Die Schlange im Wolfspelz (eBook)

Das Geheimnis großer Literatur

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
656 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00507-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Schlange im Wolfspelz -  Michael Maar
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Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Dieser Frage geht Michael Maar in seinem Haupt- und Lebenswerk nach, für das er vierzig Jahre lang gelesen hat. Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils wegbräche, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht. In fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er en passant eine Geschichte der deutschen Literatur.

Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das Buch «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur» stand lange auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe «Leoparden im Tempel». Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

Michael Maar, geboren 1960, ist Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker. Bekannt wurde er durch «Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg» (1995), für das er den Johann-Heinrich-Merck-Preis erhielt. 2002 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2008 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste, 2010 bekam er den Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das Buch «Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur» stand lange auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe «Leoparden im Tempel». Michael Maar hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

II. Im Weinberg


Delphin oder Zecke? Etwas über Satzzeichen


Ein fehlendes Komma kann nicht nur einen Satz, es kann sogar ein Leben zerstören. Der königliche Heerführer überstellt einen wichtigen Gefangenen zum Rücktransport in die Heimat mit der Nachricht «Warte nicht hängen». Als er zurückkommt, ist der König empört: Der Gefangene lebt nicht mehr. Er, der König, hatte das Komma innerlich so gesetzt: «Warte, nicht hängen.» Daheim hatte man verstanden: «Warte nicht, hängen.» In einer anderen Form dieser Anekdote erreicht den König das Begnadigungsgesuch eines zum Tode Verurteilten. Der Bote des Königs überbringt dem Henker die Antwort: «Ich komme nicht köpfen.» Wie wird es ausgehen?

Meistens sind sie nicht ganz so wichtig, die Kommas oder vornehmer Kommata, österreichisch Beistriche, manchmal aber schon. Man denke an die Stelle aus dem Tagebuch Thomas Manns, in dem er leicht grimmig von dem Streit mit seinen Schwiegereltern Pringsheim über die Frage schreibt, ob der bekannte Satz laute: «Einsam, bin ich nicht allein.» Oder aber: «Einsam bin ich, nicht allein.» Was einen großen Unterschied macht.

Wenn man im folgenden Beispiel – es stammt von dem polnischen Aphoristiker Stanislaw Lec – das Komma durch einen Doppelpunkt ersetzt, ersetzt man Religion durch Philosophie und das Alte Testament durch Ludwig Feuerbach. «Der Mensch denkt, Gott lenkt.» Oder: «Der Mensch denkt: Gott lenkt.» Die jüdische Variante des Sprichworts lautet übrigens: «Der Mensch denkt, Gott lacht.»

Es war Karl Kraus, der den Kampfslogans der Nationalsozialisten das sinnentstellende Fehlen eines Beistrichs nachwies. «Deutschland erwache!» und «Juda verrecke!» – da fehlte leider ein Komma. Gemeint war ja wohl der Imperativ, daß also Deutschland erwachen und Juda verrecken solle. Ohne Komma wird aus dem Befehl nur ein frommer Wunsch, und das war ja offenbar nicht gemeint.

Wo er recht hat, hat er recht, und er hatte es meistens. Für Kraus waren die Beistriche heilig. Er führte noch bis kurz vorm Tod Prozesse um sie. Als ihn sein Freund Ernst Krenek Anfang 1933 zart darauf hinwies, daß es in diesen Zeiten – die Japaner hatten gerade China angegriffen – möglicherweise drängendere Probleme gäbe als ein falsches Komma, erwiderte Kraus: Hätten die Leute, die dazu verpflichtet sind, immer darauf geachtet, daß alle Beistriche am richtigen Platz stehen, so würde Shanghai heute nicht brennen.

