Normal, gestört, verrückt (Wissen & Leben) (eBook)
192 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12067-7 (ISBN)
Peter Schneider studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Er lebt in Zürich und arbeitet dort als Psychoanalytiker in eigener Praxis. Von 2004 bis 2014 war er Privatdozent für Psychoanalyse sowie von 2014 bis 2017 Professor für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Universität Bremen. Seit 2014 ist er Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich und seit 2017 Lecturer for History and Epistemology of Psychoanalysis an der International Psychoanalytic University in Berlin. Außerdem betätigt er sich seit vielen Jahren als Satiriker (SRF3 und Sonntagszeitung) und Kolumnist (Tagesanzeiger und Bund). Er ist Autor zahlreicher Bücher.
Peter Schneider studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Er lebt in Zürich und arbeitet dort als Psychoanalytiker in eigener Praxis. Von 2004 bis 2014 war er Privatdozent für Psychoanalyse sowie von 2014 bis 2017 Professor für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Universität Bremen. Seit 2014 ist er Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich und seit 2017 Lecturer for History and Epistemology of Psychoanalysis an der International Psychoanalytic University in Berlin. Außerdem betätigt er sich seit vielen Jahren als Satiriker (SRF3 und Sonntagszeitung) und Kolumnist (Tagesanzeiger und Bund). Er ist Autor zahlreicher Bücher.
1 Dr. House und Dr. Frances
Diagnosen stellt man sich gerne nach dem Doktor-House-Modell vor: Ein Mensch ist krank, und fieberhaft sucht der Experte nach der richtigen Diagnose. Denn um jemanden heilen zu können, muss man erst einmal wissen, unter welcher Krankheit er leidet. Es funktioniert wie im Märchen von Rumpelstilzchen: Ist der richtige Name für die Krankheit gefunden, ist deren Macht (hoffentlich) gebrochen. Die Diagnose vermittelt zwischen der Tatsache der Krankheit auf der einen und den Verfahren der Therapie auf der anderen Seite. Sie macht die Krankheit, die unabhängig von Diagnose und der Möglichkeit einer Therapie besteht, erst zugänglich für die Behandlung.
Viele somatische Diagnosen entsprechen diesem Modell. Gallensteine und Beinbrüche sind ziemlich einfach zu diagnostizieren und somit recht handfeste medizinische Tatsachen. Multiple Sklerose oder Epilepsie sind es weniger, wenngleich sie für die Betroffenen eine sehr gravierende Beeinträchtigung darstellen. Verlassen wir aber das Feld der somatischen Diagnosen und betreten das der psychiatrischen, verliert dieses Modell Krankheit – Name – Therapie an Überzeugungskraft.
Besonderheit psychiatrischer Diagnosen
Psychiatrische Diagnosen sind rein klinische Diagnosen. (Lediglich im Moment noch, verspricht die biologische Psychiatrie schon seit langem.) Epilepsie war einmal eine psychiatrische Diagnose, mit dem Aufkommen der EEG-Diagnostik wurde sie eine neurologische. Für die Schizophrenie, die Aufmerksamkeitsdefizitstörung, die Autismus-Spektrum-Störung, die soziale Phobie, die Palette der Persönlichkeitsstörungen und der Angst- und Zwangsstörungen fehlen die Möglichkeiten, sie durch Biomarker, also Laborwerte, genetische oder neurologische Befunde dingfest zu machen. Dieses Fehlen ist das, was eine klinische Diagnose kennzeichnet.
Anders als bei den somatischen klinischen Diagnosen können psychiatrische Diagnosen nicht durch eine biologische Diagnostik ergänzt, verifiziert oder über den Haufen geworfen werden. Ein Dr. House, der am Ende einer Serienepisode nach langem Hin und Her herausfindet, dass es sich bei der vermeintlichen Zwangsstörung in Wirklichkeit um eine veritable Angststörung handelt und die bisherige Behandlung deshalb vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, wäre so unfreiwillig komisch wie eine Notfallsituation im Flugzeug, bei der die Stewardess über den Lautsprecher aufgeregt fragt, ob ein Psychoanalytiker an Bord ist.
Ist das Spektrum somatischer Diagnosen ausgereizt, bleibt oft die psychiatrische Diagnose als Restdiagnose übrig: Es könnte eben alles auch psychisch sein. Was immer dieses Psychische genau sein mag. Psychiatrische Diagnosen werden deshalb oft so missverstanden, als seien sie »eigentlich« gar keine richtigen Diagnosen und das, was sie diagnostizieren, gar keine richtigen Krankheiten. Diesem Missverständnis dadurch zu begegnen, dass man psychische Störungen zu Krankheiten »wie alle anderen auch« erklärt, führt allerdings ebenso in die Irre. Psychiatrische Störungen und deren Diagnosen sind weder das eine noch das andere, sondern etwas Eigenständiges.
