Revolution in Wien (eBook)

Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
364 Seiten
Böhlau Verlag
978-3-205-23225-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Revolution in Wien -  Norbert Christian Wolf
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Im Herbst 1918 beteiligten sich in Wien bekannte Literaten in herausgehobener Position an den politischen Aktivitäten, die zum Ende der habsburgischen Herrschaft sowie zur Ausrufung der Republik (Deutsch-)Österreich führten. Ähnlich wie ihre Münchner Kollegen engagierten sie sich für eine soziale Revolution. Zum ersten Mal seit 1848 standen Autoren wieder selbst im Zentrum des historischen Geschehens. Norbert Christian Wolf untersucht Quellen wie Zeitungsartikel, Reportagen, Feuilletons, Briefe, Notizen und Tagebucheinträge, die es erlauben, den damaligen Informationsstand zu rekonstruieren und dabei zu unmittelbaren Eindrücken und überraschenden Einsichten in die Hoffnungen und Sorgen der Zeitgenossen zu gelangen. Er bezieht sich dabei auf Texte u.a. von Leopold von Andrian, Hermann Bahr, Franz Blei, Albert Paris Gütersloh, Egon Erwin Kisch, Anton Kuh, Albert Ehrenstein, Karl Kraus, Alma Mahler, Robert Musil, Robert Neumann, Leo Perutz, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Hugo Sonnenschein, Friedrich Torberg, Franz Werfel und Berta Zuckerkandl. Das Buch bietet ein Gesamtbild der österreichischen Kultur- und Literaturgeschichte jener spannenden Umbruchsmonate im Herbst/Winter 1918/19.

Norbert Christian Wolf ist Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien.

Norbert Christian Wolf ist Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien.

Das Fallen der Kokarden. Einführung

Spätestens seit Claudio Magris’ Untersuchung über den ›habsburgischen Mythos‹ gelten die österreichische Literatur und ihre Autoren gemeinhin als harmoniesüchtig und rückwärtsgewandt.1 Einen Zeitraum, für den diese Diagnose bestimmt nicht zutrifft, behandelt dieses Buch: Im Herbst und Winter 1918/19 beteiligten sich in Wien prominente Literaten in öffentlich sichtbarer Position an den politischen Aktivitäten, die zum Ende der Habsburgermonarchie sowie zur Ausrufung der Republik (Deutsch-)Österreich führten. Ähnlich wie ihre Münchner Kollegen engagierten sie sich für eine auch soziale Revolution und hatten damit Teil an jener damals neuartigen Konversionsbewegung europäischer Intellektueller zum Kommunismus, die der britische Historiker Eric Hobsbawm für die Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg diagnostiziert hat.2 Zum ersten Mal seit 1848 standen in Wien Schriftsteller wieder selbst im Zentrum des historischen Geschehens.

Generell kennt die neuere deutschsprachige Literatur-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte wohl keinen anderen epochalen Einschnitt, der so weitreichende und tiefgreifende mentale Folgen gehabt hat wie der Untergang der Monarchien am Ende des großen Krieges. Dies wird in der Literatur schon von den Zeitgenossen selbst, aber auch aus der Distanz des Rückblicks kritisch reflektiert. Bereits der sozialdemokratische Vordenker Otto Bauer hat vorgeschlagen, »den Niederschlag dieser schnellen Entwicklung der Stimmungen der bürgerlichen Intelligenz in der österreichischen Literatur zu verfolgen.«3 In diesem Sinn untersucht die vorliegende Studie in einem ersten Teil biographische Quellen wie Briefe, Notizen und Tagebucheinträge aus der Umbruchszeit, in einem zweiten Teil darüber hinaus literarische Texte im engeren Sinn wie Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays bekannter und weniger bekannter Autoren, die zum Teil erheblich später entstanden sind. Behandelt werden u. a. – in alphabetischer Reihenfolge – Texte von Leopold (von) Andrian, Ernst Angel, Hermann Bahr, Franz Blei, Albert Ehrenstein, Albert Paris Gütersloh, Egon Erwin Kisch, Karl Kraus, Anton Kuh, Alma Mahler(-Werfel), Robert Müller, Robert Musil, Robert Neumann, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Hugo Sonnenschein, Friedrich Torberg, Franz Werfel und Berta Zuckerkandl.

