Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama

(Autor)

Buch | Hardcover
96 Seiten
2020 | 1. Auflage
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-172-7 (ISBN)
10,95 inkl. MwSt
Beim Thema Homosexualität hat unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten einen echten Paradigmenwandel durchgemacht. Es gibt in der Geschichte unserer jetzigen Republik nur wenige Beispiele, bei denen eine so starke Veränderung im Denken und in der juristischen Beurteilung eingetreten ist. Innerhalb der christlichen Gemeinden gibt es ebenfalls große Verschiebungen in der Wahrnehmung und zunehmende Konflikte, die oft mit massiven Aversionen, aber auch mit Schuld- und Versündigungsängsten verbunden sind. Wie lässt sich das erklären? Sind Fehlhaltungen die Ursachen oder gibt es aus Sicht des Glaubens berechtigte Gründe dafür? Was ist aus historischer, was aus psychotherapeutischer und was aus theologischer Sicht dazu zu sagen?Der bekannte Autor Martin Grabe unternimmt in diesem kompakten Buch den Versuch, ein paar klare Gedanken dazu zu formulieren: »So ehrlich und deutlich, wie es mir nur möglich ist.«

Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut, ist seit 1998 Chef-arzt der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Klinik Hohe Mark in Oberursel. Außerdem ist er Vorsitzender der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge (APS) und Mitherausgeber der Zeitschrift »P & S – Magazin für Psychotherapie und Seelsorge«. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

1. Warum hat unsere Gesellschaft eigentlich immer etwas gegen Schwule gehabt? In aller Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Szene und zwischen ihr und der LSBTI-Bewegung ist ein entscheidender Gesichtspunkt manchmal fast aus dem Blick geraten: Schwulenfeindlichkeit ist traditionell kein christliches Problem, sondern war immer ein gesamtgesellschaftliches; in unserem Land spätestens seit dem Mittelalter bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Noch vor zwanzig, höchstens 25 Jahren war es eine gesellschaftliche Schande, als homosexuell »enttarnt« zu werden. Das kostete Betroffene in der Regel die weitere Karriere. Nur im künstlerischen Bereich galten etwas liberalere Maßstäbe. Gut zwei Jahrzehnte länger ist es her, dass wir noch den Paragrafen 175 in unserer Rechtsprechung hatten, der Homosexualität unter Strafe stellte. Bis heute ist zu beobachten, dass unsere gesellschaftlichen Konventionen im nördlichen Europa einen bestimmten »Sicherheitsabstand« zum eigenen Geschlecht vorschreiben, der in südlichen Ländern so nicht zu beobachten ist. Dort ist es z. B. völlig in Ordnung, wenn Männer sich gegenseitig in den Arm nehmen oder Frauen im türkischen Bad sich gegenseitig liebevoll den Körper pflegen. Langsam ändert sich offensichtlich auch in unserem Land etwas. Ich bin jetzt in einem Männer-Hauskreis, wo man sich gegenseitig immer mit Umarmung begrüßt. War mir neu, aber warum nicht? Doch Begrüßungen mit Küsschen-Küsschen gehen als Mann nach wie vor nur befreundeten Frauen gegenüber. Anders ist es gar nicht vorstellbar. Gleichzeitig zu diesem größeren äußeren Nähe-Tabu in unseren Breiten gab es aber eine verbreitete Unkultur von diskriminierenden Anzüglichkeiten in Bezug auf Homosexualität und Schwulenwitze. Noch vor gar nicht so langer Zeit waren unter Männern Schwulenwitze eine der beliebtesten Witzekategorien. Erfolg war nahezu garantiert, so dümmlich der Witz auch war. Ich war in der Schule in einer reinen Jungenklasse und habe mich damals schon darüber gewundert. Aus tiefenpsychologischer Sicht liegt nahe – und ich mute Ihnen diese Aussage jetzt einmal zu –, dass es dabei insgesamt vor allem um die Abwehr eigener homoerotischer Anteile ging. Natürlich auch im eben genannten Beispiel, einer Schulklasse pubertierender Jungen. In einer Kultur, in der ein bestimmtes Empfinden tabuisiert wird, also