Ist heute schon morgen? (eBook)
96 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2437-1 (ISBN)
Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, wo er den Schwerpunkt Die Zukunft der Demokratie leitet. Der vielfach preisgekrönte Autor schreibt für die internationale Ausgabe der New York Times. 2020 gewann er den Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik.
Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, wo er den Schwerpunkt Die Zukunft der Demokratie leitet. Der vielfach preisgekrönte Autor schreibt für die internationale Ausgabe der New York Times. 2019 erschien im Ullstein Verlag sein viel beachtetes Werk "Das Licht, das erlosch", für das er den Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik gewann.
Einleitung
Der graue Schwan
Ich denke, das haben wir alle schon erlebt – das plötzliche Gefühl, in einer der verschiedenen Dystopien zu leben, die uns im Kopf herumschwirren. Wir glauben, von einem Großen Bruder überwacht zu werden oder von einer Art Matrix umschlossen zu sein.
Irgendwann im März 2020, in der zweiten Woche meiner Covid-19-Isolation, mailte ein Freund mir ein amüsantes Mengendiagramm. Es zeigte zwölf einander überschneidende Kreise, die jeweils für eine bekannte Dystopie standen. Da waren sie alle: 1984, Schöne neue Welt, Der Report der Magd, Clockwork Orange und Herr der Fliegen. In der kleinen Fläche, in der sie sich alle überschnitten, stand: »Sie befinden sich hier.« Und tatsächlich – genau dort befinden wir uns. Wir durchleben all diese Albträume gleichzeitig. »Es war in unseres Lebensweges Mitte«, schrieb Dante am Anfang der Göttlichen Komödie, »als ich mich fand in einem dunklen Walde; denn abgeirrt war ich vom rechten Wege.«1
»So brachte die Pest unseren Mitbürgern als erstes das Exil«, bemerkt der Erzähler in Camus’ Die Pest,2 und gerade haben wir eine einigermaßen klare Vorstellung davon, was er damit meint. Eine Gesellschaft in Quarantäne ist eine »geschlossene Gesellschaft« im beinahe wörtlichen Sinn. Wir gehen nicht mehr zur Arbeit, treffen uns nicht mit Freunden und Verwandten, fahren kaum noch mit dem Auto und legen unsere Lebensplanung für die absehbare Zukunft auf Eis.
Überhaupt nicht aufhören können wir dagegen, über dieses Virus zu reden, das unsere Welt für immer zu verändern droht. Wir sind in unserem Heim eingesperrt, geplagt von Angst, Langeweile und Paranoia. Wohlmeinende und auch nicht so wohlmeinende Regierungen verfolgen ganz genau, wohin wir gehen und wen wir treffen, fest entschlossen, uns vor unserem eigenen Leichtsinn wie auch vor dem unserer Mitbürger zu schützen. Nicht genehmigte Spaziergänge im Park können mit einer Geldbuße, ja sogar mit Gefängnis geahndet werden, und der Kontakt mit anderen menschlichen Wesen ist zu einer Bedrohung unserer Existenz geworden. Jemanden ungefragt zu berühren, kommt einem Verrat gleich. Wie Camus feststellte, löschte die Pest »die Erfahrung des persönlichen Lebens« aus, indem sie einem jeden die eigene Verletzlichkeit und Machtlosigkeit, die Zukunft zu planen, vor Augen führte.3 Nach einer Epidemie sind alle, die noch da sind, Überlebende.
Doch wie lange wird uns dieses noch nie da gewesene Gesellschaftsexperiment im Gedächtnis bleiben? Könnte es sein, dass es für uns in ein paar Jahren nicht mehr ist als eine Art kollektive Halluzination, hervorgerufen durch einen »Mangel an Raum, kompensiert durch einen Überfluss an Zeit«, wie der Dichter Joseph Brodsky die Existenz eines Gefangenen beschrieb?4
Die Corona-Pandemie hat sich als klassischer »grauer Schwan« herausgestellt – ein durchaus wahrscheinliches Ereignis, das unsere Welt auf den Kopf stellen kann, uns aber dennoch schockiert, wenn es wirklich eintritt. 2004 konstatierte der Bericht des National Intelligence Council der Vereinigten Staaten, es sei »nur eine Frage der Zeit, bis eine neue Pandemie auftritt, wie das Grippevirus der Jahre 1918/1919, das geschätzt 20 Millionen Menschen weltweit tötete«. Eine solche Pandemie könne »den globalen Verkehr und Handel über längere Zeit zum Erliegen bringen und die Regierungen dazu zwingen, enorme Ressourcen für überlastete Gesundheitssysteme aufzuwenden«.5 In einem TED Talk sagte Bill Gates im Jahr 2015 nicht nur eine weltweite Epidemie mit einem hochansteckenden Virus voraus, sondern warnte auch, wir seien nicht darauf vorbereitet. Auch Hollywood präsentierte uns Blockbuster-»Warnungen«. Doch es ist kein Zufall, dass es in Schwanensee keine grauen Schwäne gibt; »graue Schwäne« sind ein Beispiel für etwas, das voraussagbar, aber undenkbar ist.