In seinem Buch Leben in dieser Zeit. Sieben Fragen zur Gewalt berichtet der 1905 geborene Schriftsteller, Philosoph und Sozialpsychologe Manès Sperber von einer Begebenheit aus seiner Kindheit, die den damals Zwölfjährigen stark beeindruckt und nachhaltig beschäftigt hat.4 Zunächst gibt er ein plastisches Bild von den chaotischen Verhältnissen der letzten Kriegstage in Wien:

Es war im Jahr 1918, am Vormittag des ersten oder zweiten November, auf einem Bahnsteig des Wiener Nordbahnhofs. Seit einer Woche trieb ich mich dort herum, verbrachte meine Zeit mit bald hoffnungsvollem, bald verzweifeltem Warten. Mein Vater hatte seine Heimkehr angekündigt, doch die Unordnung im Zugsverkehr war chaotisch geworden, Fahrpläne galten nicht mehr. Der Vater mochte in der nächsten Minute oder erst nach Tagen eintreffen.5

Der Bahnhof verlor seine vertraute Funktion als Raum des Transitorischen zwischen Fern und Nah sowie als Ort der beständigen Bewegung. Angesichts der Unzuverlässigkeit sämtlicher Fahrpläne wurde er nunmehr zum Wartesaal eines zeitlich unabsehbaren Aufenthalts zahlloser Gestrandeter aus allen – insbesondere den östlichen – Teilen der untergehenden k. u. k. Monarchie, mithin zu einem Ort des passiven Verweilens, der Immobilität und Statik. Unter den zahlreichen, ungewiss und unverrichteter Dinge wartenden Menschen befand sich auch der junge Sperber, der die Szenerie der von ihm in der Folge berichteten unerhörten Begebenheit recht ungemütlich schildert:

Es war gegen elf Uhr vormittags, ein kalter Wind blies über die Bahnsteige, doch verminderte sich die Zahl der Leute nicht, die auf Züge warteten, die nicht ankamen oder nicht abfuhren, auf Urlauber, die vielleicht nicht mehr lebten, auf Verwandte, die auf einer Umsteigestation steckengeblieben waren. Die meisten aber waren Soldaten auf dem Weg zu ihren Einheiten; sie hatten es nicht eilig, lungerten herum und fanden sich mit der Verspätung gerne ab.6

Während die Soldaten keine Eile hatten, noch einmal an die Front zu gelangen, wo sie der ›Heldentod‹ in einem längst verlorenen Weltkrieg bedrohte, erfuhren die ausharrenden Zivilisten den Niedergang der Habsburgermonarchie gleichsam körperlich, indem sie frierend das Nicht-mehr-Funktionieren des auf deren Hauptstadt sternförmig zulaufenden Eisenbahnnetzes erlebten. Dem Ankommen eines Zuges konnte nicht mehr wie sonst ganz selbstverständlich entgegengesehen werden, sein schließliches Erscheinen wurde nun sogar an einem Hauptstadtbahnhof zu einem besonderen Ereignis, das sich durch die daran anschließenden merkwürdigen Vorkommnisse auf dem Bahnsteig in das Gedächtnis des kindlichen Beobachters nachgerade einbrannte:

Endlich traf ein Zug ein. Ihm entstiegen hauptsächlich Militärpersonen, unter ihnen ein Hauptmann, gefolgt von seinem Diener, dem er mit barschen Worten immer wieder vorwarf, nicht schnell genug zu laufen. Der »Putzfleck«, wie man in der K. und K. Armee solche Diener nannte, bot einen zugleich lächerlichen und empörenden Anblick. Auf dem Rücken trug er zwei übervolle Rucksäcke und in jeder Hand zwei sichtbar schwere Koffer. Trotz der Kälte bedeckte Schweiß das Gesicht des Atemlosen, der mit gebeugtem Rücken immer schneller voranzukommen suchte. Er wiederholte ununterbrochen: »Melde gehorsamst, ich komm schon, melde gehorsamst …« Da vertrat ihm plötzlich ein junger Soldat den Weg, riß ihm die Koffer aus der Hand und sagte: »Kamerad, was rennst Du so? Hast ja viel Zeit. Wir alle haben viel Zeit.«7

Abb. 1: Zug mit demobilisierten Kriegsheimkehrern, 1918

Nicht von ungefähr sind es gerade die verbürgten Vorstellungen von Zeit, die jetzt in Frage gestellt oder gänzlich erschüttert scheinen. Deutlich wird dabei, dass und inwiefern das Verfügen über Zeit eine Frage von Macht oder Ohnmacht darstellt. Ein bestehendes Machtgefälle äußert sich auf besondere Weise im Warten und Wartenlassen.8 Es kann – und das ist im Folgenden zentral – von einem Augenblick zum nächsten kollabieren bzw. in sein Gegenteil umschlagen:

