Immer am Limit (eBook)
340 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2442-5 (ISBN)
Christoph Daum, geboren 1953 in Zwickau, verstorben 2024 in Köln, gilt als eine der schillerndsten und streitbarsten Figuren im Fußballgeschäft. Als Trainer war er u.a. für den 1. FC Köln, den VfB Stuttgart, Bayer Leverkusen und Besiktas Istanbul tätig, ehemalige Weltklasse-Spieler wie Michael Ballack oder Matthias Sammer bezeichnen ihn bis heute als wichtigsten Lehrer. Aber er machte sich nicht nur Freunde. Auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere stürzte er im Jahr 2000 über die Kokain-Affäre, bis heute einer der größten Skandale im deutschen Fußball.
Christoph Daum, geboren 1953 in Zwickau, gilt als eine der schillerndsten und streitbarsten Figuren im Fußballgeschäft. Als Trainer war er u.a. für den 1. FC Köln, den VfB Stuttgart, Bayer Leverkusen und Besiktas Istanbul tätig, ehemalige Weltklasse-Spieler wie Michael Ballack oder Matthias Sammer bezeichnen ihn bis heute als wichtigsten Lehrer. Aber er machte sich nicht nur Freunde. Auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere stürzte er im Jahr 2000 über die Kokain-Affäre, bis heute einer der größten Skandale im deutschen Fußball.
Am Ziel aller Träume
Villa Himmelseher, 2. Juli 2000
Warum starren mich alle so fordernd an? Vor allem Uli Hoeneß, nicht gerade mein bester Freund, sieht gereizt aus. Ich blicke an diesem riesigen Tisch nur in furchtbar ernste Gesichter: Gerhard Mayer-Vorfelder, Wolfgang Niersbach, Horst R. Schmidt, Rudi Völler, Reiner Calmund, Karl-Heinz Rummenigge und eben Uli. Mir gefallen ihre Blicke nicht. Sie sehen aus, als hätte ich ihnen gerade erzählt, dass ich schwer krank bin. Ich merke, wie Uli seine Augen immer weiter zusammenkneift.
Dabei haben wir uns in der letzten Zeit nicht mehr öffentlich gefetzt. Er zieht sein Ding als Manager bei den Bayern durch, ich mache meinen Job als Trainer von Bayer 04 Leverkusen. Ohne großes Palaver. Natürlich hat Uli gemerkt, dass wir den Bayern gefährlich nahe gekommen sind, aber ich hielt meine Klappe. Ich gab in diesen Jahren nur wenige Sprüche ab, ich ließ Taten für mich sprechen. Trotzdem haben sie erneut die Schale gewonnen. Das tut immer noch verdammt weh, wenn ich daran denke, weil wir so nah dran waren wie nie zuvor. Wir hatten drei Punkte Vorsprung, und schon ein Unentschieden hätte für den Titel gereicht. Dann schoss Michael Ballack am letzten Spieltag in Unterhaching ein Eigentor, und das Unheil nahm seinen Lauf. Doch was zwischen Uli und mir war oder ist, spielt im Moment keine Rolle. Die deutsche Nationalmannschaft liegt am Boden. Jetzt geht es um ihre Zukunft. Die Bayern haben das gemeinsam mit dem DFB zur Chefsache gemacht. Und Uli ist wütend.
»Was soll das denn jetzt?!«, fragt er mit ernstem Blick in die Runde. Seine Laune wird immer schlechter. »Wir fahren von München den weiten Weg hierhin, und dann verliest der hier seine Absage?«
Der hier – das bin ich.
Auch Rummenigge ist irritiert. Er schaut mich an: »Was heißt das denn? Ist das endgültig?«
Die ganze Situation schmeckt mir überhaupt nicht. Was soll ich denn antworten? Ich habe noch ein Jahr Vertrag bei Bayer Leverkusen, und der Verein will mich nicht ziehen lassen. Warum sagt Reiner nicht endlich mal was? Er ist doch schließlich als Bayer-Manager hier, er ist doch derjenige, der mich nicht freigeben will! Ich fühle mich beschissen und würde den Raum am liebsten verlassen.