immer wieder klargestellt wird, dass man dies und das auf keinen Fall sein darf oder empfinden darf, da versuchen Menschen, sich innere Sicherheit zu verschaffen. Das machen sie, indem sie äußeren Abstand einhalten und unerlaubte eigene Gefühle verleugnen, projizieren und andere Abwehrmechanismen anwenden – immer im Sinne der Verdrängung. Hier stoßen wir jetzt übrigens schon an eine Grundbedingung, um die wir nicht herumkommen, wenn wir konstruktiv mit homosexuell empfindenden Menschen umgehen wollen. Wir brauchen einen zumindest einigermaßen intakten Zugang zu unseren eigenen homoerotischen Anteilen. Jede tiefe Freundschaft zwischen Frauen und zwischen Männern hat diesen homoerotischen Anteil, auch wenn es beiden nicht um körperlich-sexuelle Annäherung geht, also sie selbstverständlich und ohne Leidensdruck diese Grenze einhalten. Gute Freundschaft unter Angehörigen des gleichen Geschlechts stellt eine hohe Stufe von Sublimierung homoerotischer Anteile dar, könnte man aus tiefenpsychologischer Perspektive sagen. Damit ist gemeint, dass es beiden gelingt, innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen, gefühls- und gewissensmäßigen Grenzen einen großen Freiraum zu gestalten, in dem sie ihre Freundschaft genießen können und oft auch Ideen und Aktivitäten nach außen hin entwickeln können. Freundschaftliche Beziehungen – zu beiden Geschlechtern, aber oft gerade zum eigenen – sind die inspirierendste Quelle unserer Kreativität. Wie weit Menschen homoerotische oder heteroerotische Impulse empfinden, ist übrigens recht unterschiedlich verteilt. Letztlich liegen alle Menschen auf einem Kontinuum, das stärker an dem einen oder dem anderen Pol liegen kann. Es gibt aber keinen Menschen, der absolut ausschließlich Empfindungen der einen oder anderen Art hätte. Wer in Bezug auf die eigenen homoerotischen Anteile stark von unbewussten Abwehrmechanismen bestimmt wird, hat hier ein großes Problem. Das ist dann der Fall, wenn auf der einen Seite ein sehr starres Tabu aufgerichtet wurde, zu »solchen Menschen« auf keinen Fall gehören zu wollen und auch nicht für einen solchen Menschen gehalten zu werden, und sich auf der anderen Seite aufgrund der individuellen Veranlagung immer wieder recht starke homoerotische Impulse melden. Attraktivität von Menschen des gleichen Geschlechts muss schon vor dem Bewusstwerden vom Unbewussten abgefangen werden und durch Abwehrmechanismen unkenntlich gemacht werden. Wenn einem Menschen mit dieser Kon-stellation homosexuell empfindende Menschen begegnen, also spürbar wird, dass möglicherweise auf der anderen Seite kein so klares Tabu besteht, müssen alle Register der in-trapsychischen Abwehr gezogen werden, damit die Situation nicht zu gefährlich wird. Besonders prekär ist das in einem Beratungskontext. In einem solchen Fall würde ein Seelsorger dann vielleicht sehr schnell den Betreffenden mit mosaischen Geboten konfrontieren und zur Buße aufrufen – mit dem unbewusst erwünschten Erfolg, den Ratsuchenden bald als »unbußfertig« los zu sein. Ein Therapeut, der an dieser Stelle selbst eine starke neurotische Abwehr hat, würde vielleicht mit einem streng-rigiden Verhalten das Entstehen einer gedeihlichen therapeutischen Beziehung verhindern und wäre dann auch die Gefahr los. Jeder Ratsuchende merkt schnell, ob er wirklich angenommen oder unterschwellig abgelehnt wird. Glücklicherweise ziehen im zweiten Fall die meisten Klienten die Konsequenzen und wenden damit ab, in einer solchen Beziehung nachhaltig geschädigt zu werden. Manche schaffen das aber auch nicht, was dann zu sehr unglücklichen Entwicklungen führen kann, gerade im Bereich unseres Themas. Von homosexuell empfindenden Menschen wurde jahrhundertelang in unserer Kultur absolute Verleugnung nach außen und möglichst auch sich selbst gegenüber gefordert. Wo die homosexuelle Orientierung aber eindeutig war, kam es dann oft irgendwann im Leben