Diagnosen und Krankheitsverlauf
Viele Diagnosen enthalten sowohl Aussagen über die Vergangenheit, die Entstehung einer Krankheit, als auch über die Zukunft, den (wahrscheinlichen) Ausgang einer Krankheit. »Syphilis« ist z. B. eine solche Diagnose. Sie enthält Wissen über die Entstehung dieser Krankheit, über die Formen der Ansteckung sowie über ihren Verlauf in vier zeitlich voneinander getrennten und symptomatisch unterschiedlichen Phasen. Die letzte tritt nach einer weitgehend beschwerdefreien Latenzperiode erst viele Jahre nach der Infektion ein. Dabei wird das zentrale Nervensystem des Infizierten angegriffen. Dieses Stadium endet meist tödlich. Die Diagnose impliziert auch eine Therapie: Syphilis wird durch eine Infektion mit dem Bakterium Treponema pallidum verursacht, die Krankheit kann also durch ein Antibiotikum geheilt werden (Fleck 1980) – allerdings nicht mehr in ihrem letzten Stadium. Ohne das Wissen über die Ätiologie der Syphilis gäbe es keine brauchbare Diagnose; wahrscheinlich nicht einmal eine Vorstellung davon, dass all die Stadien Phasen einer einzigen Krankheit sind.
Beweglicher Charakter von Diagnosen
Bluthochdruck kann das Symptom verschiedener Erkrankungen sein; er ist jedoch auch unabhängig von seiner Entstehung behandlungsbedürftig, weil er zu vielen weiteren Folgeerkrankungen führen kann. Von Zeit zu Zeit ändert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Werte, ab denen hoher Blutdruck als behandlungsbedürftig erscheint. Wird dieser Wert gesenkt, gelten mehr Menschen als krank im Sinne von behandlungsbedürftig, wird er erhöht, werden zuvor kranke Menschen gesund. Dabei handelt es sich nicht um bürokratische Wunderheilungen oder neue »wissenschaftliche« Erkenntnisse über das Wesen des Bluthochdrucks, sondern um Anpassungen, die sich aus neuen Studien zum statistischen Zusammenhang von Blutdruckwerten und, sagen wir, Herzinfarkten ergeben. »Zu hoch« ist ein Blutdruck also aufgrund dessen, was er in der Zukunft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anrichten wird.
Für die Diagnose Bluthochdruck bedarf es allerlei: nicht zuletzt des Wissens um den Blutkreislauf des Menschen, die Funktionsweisen des Herzens und der Blutgefäße, Instrumente, die den Blutdruck messen – und, last but not least, einer Institution, die Werte für einen normalen Blutdruck festsetzt und Behandlungsrichtlinien vorgibt. »Blutdruck« an sich ist weder eine Diagnose noch ein Symptom, sondern eine der Bedingungen für das Funktionieren des menschlichen Organismus.
Man sieht an diesem Beispiel gut, dass Diagnosen aufgrund mehrerer Faktoren zustande kommen. Sie sind nichts, was man an und für sich erkennen kann, wenn man nur mit dem richtigen Gerät in den Menschen hineinschaut. Im Fall der Diagnose Bluthochdruck handelt es sich um eine Mischung aus natürlichen Tatsachen (dem Blutkreislauf), technischen Dingen (Messgeräten für den Blutdruck) und Institutionen (der WHO). Erst mit der Erfindung unkomplizierter und darum massenhaft verfügbarer nichtinvasiver Messmethoden unter Verwendung einer Gummimanschette Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Bluthochdruck zu einer wichtigen Diagnose werden.
Man muss sich den hybriden Charakter von Diagnosen vor Augen halten, um einerseits den falschen Respekt vor ihnen zu verlieren und andererseits neuen und besser begründeten Respekt vor den Mechanismen zu gewinnen, die Diagnosen möglich machen und hervorbringen, aber auch wieder verschwinden lassen können.
DSM-5: Inflation psychiatrischer Diagnosen?
Als 2013 die fünfte Auflage des von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebenen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders erschien, kurz DSM-5 genannt, meldete sich der Psychiater Allen Frances zu Wort und prangerte die Inflation psychiatrischer Diagnosen an (Frances 2013). Frances’ Intervention wurde nicht zuletzt deshalb besonders beachtet, weil er der Vorsitzende der Arbeitsgruppe war, welche die Herausgabe der vorherigen Auflage, des DSM-IV, verantwortet hatte. Zuvor hatte er bereits an der dritten Auflage und deren Revision (dem DSM-III-R) mitgewirkt. Die englische Originalausgabe seines Buches trägt den dramatischen Titel Saving Normal. An Insider’s Revolt against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life, wortgetreu übersetzt: »Das Normale bewahren. Der Aufstand eines Insiders gegen außer Kontrolle geratene psychiatrische Diagnostik, DSM-5, die pharmazeutische Großindustrie und die Medizinalisierung des alltäglichen Lebens.« In der deutschen Version wurde dieser epische Titel verkürzt und entdramatisiert: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen.
Frances’ Buch trifft ein zentrales Unbehagen, das psychiatrische Diagnosen in der Öffentlichkeit wecken: Was ist eigentlich noch normal? Werden unsere Kinder nicht überdiagnostiziert (auf die Diagnose ADHS werden wir später noch zu sprechen kommen) und übertherapiert (z. B. mit Ritalin)? Erfinden die Pharmakonzerne Krankheiten, für ...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2020 |
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Reihe/Serie | Wissen & Leben | Wissen & Leben |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Freud • Gesundheit • Gesundheitssystem • Krankheit • Krankheitsbilder • Mode-Diagnosen • Narzissmus • Persönlichkeitsstörung • Psyche • Psychiatrie • Psychische Gesundheit • Psychisch krank • Psychoanalyse • Psychologie • Psychotherapie • Schizophrenie • Störung |
ISBN-10 | 3-608-12067-X / 360812067X |
ISBN-13 | 978-3-608-12067-7 / 9783608120677 |
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