Eigensinnige Musterschüler (eBook)

Ländliche Entwicklung und internationales Expertenwissen in der Türkei (1947-1980)
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
460 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44584-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eigensinnige Musterschüler -  Heinrich Hartmann
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Seit der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1923 spielten ausländische Experten beim Aufbau des neuen Staates eine zentrale Rolle. Anhand der Geschichte der Entwicklungspolitik in der ländlichen Türkei lassen sich gut die Erwartungshorizonte aufzeigen, die deutsche, amerikanische und türkische Akteure für das Land in der Nachkriegszeit formulierten, das in der Zeit zwischen Marshallplan, Bevölkerungskrise und neuer Migrationspolitik fest in globale Diskurse eingebunden war. Die Türkei wurde dabei, so die These dieses Buches, zu einem wichtigen Experimentierfeld neuer Praktiken von Entwicklungspolitik, da sich hier die Maximen der europäischen Integration und des globalen Krisendenkens begegneten. https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/

Heinrich Hartmann, Dr. phil., ist Privatdozent am Department Geschichte der Universität Basel; 2018/19 war er Fellow am Historischen Kolleg München.

Heinrich Hartmann, Dr. phil., ist Privatdozent am Department Geschichte der Universität Basel; 2018/19 war er Fellow am Historischen Kolleg München.

1.Das Dorf als Bühne – staatliche Modernisierung und internationales Expertenwissen seit der Gründung der türkischen Republik


Die türkische Republik hatte nach ihrer Gründung 1923 die Modernisierung des gesamten Landes und das Aufholen der ländlichen, randständigen Gebiete gegenüber den ökonomisch starken Zentren Istanbul und später auch Ankara weit oben auf ihre Fahnen geschrieben. Wie kaum ein anderes Land setzte die junge Republik dabei auf externe Berater, die einen solchen Prozess begleiten sollten. »Experten«, gerade auch aus dem Ausland, wurden zu prägenden Figuren in der politischen Kultur der jungen türkischen Republik.95 Einladungen der türkischen Regierung waren bei den ausländischen und gerade auch bei den amerikanischen Wissenschaftlern (Wissenschaftlerinnen kamen erst nach dem Zweiten Weltkrieg und auch nur sehr vereinzelt ins Land) nicht unbeliebt, denn neben der Büroarbeit in Ankara standen häufig Besuche der archäologischen Ausgrabungen der Ägäis, Kreuzfahrten durch das Mittelmeer und Stadtspaziergänge durch das orientalische Istanbul auf dem Programm.96 An- und Abfahrt nutzte man für einen Besuch bei Freunden in Europa. Zudem war die Regierung Mustafa Kemals ein guter Auftraggeber, der in osmanischer Tradition die ausländischen Experten wertschätzte. Die türkische Regierung ließ sich solche Besuche etwas kosten, denn es ging um viel. Das politisch-intellektuelle Klima der 1920er und 1930er Jahre war vom Versuch geprägt, die Staatsgewalt auf dem Land zu intensivieren und das Land so in das republikanische Projekt zu integrieren, anstatt die kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen Land und Stadt weiter zu vergrößern.97 Doch ihr Status, der Stellenwert ihres Wissens, ihre Bindung an die Türkei und ihre Kenntnisse des anatolischen Hinterlandes waren häufig eher marginal. Die Missionen dieser Gruppe von internationalen Sachverständigen waren in der Regel viel zu kurz, um wirklich fundierte Erkenntnisse und Studien über die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten in der Türkei sammeln und ausarbeiten zu können. Und das war meist auch nicht beabsichtigt – vielmehr ging es um die Bewertung vorhandener Daten und damit um die Legitimation politischer Programme. Expertenwissen konnte deshalb nur dort entstehen, wo andere Institutionen und Akteure bereits relevantes Material gesammelt hatten.

Zudem unterlag auch die Anwendung dieses Wissens politischen Ökonomien. Wer für die neue Regierung als Experte tätig sein konnte und wessen Konzepte später umgesetzt wurden, das war nicht nur von den politischen Entscheidungen in Ankara abhängig, sondern auch eine Frage von internationalen Konstellationen, von der Verfügbarkeit wissenschaftlichen Personals und – allgemeiner gesprochen – vom Interesse Europas und der USA an der Türkei, an ihren Ressourcen und ihrer strategischen Funktion in einem internationalen Beziehungsnetz, stellte doch die Türkei für viele politische Akteure ein gewaltiges Ressourcenpotential dar. Dies galt neben den amerikanischen Expertenkreisen insbesondere für einen Kreis deutscher Agrarexperten, zu denen sich seit den 1920er Jahren ein auch institutionell besonders enges Verhältnis etabliert hatte. Und auch in die osmanische Zeit gab es große Kontinuitäten. Seit den Tagen der »dette publique ottomane«98 war ausländische Expertise ein wichtiger Bestandteil des türkischen »policy making«-Prozesses. Es ergab sich also eine Art Dreiecksverhältnis, in dem türkische, europäisch-deutsche und US-amerikanische Experten das Verständnis und die Richtung der republikanischen Modernisierungspolitiken koproduzierten. Diese Vernetzung sollte sich über das weitere 20. Jahrhundert fortsetzen. Sie war geprägt von einem hohen wechselseitigen Interesse und von großer Kontinuität.

