Der jiddische Witz (eBook)

Eine vergnügliche Geschichte

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
172 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75474-6 (ISBN)
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Der jiddische Witz ist mehr als die Summe der Witze, mit denen Ostjuden über sich selbst lachten, er ist Geist, «esprit», ja schwarzer Humor angesichts einer absurden Luftmenschen-Existenz. Der israelische Schriftsteller und Germanist Jakob Hessing erschließt kurzweilig das ironische Potential der jiddischen Sprache und erklärt, warum jiddischer Witz und jiddische Literatur aufblühten, als das Ostjudentum seiner Vernichtung entgegen ging. So ist sein Buch eine vergnügliche Geschichte kurz vor dem Abgrund - ganz wie der jiddische Witz selbst.
Witze und Anekdoten in jiddischer Sprache gewähren uns Einblick in die alte, versunkene Welt der Schtetl, von der auch die drei großen Klassiker der jiddischen Literatur - Mendele Moícher Sfórim, Scholem Alejchem und Jizchok Leib Perez - erzählen. Sie haben den Witz des Jiddischen in Kunst verwandelt. Jakob Hessing erschließt kurzweilig das ironische Potential der jiddischen Sprache und zeigt, warum jiddische Witze ihre Hintergründigkeit verlieren, wenn man sie ins Deutsche übersetzt. Sein meisterhaft geschriebenes Buch lässt uns lachen, schmunzeln, staunen und am Ende bedauern, dass die vergnügliche Geschichte nicht weitergeht.

Jakob Hessing, Germanist und Schriftsteller, wurde 1944 im Versteck bei einem polnischen Bauern geboren, wuchs in Berlin auf und emigrierte 1964 nach Israel. Bis zu seiner Emeritierung 2012 war er Professor und Leiter der Germanistischen Abteilung an der Hebräischen Universität Jerusalem. Durch Romane, Essays, Übersetzungen aus dem Hebräischen und Zeitungsbeiträge ist er einer größeren Leserschaft bekannt.

Prolog

Die verschwiegene Sprache


Gedanken über das Jiddische

Die Welt des Ostjudentums, von der in diesem Buch die Rede sein wird, gibt es nicht mehr. Ich habe nie in ihr gelebt, denn als ich geboren wurde – im polnischen Versteck, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs –, war ihr Untergang schon besiegelt. Und dennoch bin ich mit ihr verbunden, denn meine Eltern und andere Verwandte, die die Schoah überlebt hatten, waren Ostjuden und nahmen noch etwas aus dieser Welt mit, als sie bald darauf vor den Sowjets flohen und sich in Berlin zusammenfanden.

In West-Berlin: Das zerstörte Deutschland war geteilt, die einstige Hauptstadt des Dritten Reiches wurde zur Nahtstelle der Machtblöcke, die sich nach dem Krieg gebildet hatten, und die Nähe von Ost und West mag die jüdischen Flüchtlinge angezogen haben. Mein Vater und andere aus meiner Familie beherrschten das Russische, ich erinnere mich noch dunkel daran, dass sie vor dem Mauerbau oft in Ost-Berlin zu tun hatten, und vielleicht hat das Gemisch der Kulturen sie an die Welt erinnert, aus der sie stammten.

Das alles denke ich mir im Rückblick auf diese ferne Zeit, und über Spekulationen gelangen meine Gedanken nicht hinaus. Ich kam damals bald in die deutsche Grundschule und später ins Gymnasium, ich wuchs unter Deutschen auf und wurde, ohne dass der Vorgang meiner Verwandlung mir bewusst werden konnte, selbst zum «Deutschen».