Wir sitzen alle um diesen riesigen Tisch. Ich weiß nicht, die wievielte Zigarette ich rauche, der Qualm zieht bereits in dünnen Schwaden an den holzvertäfelten Wänden entlang, obwohl Mayer-Vorfelder neben mir der Einzige am Tisch ist, der sich ebenfalls eine angesteckt hat. Ich fühle mich beobachtet. Von allen Seiten schauen sie auf mich. Nicht die anderen, die gerade wild miteinander diskutieren. Es sind die ausgestopften Tierköpfe: Hirsche, Widder und sonstige Jagdtrophäen, die an den Wänden hängen. Ihre toten Augen unter den teils gewaltigen Hörnern starren mich aus dem ganzen Raum an. Egal, wo ich hinschaue: Fast überall sind diese Schädel! Mein Blick wandert nervös durch den Raum. Glas gibt es nur in meinem Rücken, wo eine Fensterfront den Blick auf einen Garten und ein angrenzendes Waldgebiet freigibt. Mayer-Vorfelder hat diesen Ort in der Nähe von Köln ausgesucht, ich war noch nie vorher hier gewesen. Auf der Fahrt hatte Reiner von einer dicken Villa gesprochen. Das trifft es ziemlich gut. Der nächste Nachbar wohnt ein paar Hundert Meter entfernt, der gigantische Garten und der Wald schirmen das Anwesen von anderen Häusern ab. Offensichtlich hatten sogar einige Journalisten Schwierigkeiten, diesen abgeschiedenen Ort zu finden. Als Reiner und ich mit dem Auto das Schmiedeeisentor vor der Villa passierten, spürten uns nicht mal zehn von ihnen mit ihren Kameras und Fotoapparaten auf.
Das Haus nennt sich Villa Himmelseher, benannt nach dem Besitzer Erwin Himmelseher. Himmelseher kümmert sich seit etlichen Jahren bei großen Sportverbänden wie der FIFA oder dem DFB um die Versicherungen. Jetzt benötigt der DFB keine neue Hausrat- oder Unfallversicherung. Er braucht eine Überlebensversicherung: einen neuen Bundestrainer. Und eigentlich glaubten alle, dass ich es mache. Sogar Uli hat sich trotz unserer ganzen Vorgeschichte in den letzten Tagen für mich starkgemacht.
Er nimmt erst mal einen großen Schluck von seinem Wasser. Gerade eben habe ich die vorgefertigte Mitteilung von Bayer Leverkusen verlesen, später soll sie an die Presse gehen. Normalerweise brauche ich kein Blatt Papier mit vorgeschriebenem Text, um irgendetwas vorzutragen. Diesmal klammerten sich meine Finger daran. Die vom DFB und mir »gewünschte sofortige Freigabe für das Amt des Bundestrainers« werde »definitiv abgelehnt«, steht dort. Das ist natürlich ein Hammer.
Mittlerweile glaube ich selbst, dass es so am besten ist. Es ist völlig verrückt. Ich hatte mir nie etwas Größeres vorstellen können, als Bundestrainer zu werden. Ich war mir sicher, dass das die Chance meines Lebens ist, ein Traum, der in Erfüllung gehen sollte. Nicht mal zwei Wochen ist es her, dass sich die Nationalmannschaft mit einem 0:3 gegen eine portugiesische B-Elf aus der Europameisterschaft in den Niederlanden und Belgien verabschiedet hat – ohne einen einzigen Sieg in der Vorrunde. Ein solches Debakel hatte es bis dahin noch nie gegeben. Einen Tag nach der Pleite trat Erich Ribbeck als Bundestrainer zurück. Und ich bin als sein Nachfolger ausgewählt worden. Beckenbauer, Rummenigge, Hoeneß – alle sind für mich. Der ganze FC Bayern steht hinter Christoph Daum: Wenn mir das vor wenigen Wochen jemand so gesagt hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich an die nächste Klapsmühle verwiesen. Gefühlt gibt es seit Tagen in den Zeitungen kein anderes Thema mehr.
Trotzdem steht mein Entschluss fest: Ich werde es nicht machen. Und das fühlt sich alles in allem vernünftig an, glaube ich, wobei, tue ich das wirklich? Zumindest versuche ich mir das immer und immer wieder einzureden. Ist doch halb so wild, Christoph, du hast doch bereits einen tollen Job, oder? Mit Leverkusen spielen wir nächste Saison wieder in der Champions League, vielleicht klappt es endlich mal mit dem ersten Meistertitel. Ballack bleibt, Kirsten bleibt, Zé Roberto bleibt, und vielleicht bleibt sogar Emerson. Bundestrainer kann ich ja irgendwann später immer noch werden. Oder etwa nicht?