Offiziell ist die Zeichensetzung reglementiert, in Wirklichkeit wird sie höchst individuell verwendet, jeder Schriftsteller hat seine eigene Interpunktion. Die Kunst der Zeichensetzung – subtilstes Seerosengewässer des Stils! Die Vorlieben oder Aversionen sind hier streng subjektiv. Der Verfasser gesteht eine heftige Schwäche für Walter Benjamins Zeichensetzung – fast kommafrei. George macht aus seiner Komma-Askese einen Kult. Bei Kafka fehlen oft Kommas, es stört nicht im geringsten. Das überflüssige Komma stört ohnehin mehr als das fehlende. Die überflüssigen Anführungszeichen sind ebenso wie der sogenannte Deppen-Apostroph («Hansi’s Biergarten») zu einer Pandemie geworden; mit seinen Parodien darauf hat Eckhard Henscheid eine ganze Kunstform «erfunden». Adorno haßte diese Gänsefüßchen und sah in ihrem übermäßigen, ironischen Gebrauch bei Marx den «Samen, aus dem schließlich wurde, was Karl Kraus das Moskauderwelsch nannte».

Manche Zeichen, die sich eingebürgert haben, stießen vor zwei Jahrhunderten noch auf Befremden. Besonders empfindlich war wie immer Arthur Schopenhauer. In einer Fußnote aus dem Nachlaß erregt er sich über den Gedankenstrich:

Es ist so schlecht und impertinent, wie heut zu Tage allgemein, – Beispiele werden jegliche Sache stets am besten erläutern – so zu schreiben, wie ich soeben geschrieben habe. Die sogenannten Gedankenstriche, sonst nur Lückenbüßer für Gedanken, sind hier verschämt und daher auf dem Bauch liegende Parenthesen. Wer zum Publikum spricht, soll vorher überlegt haben, was er sagen will und seine Gedanken geordnet haben u.s.w. – Je mehr Gedankenstriche in einem Buch, desto weniger Gedanken.

Heinrich von Kleist dagegen hat dem von Schopenhauer verachteten Satzzeichen in seiner Novelle Die Marquise von O… einen großen unzüchtigen Auftritt verschafft – wir werden darauf zurückkommen.

Der Schopenhauer-Schüler Friedrich Nietzsche ließ es an Zucht in der Interpunktion stark vermissen. Er war und bleibt einer der besten Stilisten, aber seine Schwäche war die Zeichensetzung, die ihn am Ende fast unlesbar macht: Immerzu wird exklamiert!, immerzu werden Gedankenstriche verdoppelt oder verdreifacht oder folgt dem Gedankenstrich der Doppelpunkt –: ein Manierismus, den Hans Wollschläger von ihm übernommen hat – –; immerzu wird gesperrt gedruckt und läuft die Periode bedeutungsvoll mit drei Pünktchen aus …

Wobei das «immerzu» nicht ganz stimmt; es ist ein langer Prozeß. Je drückender Nietzsches Einsamkeit und Isolation, desto schriller der Ton und desto üppiger die Satzzeichen. Betrachtet man seine Frühschrift von 1872 Die Geburt der Tragödie, findet man trotz vieler Sperrungen kaum Auffälligkeiten in der Interpunktion. Die ein Dutzend Jahre später verfaßte Vorrede «Versuch einer Selbstkritik» hingegen zeigt schon das Vollbild. Der Schluß des ersten Absatzes: «Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie?? – –»

Der vierte Absatz endet:

War Epikur ein Optimist – gerade als Leidender? – – Man sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich dieses Buch belastet hat, – fügen wir seine schwerste Frage noch hinzu! Was bedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, – die Moral? …

Nietzsches Art der Interpunktion läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Hier schreibt ein Genie mit schwerem Aufmerksamkeitsdefizit.