So kam es, dass auch die deutlichste Spur meines Ursprungs sich zu verlieren begann – das Jiddische. Zwar hörte ich es bei meinen Eltern und Verwandten und verstand es auch immer, aber ich entfernte mich von ihm, nicht nur in Deutschland. Bald nach dem Abitur ging ich nach Israel und begann in einer zweiten Sprache zu leben, dem Hebräischen. In meiner Lebensgeschichte wiederholte sich, was das Schicksal des Jiddischen auch historisch bestimmt hat: Es wurde vom Deutschen und vom Hebräischen verdrängt, den beiden «Kultursprachen», denen nach Maßgabe der einen oder anderen Ideologie der Vorrang vor dem verächtlich «Jargon» genannten Jiddisch der Ostjuden gebührte.[1]

Wenn ich hier zu diesem Ursprung zurückkehre, so kann der Grund dafür nicht die Nostalgie sein. Ich bin mir keines Gefühls bewusst, dass es in meiner Vergangenheit eine andere, eine «bessere» Welt gegeben hätte, nach der mich Sehnsucht erfüllt. Auch meine Eltern oder andere Vorfahren haben mir ein solches Gefühl nicht vermittelt. Die Jahre, die meiner Geburt vorausgegangen sind, waren zu schrecklich, und die Schatten, die sie geworfen haben, zu dunkel, um das Vergangene in einem vergoldeten Licht der Erinnerung aufleuchten zu lassen.

Im 20. Jahrhundert hat die an Erschütterungen nicht arme Geschichte der Juden ihre tiefste Erschütterung erfahren. Manès Sperber (1905–​1984) berichtet davon in All das Vergangene, seiner dreiteiligen Autobiographie. Er erzählt von seiner Kindheit in Zablotow, dem Schtetl in Ostgalizien, in dem er orthodox erzogen wurde. Er erzählt, wie er im Ersten Weltkrieg nach Wien kam und den Glauben aufgab, wie er von den Nazis in Berlin als Kommunist verhaftet wurde und im Gefängnis saß, später mit dem Kommunismus brach und schließlich nach Frankreich floh, wo er die zweite Hälfte seines Lebens verbracht hat.

Es ist eine Biographie voller Bruchstellen, die Sperber, ein bekannter Individualpsychologe, gut zu beschreiben und zu ergründen weiß. Einer dieser Brüche aber bleibt unsichtbar: Als Kind hat er in Zablotow Jiddisch gesprochen, doch das wird nirgends deutlich gesagt. Es erklingt nur in dem einen oder anderen Wort, das er wie beiläufig einfließen lässt, und an einer einzigen Stelle kommt er darauf zu sprechen:

Damals [kurz vor dem Ersten Weltkrieg] erschienen auch die vielen Bände der Gesamtausgabe der Werke Scholem Alejchems. Der Briefträger, der sie ins Haus brachte, verständigte am gleichen Tage die Freunde meines Vaters, die sich dann abends bei uns versammelten. Der eine oder andere las die besten Stücke vor, meist Monologe, kurze Erzählungen, komische Szenen. Man blieb bis spät in die Nacht […]. Ich begann erst später Jiddisch zu lesen, daher blieben Scholem Alejchem und die beiden anderen Klassiker der jiddischen Literatur, Mendele Moícher-Sfórim und Jitzchok Lejb Perez, während mehrerer Jahre jene Schriftsteller, deren Werke ich kannte, ohne sie selbst gelesen zu haben.[2]

Die Sprache, die das Kind im Chejder, in der orthodoxen Knabenschule, las, war das Hebräische der heiligen Schriften. An mehreren Stellen erwähnt Sperber, dass er die Tora-Abschnitte, die in der Synagoge wöchentlich gelesen wurden, zu «übersetzen» hatte, er sagt aber nicht, dass die Zielsprache dieser Übersetzung das Jiddische war. Und auch später, als er im Ersten Weltkrieg nach Wien kommt, hören wir nicht, dass es hier einen Sprachenübergang gegeben hat. Von Anfang an scheint der Neunjährige des Deutschen mächtig zu sein, als hätte er immer in Wien gelebt.

