Ein zweites Leben (eBook)

Peter Engelmann (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
152 Seiten
Passagen Verlag
978-3-7092-5031-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein zweites Leben -  François Jullien
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In diesem Essay lässt François Jullien die Begründer des Taoismus in einen Dialog mit europäischen Denkern treten. Dabei entwickelt er die Idee eines 'zweiten Lebens': Diskret und ohne Bruch findet eine Verschiebung in unserem Leben statt - es trifft nunmehr seine eigenen Entschlüsse und gestaltet sich um. Es belebt sich neu, kommt wieder in Gang, richtet seine Vorhaben und Ziele aus und gibt bislang unergründet gebliebene Möglichkeiten frei. Indem wir unsere Freiheit schrittweise entfalten, aus der Wiederholung heraustreten und Klarheit erlangen, leben wir fortan nicht mehr bloß, sondern beginnen zu existieren.

François Jullien, geboren 1951, lehrte an zahlreichen namhaften Universitäten weltweit. Er wurde 2010 mit dem 'Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken' ausgezeichnet.

François Jullien, geboren 1951, lehrte an zahlreichen namhaften Universitäten weltweit. Er wurde 2010 mit dem "Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken" ausgezeichnet.

II. Geklärte Wahrheiten


Ich habe die Verwandlung, die geräuschlos vor sich geht und von der man nicht spricht – Stille auf beiden Seiten –, die stille Verwandlung genannt. Da sie umfassend und kontinuierlich ist, hebt sie sich vom Lauf unseres Lebens nicht ausreichend ab, als dass man sie sogleich bemerken würde. Dann, nachdem sie sich unaufhörlich weiter verzweigt und verfestigt, beginnt diese Verwandlung, wie eine Schaumspur eines Tages sichtbar zu werden: Endlich kommt ein Ergebnis zum Durchbruch, das unsere Aufmerksamkeit einfordert. Und dieses Hervortreten ist sogar umso geräuschvoller, als wir seine Entwicklung zuvor nicht wahrgenommen haben. Nun geschieht das Hervortreten eines zweiten Lebens aus dem Leben selbst auf folgende Art: Ausgehend vom winzig Kleinen, das sich ansammelt, vollzieht sich eine Biegung, die uns allmählich von dem wegführt, was dann rückblickend, mit gegebenem Abstand, als ein „erstes“ Leben erscheint. Man muss also diesen zweiten Aufbruch im Leben als Gegenteil eines plötzlichen Einbruchs denken und als Gegenteil all dessen, was das Prozesshafte der Erfahrung stören würde: Durch unterirdische Verschiebungen, die sich ohne unser Wissen vollziehen, beginnt eine Neuorientierung, durch stumme Neigung, die der Aufmerksamkeit und folglich dem Willen entgeht. Dann (aber), wenn sie sich hinreichend bestätigt hat, kommen – ausgehend von all den kleinen Verschiebungen, die durch gegenseitige Verstärkung ins Bewusstsein dringen – Entschluss und Verantwortung des Subjekts ins Spiel. Eine „Reform“ des Lebens kann beginnen.

Es handelt sich streng genommen also weder um eine Häutung noch um eine Mutation: Häutung ist zu kontinuierlich organisch, während Mutation die Immanenz dieser Entfaltung durchbrechen würde. Reifung (der ihre Bekundung auf den Fersen folgt: das berühmte „er ist reifer geworden“) gibt ebenso wenig Rechenschaft von dem, was eben innerhalb dieses Prozesshaften zwar nicht gebrochen ist, doch Risse bekommen und damit ein neues Mögliches ausgelöst hat, das zu diesem Kippen führte. Das zweite Leben hält durch Implikation Einzug in das erste, während zugleich ein Freiraum erkennbar wird (entsiegelt wird), der sich davon ablöst. Tatsächlich wird ein Freiraum nur soweit verwirklicht, als man sich nach und nach aus den zugemuteten, zugleich gegebenen und erduldeten, Bedingungen heraushebt und sich „draußen hält“ – das ist es, was ich „ex-istieren“ nennen werde.