zu einem Zusammenbruch der Verdrängung. Ein Coming-out fand statt, auch wenn dieser Begriff erst später geprägt wurde. Coming-out bedeutet Zusammenbruch der Verdrängung. Betroffene verachteten sich anschließend aber oft selbst für ihre geächtete Neigung und entwickelten häufig eine entsprechend wenig wertschätzende und fatalistische Haltung sich selbst gegenüber. Oft gerieten sie in einen selbstdestruktiven, hoch promiskuitiven Lebenswandel, der stark um die suchtartig wiederholte körperlich-sexuelle Befriedigung zentriert war. So menschenunwürdige Orte wie Bahnhofstoiletten oder schmuddelige Autobahnrastplätze wurden nicht selten zu Treffpunkten. Das wiederum wurde dann in der Gesellschaft als »die« homosexuelle Lebenspraxis wahrgenommen, führte zu einer weiteren Entwertung und rief Abscheu und Ekel hervor. Eine Frage, die sich hier aufdrängt, ist: Warum gab es in unserer Gesellschaft über Jahrhunderte unserer Geschichte hinweg eine derartige Ächtung homoerotischer Impulse? In der klassischen Antike war das ganz offensichtlich nicht so. Bei Platon wird die Homoerotik sogar als die reifste Form menschlicher Sexualität beschrieben. Woher kam und kommt in unserer Kultur das besonders starke Bedürfnis, homoerotische Anteile unter sicherem Verschluss zu halten? Sicherlich könnte man sagen, dass eine Wurzel die christlich-abendländische Tradition ist, in der traditionell Bibelstellen im Alten und im Neuen Testament so verstanden wurden, dass Homosexualität sündiges Verhalten sei bzw. ein Ausdruck von Gottesferne. Dazu möchte ich inhaltlich in Kapitel 4 noch eine ganze Menge sagen. Andererseits haben theologische Gesichtspunkte gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in der Regel meist sehr wenig prägen können. Denken Sie zum Beispiel an die ständigen Eroberungskriege im Lauf der Weltgeschichte, an Grausamkeiten und Gnadenlosigkeit anderen Menschen gegenüber, die ständige grenzenlose Gier und Ausbeutung, die die Triebfeder so vieler Entwicklungen war und ist – all das hat sicherlich so ganz und gar nichts mit dem Vorbild Jesu zu tun. Trotzdem wurden auch bei all diesen so offensichtlich unchristlichen Lebensweisen laufend pseudochristliche Argumente verwendet, um all das zu rechtfertigen. Dass das überfallene Land nicht den rechten Glauben habe, dass die schwarze Rasse minderwertig und zur Sklaverei bestimmt sei, dass wirtschaftlicher Erfolg den Segen Gottes sichtbar mache. Es gibt kaum eine Fehlhaltung, die in der europäischen Geschichte nicht theologisch begründet worden wäre. Die Wurzel für die Ächtung der Homosexualität in der Geschichte liegt also mit größter Wahrscheinlichkeit an anderer Stelle als in der Theologie. Es muss noch spezifischere Quellen geben. Und wenn man an dieser Stelle sucht, stößt man auf die preußisch-soldatische Herkunft unseres jetzigen Staatswesens. Das würde auch das traditionelle Nord-Süd-Gefälle erklären. Immerhin lag das Zentrum kirchlicher Macht während des gesamten Mittelalters in Rom und trotzdem war das Homosexualitäts-Tabu nördlich der Alpen deutlich stärker ausgeprägt als im Süden. Im Militär musste unbedingt ein sehr starkes Tabu gegen »wehrkraftzersetzende« Liebesbeziehungen zwischen Männern aufgerichtet werden. Offiziere hatten damals die Aufgabe, ihre Soldaten so stark in Angst und Schrecken zu halten, dass sie sie im Bedarfsfall auf den Feind und in den Tod hetzen konnten. Das hätte niemals funktioniert, wenn irgendwelche Liebesbeziehungen zwischen ihnen bestanden hätten, eventuell sogar hierarchieübergreifend. In militaristischen Gesellschaften musste unablässig darauf geachtet werden, dass genau das nicht passierte. Vielleicht kennen Sie den Ausspruch Friedrichs des Großen, der sinngemäß gesagt hat: »Meine Soldaten müssen mich mehr fürchten als den Feind.