Erst am Ende seiner Autobiographie, auf den letzten Seiten des dritten Bandes, berührt Sperber das Sprachenproblem. Er hat, so lesen wir, erst zu schreiben begonnen, als er schon in Frankreich lebte, und musste

eine Frage lösen, die für mein Schaffen und meine Laufbahn von größter Bedeutung war: die Frage der Sprache. Da es mir psychisch unmöglich war, mich ganz vom Deutschen zu lösen, entschloß ich mich notgedrungen, ein zweisprachiger Schriftsteller zu werden – die Romane deutsch, die Essays hauptsächlich französisch zu schreiben. […]

Seit 1946 war ich Lektor für deutsche Literatur im alten Pariser Verlag Calmann-Lévy […]. Während ich die von ausgezeichneten Germanisten besorgten Übertragungen überprüfte, stellte ich mit Staunen, ja mit Entsetzen fest, wie wenig kongenial die beiden Sprachen sind, so daß sie einander hoffnungslos fremd bleiben. Deshalb erstaunte es mich nicht, daß was immer ich in der einen schrieb, mir selber fremd erschien, sobald ich es in die andere Sprache zu übersetzen begann. Die sprachliche Bigamie bringt gewiß auch viele Vorteile, aber ich mag sie nicht. Es sind die Vorteile eines schicksalhaften Nachteils: der Entwurzeltheit.[3]

Merkwürdig spurlos geht zwischen dem Deutschen und dem Französischen hier das Jiddische unter, Manès Sperbers erste Sprache. Er ist nicht der einzige deutsche Jude, bei dem sich das beobachten lässt. Schon Moses Mendelssohn, der mit seiner Frau noch auf Jiddisch korrespondierte, wollte diese Sprache nicht mehr gelten lassen; der in Wien geborene Martin Buber wuchs bei seinem Großvater in Galizien auf und sprach dort Jiddisch, er erwähnt es aber nirgends; und auch Sigmund Freud, der den Begriff der Verdrängung in den medizinischen Diskurs eingeführt hat, hörte bei seinem Vater noch das Jiddische. Wir werden später sehen, wie schwer er es damit hatte.

Im Februar 1912 hält Franz Kafka eine kleine Rede über die jiddische Sprache. Anlass ist ein Leseabend, an dem der Schauspieler Jizchak Löwy jiddische Gedichte vortragen wird, und Kafka will das Publikum darauf einstimmen. Die Juden in Prag fühlen sich dem deutschen Kulturkreis zugehörig, sie sind das Jiddische nicht mehr gewöhnt, und Kafka hat den Widerstand dagegen schon im eigenen Hause zu spüren bekommen. Mit einer Theatergruppe aus Lemberg führte Löwy jiddische Stücke auf, Kafka hatte sich mit ihm angefreundet, und seinem Vater, der sich in Prag zu den höheren deutschen Kreisen zählte, war solcher Umgang unangenehm.

Kafka ist zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt, und wie viele junge Juden seiner Generation spürt er eine Not. Im Osten Europas finden längst Pogrome statt, die die Juden in die Flucht treiben, aber im kultivierten Prag glaubt man sich vor ihnen noch sicher. Bald wird er seine berühmten Werke schreiben, in denen es eine Sicherheit nicht mehr gibt, und in seiner Rede deutet er davon schon etwas an. «Ich habe nicht eigentlich Sorge um die Wirkung, die für jeden von Ihnen in dem heutigen Abend vorbereitet ist», sagt er zu seinem Publikum, «aber ich will, daß sie gleich frei werde, wenn sie es verdient. Dies kann aber nicht geschehen, solange manche unter Ihnen eine solche Angst vor dem Jargon haben, daß man es fast auf Ihren Gesichtern sieht.»[4]

Mit einer feinen Ironie benutzt auch er das Wort «Jargon», mit dem die deutschsprachigen Juden das Jiddische herabzusetzen suchen; doch zugleich verleiht er ihm eine Macht, die den Zuhörern Angst einflößt. «Von denen, welche gegen den Jargon hochmütig sind, rede ich gar nicht», fährt er fort. «Aber Angst vor dem Jargon, Angst mit einem gewissen Widerwillen auf dem Grunde ist schließlich verständlich, wenn man will.» (188)...

Erscheint lt. Verlag 27.8.2020
Reihe/Serie Beck Paperback
Beck Paperback
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Absurd • Geschichte • Hintergründigkeit • Humor • Jiddisch • Jizchok Leib Perez • Juden • Lachen • Literatur • Mendele Moicher Sforim • Ostjuden • Scholem Alejchem • Sprache • Witz • YIDDISCH
ISBN-10 3-406-75474-0 / 3406754740
ISBN-13 978-3-406-75474-6 / 9783406754746
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