Denn einerseits offenbart im Lauf der Jahre die Kohärenz, nach der sich mein Leben voreilig zu entwickeln begann, auf die ich mich blind tastend, ohne ausreichend darüber entscheiden zu können, eingelassen habe, von selbst ihre Grenzen und verlangt folglich nach ihrer Überwindung. Eine „primäre“ Logik, die man vielleicht die Logik des Drangs und der Eroberung nennen kann, des Ehrgeizes und der Besitznahme, das heißt auch der zur Schau getragenen Leistung, die nach Anerkennung heischt: sich der Welt aufdrängen und einen Platz darin erringen. Andererseits ist doch ein zweites Leben, sich einem Neuanfang annähernd, nur möglich, wenn sich das Subjekt die Gesamtheit seiner Nicht-Übereinstimmungen mit diesem ersten Leben, in das es ohne ausreichenden Abstand und Orientierung, um von sich aus entscheiden zu können, „eingetreten“ ist, zunutze macht und die Fähigkeit erlangt – eine im eigentlichen Sinne ethische Fähigkeit –, sich davon abzukoppeln, und zwar durch kleine, sukzessive Verschiebungen, bis es das beiseitelegen kann, was es solcherart „stützte“. Bis es sich endlich davon „loslösen“ kann: Die Konsequenz daraus, dass es sich von den Anhaftungen des ersten Lebens freimacht, ist eine Initiative. Auf diese Weise geht eine zweite Wahl des Lebens – oder sagen wir: die Wahl eines zweiten Lebens – vonstatten, die sich, progressiv wie sie eben ist, zur ersten effektiven Wahl entwickelt. Die „Freiheit“ ist tatsächlich keine primäre Gegebenheit, wie es die Metaphysik gerne wollte, wobei sie die Welt entzweite und die Erfahrung zerbrach; sondern sie ist im Gegenteil ein durch Abwendung vom aufgezwungenen Primären vollzogener sekundärer Erwerb, ein Aufstieg des Subjekts, durch den eben es sich erst zum „Subjekt“ befördert.

Denn entweder verschließt man seine Augen vor dem, was sich an diesem ersten Leben erschöpft hat, das seine vom Schein verdeckte Nichtigkeit enthüllt und daher nach seiner Überwindung verlangt. Solange das Bannsiegel seiner ersten Ziele, das heißt der von der Welt vorbestimmten Ziele des hastigen Drangs, noch nicht gebrochen ist, kommt also die Wirkung (Bemühung) des Bewusstseins nicht zum Tragen, die es erlaubt, sich von ihnen zu lösen: Sie verfestigen sich im Gegenteil zur Anhaftung und zur Fixierung. Das Leben gräbt sich tiefer in seine Spurrille, ein festgefahrenes Leben. Oder aber man beginnt – da sich durch Reflexion des vergangenen Lebens (über dieses Leben: das aus dem Abstand geborene „über“) Bewusstsein angesammelt hat, wobei diese, wie man sagt, Bewusstseins-„ergreifung“ sich erst im Ablassen von den zuvor eingegangen Abhängigkeiten bestätigt –, diese Scheidung vom ersten Leben zu akzeptieren, das aus Bedürfnis und Befangenheit geboren und damit weitgehend aufgezwungen war: Man fängt an, wie es heißt, „Bilanz zu ziehen“, überprüft und korrigiert immer entschlossener seine früheren Verpflichtungen, revidiert seine Investitionen und „reformiert“ sein Leben. Eine Wiederaufnahme des Lebens, die kein Alter hat, eine Reform, mit der alles beginnen kann. Eben hiermit beginnt sich eine Initiative abzuzeichnen; wirklicher Manövrierraum – also Spielraum für eine Wahl – kann daraus resultieren; tatsächliche Freiheit kann entstehen: Indem es sich von der Beschränktheit des ersten Lebens abkoppelt, also auch die Solidarität mit seiner Welt hinter sich lässt, kann ein Subjekt, das sich aus der Geschlossenheit des Ich befreit, zum Vorschein kommen. Es behauptet sich also als ex-sistierendes Subjekt. Tatsächlich ist die erste Frage, die ich mir einem anderen gegenüber stelle, nicht im eigentlichen Sinn moralisch, sondern lautet vielmehr: Hat er ein zweites Leben begonnen? Ist er dabei (bereit), einen Zugang zu ihm zu finden? Und wie kann ich ihn andernfalls zu dieser Erfahrung hinleiten, da sie sich doch nicht direkt kommunizieren lässt?