Große Epidemien treten eigentlich gar nicht so selten auf, und doch überraschen sie uns immer wieder aufs Neue. Sie wälzen unsere Welt um wie sonst nur Kriege und Revolutionen; dennoch sind Kriege und Revolutionen unserem kollektiven Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt, Epidemien sind es nicht. In ihrem wunderbaren Buch 1918 – Die Welt im Fieber beschreibt die britische Wissenschaftsautorin Laura Spinney die Spanische Grippe als das tragischste Ereignis des 20. Jahrhunderts, das aber dennoch weitgehend in Vergessenheit geriet. Vor hundert Jahren befiel die Pandemie jeden dritten Erdbewohner, eine überwältigende Zahl von 500 Millionen Menschen. Zwischen dem ersten dokumentierten Fall am 4. März 1918 und dem letzten irgendwann im März 1920 kostete sie zwischen 50 und 100 Millionen Menschen das Leben. Unter den Einzelereignissen mit einem größeren Verlust an Menschenleben übertraf sie den Ersten Weltkrieg (17 Millionen Tote) wie auch den Zweiten (60 Millionen Tote) und tötete womöglich so viele Menschen wie beide zusammen. Doch »auf die Frage nach der größten Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts lautet die Antwort fast nie: die Spanische Grippe«.6 Noch überraschender ist, dass selbst die Historiker die Epidemie offenbar vergessen haben. WorldCat, der weltweit größte Buchkatalog, verzeichnete 2017 etwa 80 000 Bücher zum Ersten Weltkrieg (in mehr als 40 Sprachen) und nur etwa 400 zur Spanischen Grippe (in fünf Sprachen). Wie kann es sein, dass eine Epidemie, der mindestens fünfmal so viele Menschen zum Opfer fielen wie dem Ersten Weltkrieg, in 200-mal weniger Büchern behandelt wird? Warum erinnern wir uns an Kriege und Revolutionen, vergessen aber Pandemien, obwohl letztere unsere Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und die Architektur unserer Städte ebenso fundamental verändern?
Laut Laura Spinney liegt ein wichtiger Grund darin, dass es einfacher ist, die Opfer von Kugeln als die von Viren zu zählen, und der gegenwärtige Streit um die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 belegt wohl, dass sie damit recht hat. Der andere, meiner Ansicht nach weitaus wichtigere Grund ist, dass man aus einer Pandemie nur schwer eine gute Geschichte machen kann. 2015 stellten die Psychologen Henry Roediger und Magdalena Abel von der Washington University in Missouri fest, dass sich die Menschen meist nur an »eine kleine Zahl auffälliger Ereignisse ... am Anfang, Wendepunkt und Ende« jeder Situation erinnern.7 Die Geschichte der Spanischen Grippe (oder anderer großer Epidemien) kann man kaum innerhalb einer solchen narrativen Struktur erzählen. Epidemien sind wie Waisenkinder – man kann sich ihrer Herkunft nie ganz sicher sein, und gleichzeitig wie Netflix-Serien – der Endpunkt ist nur eine Pause vor der nächsten Staffel. Die Epidemie verhält sich zum Krieg wie mancher modernistische Text zum klassischen Roman: Ihr fehlt ein klarer Plot.
Unsere Unfähigkeit oder vielleicht unser Widerwille, an Epidemien zurückzudenken, mag auch etwas mit unserer allgemeinen Abneigung gegenüber zufällig erscheinendem Leid und Tod zu tun haben. Die Sinnlosigkeit willkürlich auftretender Schmerzen ist schwer zu ertragen; der Tod der Covid-19-Opfer ist entsetzlich – nicht nur, weil sie keine Luft mehr bekommen, sondern auch, weil niemand den Sinn ihres Sterbens wirklich erklären kann. Im Krieg ist die Verheißung eines heldenhaften Sieges angelegt. Dem patriotischen Narrativ zufolge sterben Soldaten nicht einfach, sie opfern ihr Leben für andere. Die Geschichte der Kriege ist eine Geschichte von ganz normalen Menschen, die außerordentlichen Mut beweisen, indem sie ihr Leben opfern, um das Leben anderer zu retten. Der amerikanische Philosoph William James nannte den Krieg »die mörderische Kinderfrau, die Gesellschaften den Zusammenhalt beibrachte«.8 Bei einer Seuche dagegen hat Solidarität nichts Heroisches. Der einzige Weg, sich an Seuchen zu erinnern, besteht darin, sie als Kriege im Gedächtnis zu behalten. Die sogenannten »Pestsäulen« bilden in der Kunstgeschichte eine eigene Kategorie von Denkmälern. Es spricht für sich, dass sie oft als »Monumente, die den Sieg über die Pest feiern«, beschrieben werden.
Beim Kampf gegen Covid-19 geht es nicht um Leben und Tod; um es in den Worten des italienischen Physikers Carlo Rovelli zu sagen »gewinnt der Tod am Ende immer, wir sind sterblich. Es geht vielmehr darum, dass wir uns alle intensiv darum bemühen, einander etwas mehr Zeit für dieses kurze Leben zu geben, das uns trotz aller Leiden und Härten schön erscheint – heute mehr denn je.«9
Der Tod, den Covid-19 bringt, ist aber nicht nur sinnlos, sondern auch unwürdig. In allen Quellen aus Pestzeiten wird die Tragödie dadurch, dass die Menschen ohne angemessenes Begräbnis starben, für die zeitgenössischen Chronisten noch größer. Dieses Mal ist es nicht anders.
Die Angst vor Ansteckung hindert viele Familienmitglieder daran, ihre Verwandten auf ihrem letzten Gang zu begleiten, und in vielen Fällen gibt es gar keine Beisetzungsfeierlichkeiten.
Wir haben kaum Anhaltspunkte dafür, wann die Covid-19-Pandemie enden wird, und wir wissen auch nicht, wie sie enden wird. Wenn wir die Spanische Grippe als Maßstab...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2020 |
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Übersetzer | Karin Schuler |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
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ISBN-10 | 3-8437-2437-7 / 3843724377 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2437-1 / 9783843724371 |
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