Auf andere Art zeigt dieses Aufmerksamkeitsdefizit auch der Bargfelder Einsiedler Arno Schmidt. Er kann «scheinbar» nicht von «anscheinend» unterscheiden und läßt es sich auch von keinem Lektor erklären, aber auf die Kaskaden seiner Satzzeichen ist er so stolz wie auf seine Etym-Theorie. Arno Schmidt will die Satzzeichen durch immer neue Kopplungen und Zusammenschaltungen semantisch aufladen. Daß das Ergebnis bei so vielen Aufladungen oft durchgeknallt wirkt, fiel auch Schmidt-Jüngern auf. Einer fragt den Meister, was es denn mit folgender wild gewordener Klammeranordnung in KAFF auch Mare Crisium auf sich habe?

[(((…))). / ((…)) / (…?) –: …! : !!!]

Nichts von Schmidts komplizierter Antwort hätte der gewöhnliche Leser von selbst verstanden. Arno Schmidts Stenogramm-Schrift ist halbprivater Natur und so recht nur von ihm selbst zu entziffern. Das Überraschende dabei ist: Man liest sich dennoch schnell ein. Der Satzzeichen-Clown fällt irgendwann kaum noch auf, er stört nicht mehr, man gewöhnt sich an ihn, er balanciert auf der Wahrnehmungsschwelle und winkt uns von dort Signale zu. Davon abgesehen ist Schmidt der Avantgardist der graphischen Siglen: Er begann mit dem, was in den Handy-Nachrichten heute selbstverständlich ist.

Dennoch, so originell und kühn das alles sein mag, so reich instrumentiert eine Druckseite Arno Schmidts daherkommt, es schimmert in seiner Interpunktion oft noch etwas anderes durch. Nicht wie bei Nietzsche der spätere Wahn, sondern etwas früh Angelegtes: Pedanterie.

Das unpedantischste, schönste und delikateste Satzzeichen ist das Semikolon. Aris Fioretos nennt es feinsinnig den Delphin unter den Satzzeichen. Das Semi-Kolon war ursprünglich ein halbes Kolon, ein halber Doppelpunkt; das deutsche Wort Strichpunkt trifft es graphisch genauer. Was es ausdrückt, ist ganz einfach: Es trennt weniger scharf als der Punkt und schärfer als das Komma, das ist sein ganzes Geheimnis. Nicht, daß es nicht auch Feinde hätte, wie den amerikanischen Schriftsteller Barthelme, der das Semikolon als «häßlich wie eine Zecke am Hundebauch» schmäht.

Das erste Semikolon wurde 1494 in Venedig gedruckt, zwei Jahre nachdem Kolumbus Amerika erreicht hatte. Seitdem taucht es durch die Letternwelt; besonders häufig – um vom Delphin zum Wal zu wechseln – in Melvilles Moby Dick, in dem es angeblich 4000 Mal vorkommt. Abgelehnt haben es dagegen George Orwell und Kurt Vonnegut; sie witterten etwas Snobistisches in ihm. Im sogenannten Chicago Manual gibt es 37 Regeln zum richtigen Gebrauch des semi-colon. Keine davon muß man kennen; den Strichpunkt setzt man so, wie der Tausendfüßler geht – nur nicht darüber nachdenken, mit welchem Fuß zuerst, sonst klappt gar nichts mehr.

Gibt es sonst noch Stilregeln? Kaum. Ausrufungszeichen? Sparsam! Klammern mitten im Satz? Noch sparsamer. (Wenn man nicht zufällig Marcel Proust heißt, dann erlaubt sie sogar Adorno.) Distanzierend-anklagende Anführungszeichen? So gut wie nie. Drei Pünktchen? Ganz schwierig … Puristen lehnen sie ab, mit den reiferen Jahren kann man sich ein paar davon durchgehen lassen.

Daß eines der genannten Satzzeichen sich als der entscheidende Fingerabdruck...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2020
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Design / Innenarchitektur / Mode
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Deutsche Literaturgeschichte • Klassiker • Kreatives Schreiben • Literarisches Schreiben • Literatur • Literaturwissenschaft • Schreiben • Stilistik
ISBN-10 3-644-00507-9 / 3644005079
ISBN-13 978-3-644-00507-5 / 9783644005075
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