« Dadurch ist es auch erklärbar, dass weibliche Homosexualität fast vollständig unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Öffentlichkeit blieb. Das ist, wenn man von den bemühten moralischen oder gar theologischen Argumenten ausgeht, doch gar nicht erklärbar. Weibliche Homosexualität interessierte wehrtechnisch gesehen ganz einfach nicht. In diesem Fall waren die Schwulen die Leidtragenden. Sie wurden gedemütigt, bestraft und gefoltert. Anderseits haben für außenstehende Beobachter oft gerade militärische Männerkameradschaften eine unverkennbar sublimativ-homoerotische Komponente. Nur eben verdrängt, in Biergelagen und ggf. Schwulenwitzen ausgetobt. Das Militär wiederum war die »Schule der Nation« und prägte das Staatswesen. Ich nehme übrigens an, dass die noch bestehende ausgeprägte Schwulendiskriminierung in vielen islamischen Ländern auch damit zu tun hat, dass der Islam in seiner Verbreitungszeit von einer ausgeprägt militaristischen Männergesellschaft getragen wurde. Dieses Thema würde eine eigene Untersuchung lohnen. Im »Dritten Reich« als düsterster Phase deutscher Geschichte kam es dann zu einem besonderen Phänomen. Unter dem Druck der von einem paranoid-narzisstischen Diktator geprägten Gesellschaft entstand einerseits Angst vor Ausgrenzung und Sanktionen, andererseits die Möglichkeit, als »Arier« selbst Anteil an der angebotenen unreifen narzisstischen Aufwertung zu haben. Menschen, die sonst kaum Chancen gehabt hätten, sich hervorzutun, bekamen jetzt auf einmal die Möglichkeit, sich durch Entwertung anderer Bevölkerungsgruppen als etwas Besonderes zu fühlen und besondere Rechte zu bekommen. Sehr viele ergriffen diese Gelegenheit, stützten das System und verbreiteten Angst. Es wurde immer schwerer, einen eigenständigen Standpunkt zu bewahren, und immer mehr Menschen schlossen sich an, um sich in Sicherheit zu bringen. Anschließend rechtfertigten sie ihre neuen Einstellungen vor sich selbst und anderen, indem sie sich die Propagandameinungen bald tatsächlich zu eigen machten. Tiefenpsychologisch gesehen bedeutete das Regression großer Teile der Bevölkerung auf ein niedrigeres Strukturniveau. Wo vorher neurotische Mechanismen vorgeherrscht hatten wie Verdrängung, verbunden immerhin mit der Fähigkeit zu einer gewissen Wertekonstanz, herrschte jetzt die Spaltung vor als handlungsleitendes Schema. Es wurde salonfähig, bestimmte Bevölkerungsgruppen pauschal auszugrenzen und zum Ziel unkontrolliert verteufelnder Projektionen und Übertragungen zu machen. Die Homosexuellen gehörten dazu, viele wurden Opfer der Vernichtungsmaschinerie. Spätestens nach 1945 sollte von daher der Zweifel am »gesunden Volksempfinden« als Maßstab für den Umgang mit Bevölkerungsgruppen erlaubt sein. Homosexuellen Menschen ist im Laufe der Geschichte unendlich viel Unrecht geschehen. Das gilt auch für die Zeiten unserer Bundesrepublik. Erst seit vielleicht 15 Jahren prägt eine starke emanzipatorische Bewegung das Bild in der öffentlichen Wahrnehmung, zu der auch eine erfolgreiche politische Lobbyarbeit gehört. Inzwischen bedeutet es eine starke Rufschädigung, in der Öffentlichkeit als »homophob« dargestellt zu werden. Mit diesem Begriff ist nicht der eigentliche Wortsinn einer Angst vor dem Gleichgeschlechtlichen gemeint, sondern eine feindselige, aggressive Haltung. Diese Einstufung kann zu heftigen Anfeindungen und politischem Ausgrenzungsdruck führen. Unterschwellig, jenseits oberflächlicher politischer Korrektheit – oder auch Angst vor dem »Homophobieverdacht« –, existiert in großen Teilen unserer Bevölkerung aber weiterhin die Fortsetzung der alten Diskriminierung. Das sieht man immer wieder an den Reaktionen von Familien auf ein Coming-out. Diese Diskriminierung beruht auf der erlernten Übernahme traditioneller Tabus, diese wiederum gründen – wie ausgeführt – großenteils auf kollektiver neurotischer Abwehr homoerotischer Anteile der eigenen Psyche. Diese wiederum hatte eine bedeutende Funktion in unserer militaristischen Vergangenheit.