Denn warum würde man länger leben wollen, wenn nicht, um Zugang zu diesem zweiten Leben zu finden? Außer vielleicht aus einem bloß negativen Grund (den Tod hinauszuschieben?) – doch das physische Leben beginnt so rasch zu welken! Es geht, besser gesagt, nicht nur darum, Zugang zu diesem zweiten Leben zu finden, indem man einen zweiten Anfang setzt, sondern auch darum, darin fortzuschreiten. Denn sobald man einmal begonnen hat, in der Feinzeichnung, indem man sie vom Raster oder Grundstoff des Lebens unterscheidet und entwirrt, wahrzunehmen, dass das Leben überhaupt nicht so ist, wie man es uns beigebracht hat; wenn, mit anderen Worten, das Leben selbst in seinem Verlauf einen anderen Entwurf offenbart als den öffentlich bekannt gemachten; wenn wir folglich begonnen haben, im Laufe der Zeit die Beschränktheit des Lebens, die sich hinter den Lehren der Moral und Erziehung verbarg (und vor allem das Bedürfnis nach Macht und Anerkennung und den ewigen Kampf innerhalb mehr oder weniger verschleierter Kräfteverhältnisse, sogar in der „Liebe“), zu durchschauen und zu erkennen – dann erscheint endlich eine Alternative, eine tatsächliche Wahl zeichnet sich ab. Meine ersten „Entscheidungen“ waren sichtlich zu sehr geführt, um Entscheidungen gewesen zu sein. Und wenn sich hier nun endlich eine Wahl abzeichnet (als Möglichkeit einer Initiative, Behauptung eines Subjekts), dann liegt das nicht an einem Selbstbestimmungsvermögen des Willens, der sich ad hoc entscheidet, man weiß nicht wie, plötzlich, das heißt metaphysisch, wie man es sich allgemein vorgestellt hat: auf eine, um die Wahrheit zu sagen, schrecklich abstrakte und theatralische Weise. Sondern vielmehr daran, dass ich mich allmählich losgemacht habe, begonnen habe, Abstand zu gewinnen, um abzuwägen und zu vergleichen, und sich daraus die Möglichkeit zur Wahl ergeben hat. Daher bleibt diese Wahl graduell, offenbart eine solche Alternative sich langsam und stellt sich niemals als Wegkreuzung dar – wie es, allzu bequem, die Moral gern gehabt hätte – oder sonst in einer Weise, die bereits resultativ ist.

Ist das dann nicht tatsächlich jene Alternative, die nicht aus der Moral, sondern aus dem Leben hervorgegangen ist; nicht verordnet wurde, sondern sich ergeben hat: die effektiv – das bedeutet auch schrittweise – eine Schwelle bilden würde, wobei sie die Existenzen absondert? Entweder ich beteilige mich an dem, was ich nach und nach vom Leben selbst entdecke und was keineswegs dem ähnelt, was man mir beigebracht hat (oder vorgab, mir beizubringen) – es ist „nicht gut“ zu lügen und zu schmeicheln, zu drängeln...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2020
Reihe/Serie Passagen forum
Passagen forum
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Peter Engelmann
Übersetzer Christian Leitner
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Geisteswissenschaften Philosophie Östliche Philosophie
Schlagworte Chinesische Philosophie • Dialog • Philosophie • Taoismus • Westliche Philosophie
ISBN-10 3-7092-5031-5 / 3709250315
ISBN-13 978-3-7092-5031-0 / 9783709250310
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