Der so Angesprochene versuchte, durch Zeichen vor seinem Offizier zu warnen, der sich ja hätte umdrehen können. Das geschah auch unverzüglich. Der Hauptmann kam eilends auf die beiden zu und wurde sofort einer unfaßbaren Änderung gewahr: Von der Kappe des jungen Soldaten war die kaiserliche Kokarde verschwunden und durch ein Bändchen mit den polnischen Nationalfarben ersetzt worden. Das war ein sicheres Zeichen der Meuterei. Er öffnete weit den Mund, wie um einen wütenden Schrei auszustoßen, doch blieb er stumm: Das entsetzte Staunen machte ihn sprachlos.9

Das Verschwinden der kaiserlichen Kokarde, also eines in der Regel runden Hoheitsabzeichens, das auf den Uniformen oder den dazugehörigen Mützen der Soldaten angebracht war, signalisiert eine vollendete Implosion gesellschaftlicher Hierarchien, die vordem für unerschütterlich galten. Der bis dahin gegenüber seinen Untergebenen geradezu allmächtige Hauptmann erscheint nicht nur geschwächt, sondern mit einem Schlag vollkommen machtlos gegenüber den ihn verhöhnenden einfachen Gefreiten:

Andere Soldaten kamen heran, einer von diesen schlug dem Offizier die Mütze vom Kopf, fing sie auf und entriß ihr die Kokarde, die er spielerisch auf das Gleise hinunterwarf. Der Hauptmann griff zum Säbel, schon hatte er ihn halb aus der Scheide gezogen, als sein Diener, der noch eine Minute vorher als ein willenloses Lasttier gehorsam hinter ihm hergelaufen war, mit einer behenden Bewegung die Rucksäcke von sich warf und nun aufrecht, größer als sein Herr, ihm zwei schallende Ohrfeigen versetzte. Dem Hauptmann ging’s plötzlich auf, daß etwas Unheimliches, Unahnbares geschehen war und daß er da einer Übermacht begegnete, die so unberechenbar gefährlich sein mußte wie die Untiere in den Albträumen. Mit einem Sprung war er unten zwischen den Gleisen, lief zum gegenüberliegenden Bahnsteig und verschwand durch eine Seitentür. Ihn begleitete das laute Gelächter der Meuterer.10

Die scheinbar aus dem Nichts kommende, plötzliche Verwandlung des bis dahin untertänigst gebückten ›Putzflecks‹ von einem ›willenlosen Lasttier‹ zu einem gewaltbereiten Hünen vermittelte nicht nur dem unvorbereitet gedemütigten Offizier, sondern auch dem zwölfjährigen Manès die ›unheimliche‹ Erfahrung eines so unvermittelten wie radikalen Zerfalls der Macht. Wie konnte das geschehen, wie konnte eine vordem für ehern geltende Autorität wie die des militärisch Vorgesetzten so restlos kollabieren, dass die Machtverhältnisse mit einem Schlag nicht bloß aufgeweicht, sondern nachgerade invertiert waren und dass die beteiligten Menschen einer unerklärlichen Charakterveränderung unterlagen? Manès Sperber beschrieb das von ihm kolportierte Ereignis als historischen Vorgang, der die Kontingenz von Geschichte offengelegt habe:

Der dreizehnjährige [recte: noch zwölfjährige, N.C.W.] Zeuge dieser Szene, die sich rasend schnell abgespielt hatte, erfuhr in dieser Minute, daß die Geschichte solch einfache Sprache benutzen und sich in so einfachen Gesten wandeln konnte. Denn dies war einer der Augenblicke, in denen das Kaiserreich, wehrlos wie ein Sterbender, unterging und die Krone einer 650jährigen Dynastie zu Boden rollte. Und man konnte sich...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2018
Zusatzinfo mit 12 s/w-Abb.
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Design / Innenarchitektur / Mode
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
Schlagworte 20. Jahrhundert • Österreich /Literatur • Österreich /Neuere Geschichte
ISBN-10 3-205-23225-9 / 3205232259
ISBN-13 978-3-205-23225-4 / 9783205232254
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