1. Warum hat unsere Gesellschaft eigentlich immer etwas gegen Schwule gehabt?In aller Auseinandersetzung innerhalb der christlichen Szene und zwischen ihr und der LSBTI-Bewegung ist ein entscheidender Gesichtspunkt manchmal fast aus dem Blick geraten: Schwulenfeindlichkeit ist traditionell kein christliches Problem, sondern war immer ein gesamtgesellschaftliches; in unserem Land spätestens seit dem Mittelalter bis weit in die Nachkriegszeit hinein.Noch vor zwanzig, höchstens 25 Jahren war es eine gesellschaftliche Schande, als homosexuell »enttarnt« zu werden. Das kostete Betroffene in der Regel die weitere Karriere. Nur im künstlerischen Bereich galten etwas liberalere Maßstäbe. Gut zwei Jahrzehnte länger ist es her, dass wir noch den Paragrafen 175 in unserer Rechtsprechung hatten, der Homosexualität unter Strafe stellte.Bis heute ist zu beobachten, dass unsere gesellschaftlichen Konventionen im nördlichen Europa einen bestimmten »Sicherheitsabstand« zum eigenen Geschlecht vorschreiben, der in südlichen Ländern so nicht zu beobachten ist. Dort ist es z. B. völlig in Ordnung, wenn Männer sich gegenseitig in den Arm nehmen oder Frauen im türkischen Bad sich gegenseitig liebevoll den Körper pflegen. Langsam ändert sich offensichtlich auch in unserem Land etwas. Ich bin jetzt in einem Männer-Hauskreis, wo man sich gegenseitig immer mit Umarmung begrüßt. War mir neu, aber warum nicht? Doch Begrüßungen mit Küsschen-Küsschen gehen als Mann nach wie vor nur befreundeten Frauen gegenüber. Anders ist es gar nicht vorstellbar.Gleichzeitig zu diesem größeren äußeren Nähe-Tabu in unseren Breiten gab es aber eine verbreitete Unkultur von diskriminierenden Anzüglichkeiten in Bezug auf Homosexualität und Schwulenwitze. Noch vor gar nicht so langer Zeit waren unter Männern Schwulenwitze eine der beliebtesten Witzekategorien. Erfolg war nahezu garantiert, so dümmlich der Witz auch war. Ich war in der Schule in einer reinen Jungenklasse und habe mich damals schon darüber gewundert.Aus tiefenpsychologischer Sicht liegt nahe - und ich mute Ihnen diese Aussage jetzt einmal zu -, dass es dabei insgesamt vor allem um die Abwehr eigener homoerotischer Anteile ging. Natürlich auch im eben genannten Beispiel, einer Schulklasse pubertierender Jungen. In einer Kultur, in der ein bestimmtes Empfinden tabuisiert wird, also immer wieder klargestellt wird, dass man dies und das auf keinen Fall sein darf oder empfinden darf, da versuchen Menschen, sich innere Sicherheit zu verschaffen. Das machen sie, indem sie äußeren Abstand einhalten und unerlaubte eigene Gefühle verleugnen, projizieren und andere Abwehrmechanismen anwenden - immer im Sinne der Verdrängung.Hier stoßen wir jetzt übrigens schon an eine Grundbedingung, um die wir nicht herumkommen, wenn wir konstruktiv mit homosexuell empfindenden Menschen umgehen wollen. Wir brauchen einen zumindest einigermaßen intakten Zugang zu unseren eigenen homoerotischen Anteilen.Jede tiefe Freundschaft zwischen Frauen und zwischen Männern hat diesen homoerotischen Anteil, auch wenn es beiden nicht um körperlich-sexuelle Annäherung geht, also sie selbstverständlich und ohne Leidensdruck diese Grenze einhalten. Gute Freundschaft unter Angehörigen des gleichen Geschlechts stellt eine hohe Stufe von Sublimierung homoerotischer Anteile dar, könnte man aus tiefenpsychologischer Perspektive sagen.Damit ist gemeint, dass es beiden gelingt, innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen, gefühls- und gewissensmäßigen Grenzen einen großen Freiraum zu gestalten, in dem sie ihre Freundschaft genießen können und oft auch Ideen und Aktivitäten nach außen hin entwickeln können.Freundschaftliche Beziehungen - zu beiden Geschlechtern, aber oft gerade zum eigenen - sind die inspirierendste Quelle unserer Kreativität.Wie weit Menschen homoerotische oder heteroerotische Impulse empfinden, ist übrigens recht unterschiedlich verteilt. Letztlich liegen alle Menschen auf einem Kontinuum, das stärker an dem einen oder dem andere

Erscheinungsdatum
Sprache deutsch
Maße 125 x 187 mm
Themenwelt Religion / Theologie Christentum Moraltheologie / Sozialethik
Schlagworte Bibel • Christlicher Glaube • Gemeinde • Homophobie • Homosexualität • Integration • Lesbisch • Schwul
ISBN-10 3-96362-172-9 / 3963621729
ISBN-13 978-3-96362-172-7 / 9783963621727
Zustand Neuware
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