel seiner Repräsentanten. Da das nachbürgerliche Zeitalter bis heute im wesentlichen nur der Verwesungsprozeß des bürgerlichen ist, lassen sich, sofern man echtes Interesse an der Logik der Leiche mitbringt, Rückschlüsse ziehen, die nicht zum Vorteil des Bürgers ausfallen. Einmal mehr erfüllt sich das Geschichtsgesetz, wonach die unausgetragenen Antagonismen eines Zeitalters dem nächsten dessen Form und dessen Fragen stiften.

Als es noch Geisteswissenschaften gab, wurden jene Geisteswissenschaftler, die Neuidealisten waren, ihrer holistischen Denkweise gemäß zu regelrechten »Ganzheitsforschern« (in Österreich hat es sogar, in der Spätzeit jener Epoche, eine »Zeitschrift für Ganzheitsforschung« gegeben). Aber auch als Naturwissenschaftler waren die Neuidealisten nicht untätig und machten sich, von Goethe-Gedichten beflügelt, auf die Suche nach der Einen Weltsubstanz. Dieses alberne Spektakel verliert sein Wunderliches, wenn man sich die Figur des deutschen Professors vergegenwärtigt, wie es sie noch heute gibt. Was wäre der Professor ohne seine Professorenreligion und ohne sein Priestergehabe?

Der heutige Neuidealist ist sympathischerweise praktischer gesinnt, politischer geprägt. Er beschäftigt sich mit reellen Problemen, für die er idealistische Lösungen sucht. Das ist ein Fortschritt, denn die idealistischen Lösungen der alten Neuidealisten galten rein ideellen Problemen. Die Kehrseite dieses Fortschritts ist die Entwertung des Begrifflichen und des Theoretischen. Der heutige Neuidealist huldigt legitimerweise und mit religiöser Inbrunst den Rechtsgestalten der Ehe und der Familie, aber er tut es in aller Regel, ohne für seinen Fortpflanzungskult einen anspruchsvolleren begrifflichen Überbau als den des »Lebens« zu benötigen, welches es zu »schützen« gilt. Das Leben selbst in seinen Grundlagen wird also für gefährdet gehalten, und in gewisser Weise – wer will es bestreiten? – stimmt das auch; der revolutionäre Prozeß hat jetzt tatsächlich dieses Stadium erreicht. Gegen die Bemühungen des Neuidealisten um ein »konservatives Familienbild« wäre also wenig zu sagen, wenn im Zentrum etwa des Kampfes gegen die sogenannte Gender-Ideologie – einem der furchtbarsten Fabrikate jetztzeitlicher Totalverblödung – die klare Einsicht in die Notwendigkeit einer Stillstellung des revolutionären Prozesses in allen seinen Aspekten stünde.

Aber wenn dem Neuidealisten eine Begabung fehlt, so ist es die geschichtsphilosophische. Gewiß rächt sich hier die Entgegensetzung von Natur und Geschichte, die nicht so alt ist, wie immer behauptet wird. Sie gehört zu den Erfindungen des 19. Jahrhunderts, welches die Ewigkeit der Naturordnung erfinden mußte, weil das Jahrhundert der Aufklärung, das 18., die Heilsgeschichte in Geschichte umgedeutet hatte. Man könnte sogar von einer strengen Analogie der Umdeutungen sprechen: die aufklärerische Umdeutung von Heilsgeschichte in Geschichte wiederholt sich in der gegenaufklärerischen Umdeutung des Naturrechts in eine ins Ewige ausgespiegelte säkularisierte Naturordnung. Das Naturrecht ohne diese Naturordnung zu denken, gedanklich also hinter das 19. Jahrhundert zurückzukommen...

Erscheint lt. Verlag 29.7.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Metaphysik / Ontologie
ISBN-10 3-7519-8724-X / 375198724X
ISBN-13 978-3-7519-8724-0 / 9783751987240
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