Das folgende Kapitel – wie auch die gesamte Untersuchung – wird keine Modernisierungsgeschichte der Türkei oder des türkischen Landes seit den frühen Tagen der Republik schreiben können. Vielmehr geht es um das Wissen, das die sozioökonmischen Dimensionen dieses Wandels spiegelte. Es definierte Themen und Vorhaben offizieller Modernisierungspolitik und reflektierte die soziale Situation der türkischen Bevölkerung in Zeiten weltweiter Unruhe und Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg, an dem das Land zwar nicht aktiv teilnahm, unter dem die Bevölkerung aber dennoch heftig litt. Die Themenfelder dieser Geschichte eines neuen Wissens über das türkische Land können nur exemplarisch vorgestellt werden, um daran inhaltliche Kernpunkte, aber auch Akteurskonstellationen und die wechselseitigen diskursiven und persönlichen Verknüpfungen von internationalem und nationalem Wissen greifbar zu machen. Zunächst steht dabei die Neudefinition des Konzepts einer anatolischen Bevölkerung in Zeiten politischer Reformen im Mittelpunkt. Diese war nicht mehr durch die ethnisch-kulturelle Diversität der osmanischen Zeiten, sondern durch neue ›moderne‹ Darstellungsvektoren beschrieben.99 Von hier ausgehend wendet sich die Untersuchung der Zusammenarbeit von türkischen Institutionen und internationalen Expertenkreisen im Bereich demographischer, ökonomischer, gesundheitspolitischer, agrarwissenschaftlicher und soziologischer Expertise zu. Im letzten Punkt des Kapitels wird dieses neue Wissen anhand einer Beispielregion oder vielmehr dem Interessenschwerpunkt der meisten Wissenschaftler in der Region von Ankara skizziert und greifbar gemacht.

1.1Entfremdete und verfremdete Bauern100 – Subjektkonstruktionen und Zählprojekte auf dem türkischen Land


Die Sozialgeschichte der Bauern in Anatolien ist ein ebenso klassisches wie umstrittenes Thema der türkischen Geschichtswissenschaften.101 Die großen Unterschiede im Wirtschaftssystem zwischen den türkischen Regionen, aber auch der sehr unterschiedliche Informationsgrad zu den jeweiligen lokalen Lebenswelten machten es seit osmanischen Zeiten nahezu unmöglich, ein eindeutiges Bild von der Sozialstruktur der türkischen Bauernschaft zu erlangen.102 Mit der jungtürkischen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts war diese Situation der Kleinbauern jedoch ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt; das Interesse an den Lebensverhältnissen der ländlichen Bevölkerung in verschiedenen Teilen des Landes wuchs mit der Angst vor der sozialen Sprengkraft, die mit der neuen Verarmung der Bauernschaft verbunden war.103

Die Agrarverfassung des Osmanischen Reiches war nicht feudal und kannte keine Form von Gutsherrschaft. Bauern produzierten nahe an der Subsistenzgrenze und boten überschüssige Waren auf lokalen Märkten an.104 Allerdings waren Bauern in diesen Strukturen nur in der Theorie frei. In der Praxis sammelte sich die politische und die wirtschaftliche Macht in den Dörfern schon im 19. Jahrhundert in den Händen von wenigen Akteuren, die den Zugang zu den Märkten monopolisierten, Sicherheit und Verkehrswege zur Verfügung stellten und durch ihre zentrale Distributions- und Zwischenhandelsfunktion einen de facto feudalen Status erreicht hatten.105 Dies waren vor allem die sogenannten ağas (Großgrundbesitzer), die in vielen Dörfern zugleich den muhtar (Dorfvorsteher) stellten. In den kurdischen Gebieten waren zudem Familien- und Stammesführer von großer Bedeutung.106 Über diese Schlüsselpositionen der ländlichen Gesellschaft wurden dabei nicht nur wirtschaftliche Ressourcen verteilt, sie unterhielten daneben auch die Beziehungen zu den valis (lokalen Richtern) und den übergeordneten kaymakam ((Steuer-)Verwaltern) der Bezirke, wodurch sie weit mehr als rein wirtschaftliche Macht im gesellschaftlichen Gefüge ausübten. Der Staat als Machtfaktor war in den Dörfern vielfach nur vermittelt präsent, da die Ansprechpartner für die Anliegen der lokalen Gesellschaft nicht staatliche Institutionen, sondern lokale Eliten waren. Diese besaßen bei der Vermittlung der Interessen zwischen Staat und Individuum eine entscheidende Schlüsselfunktion. In der lokalen Wahrnehmung einzelner Bauern kam dem Staat Anfang des 20. Jahrhunderts keine Rolle (mehr) zu. Feroz Ahmat fasst dies wie folgt zusammen: »To the peasant the existence of the state became virtually irrelevant even though he continued to pin great hopes on it as his saviour.«107 Diese latent vorhandene Spannung zwischen einer theoretischen und einer faktischen Agrarverfassung wie...

Erscheint lt. Verlag 24.6.2020
Reihe/Serie Globalgeschichte
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Agrarwissenschaft • Bevölkerungspolitik • Entwicklungshilfe • Europäische Integration • Globalgeschichte • Ländliche Entwicklung • Landwirtschaftsschule • Modernisierung • open access • Türkei
ISBN-10 3-593-44584-0 / 3593445840
ISBN-13 978-3-593-44584-7 / 9783593445847
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