»Ha, ha, ha«, das typische Lachen von Mayer-Vorfelder bricht das Schweigen im Raum. »Das ist ja mal wieder ein klassischer Daum. Wenn eine sofortige Freigabe nicht möglich ist, dann sprechen wir jetzt also über den Zeitpunkt des Amtsantritts?«
Ich hasse es, nicht die Kontrolle zu haben. Als Trainer musst du sie immer haben, sonst ist das der Anfang deines Endes. Hier entgleitet sie mir. Ich habe das Gefühl, dass ich hin und her gezerrt werde. Ich habe doch gerade eine klare Absage verlesen, »definitiv« stand da, oder etwa nicht? Und jetzt soll ich trotzdem Bundestrainer werden, nur zu einem späteren Zeitpunkt? Ich komme mir wie der einsamste Rufer im Wald vor. Eigentlich geht das seit Tagen so.
Es fing bereits an, bevor die EM für die deutsche Mannschaft vorbei war. Schon nach dem zweiten Gruppenspiel lief es auf ein Desaster hinaus. Erst ein mageres 1:1 gegen Rumänien, dann ein 0:1 gegen England. Die Zeitungen schrieben, dass die Mannschaft zu alt, zu langsam und ohne jede Perspektive sei. Kurz vor dem Portugal-Spiel lud Mayer-Vorfelder mich ins deutsche EM-Quartier im holländischen Vaals in der Nähe von Aachen ein. Natürlich imponierte mir sein Interesse. Seit unserer gemeinsamen Zeit beim VfB Stuttgart ist MV, wie man ihn nennt, ein väterlicher Freund für mich. Und jetzt hatte er also mich dazu auserkoren, die Nationalmannschaft aus der größten Krise ihrer Geschichte zu führen. Ohne Risiko war der Job nicht, da konnte man sich als Trainer ganz schön die Finger verbrennen. Dennoch war ich in meinem Innersten der festen Überzeugung, dass ich es schaffen könnte. Gedanklich machte ich bereits die ersten Pläne, wie ich die Mannschaft umkrempeln würde, wie sich das Training ändern müsste, und so weiter. Irgendwann drehte sich alles immer schneller: Jeden Tag sprach sich ein neuer sogenannter Experte für mich aus. Doch es gab ein Problem: Bayer hatte von Anfang an klargemacht, dass sie mich nicht freigeben würden. Darum wurde dann über eine Doppelfunktion geredet, zumindest für ein Jahr, bis ich frei wäre. Ich fand die Idee gar nicht so schlecht.
»Alles Denkbare ist machbar«, habe ich gesagt. Ein typischer Daum-Spruch. Warum auch nicht? Mal ganz ehrlich: Wer würde sich für solch eine Chance nicht verbiegen? So was kommt nur einmal im Leben, redete ich mir ein. Außerdem wäre es ja nur für ein paar Monate. Aber je länger sich das alles hinzog, desto unwohler fühlte ich mich damit. Obwohl die Stimmen meiner prominenten Unterstützer immer lauter wurden. Die Bayern-Fraktion forderte mich immer deutlicher als Bundestrainer – und genauso deutlich lehnte Bayer meine Freigabe weiterhin kategorisch ab. Reiner wollte mich unbedingt für eine weitere Saison als Cheftrainer in Leverkusen halten.
Es herrschten chaotische Zustände. Erst sagte Beckenbauer, den Job in Doppelfunktion auszuführen, wäre totaler Schwachsinn, dann konnte er sich es auf einmal doch wieder vorstellen. Es war typisch Beckenbauer: Der Franz wechselte manchmal seine Meinung wie seine...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2020 |
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Co-Autor | Nils Bastek |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Sport | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Sucht / Drogen | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 1. FC Köln • Ausnahmetrainer • Autobiografie • Ballsport • Bayer Leverkusen • Bundesliga • Deutscher Meister • Drogenmissbrauch • durchhalten • Eintracht Frankfurt • EM 2021 • Fußball • Fußballtaktik • Fußballtrainer • Glasscherben • Istanbul • Julian Nagelsmann • Karriereaus • Kokain • Koks • Krebs • Mentaltraining • Michael Ballack • Nationalmannschaft • Power • Skandal • Sport • Taktik • Toni Schumacher • Trainer • Uli Hoeneß • VfB Stuttgart • Vizemeister |
ISBN-10 | 3-8437-2442-3 / 3843724423 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2442-5 / 9783843724425 |
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