Vita activa oder Vom tätigen Leben (eBook)

(Autor)

Thomas Meyer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
592 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99719-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vita activa oder Vom tätigen Leben -  HANNAH ARENDT
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WAS TUN, WENN WIR TÄTIG SIND? »Vita activa« im ursprüngliche Sinne meint Arbeiten, Herstellen und Handeln. Hannah Arendts umfassende Analyse gilt vor allem diesen drei Grundtätigkeiten. Sie untersucht darüber hinaus, wie sie sich im Laufe der Geschichte bis in die Neuzeit hinein zu verhalten haben. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Fetisch Arbeit und Konsum in der modernen Arbeitsgesellschaft im Zusammenhang mit dem Niedergang einer Kultur der politischen Öffentlichkeit bildet den Kern ihrer politischen Theorie. Kurt Sontheimer schrieb dazu: »Der Philosophie als einer theoretischen, auf die reine Erkenntnis der Natur gerichteten Disziplin stellte sie die Politik als die Sphäre der Praxis, als das Reich handelnder Menschen gegenüber.«

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Altgriechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte sie nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 war sie als Lektorin, danach als freie Schriftstellerin tätig. Sie war Gastprofessorin für Politische Theorie in Chicago und lehrte ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Zuletzt erschien bei Piper "Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?".

Einleitende Bemerkungen


Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal

War der Himmel schon so groß und still und fahl

Jung und nackt und ungeheuer wundersam

Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.

. . . . . . . . . . . .

Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal

War der Himmel noch so groß und still und fahl

Jung und nackt und ungeheuer wunderbar

Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war.

Bertolt Brecht

Die Menschen, die Welt, die Erde und das All – davon ist in diesem Buch ausdrücklich nicht die Rede. Auch nicht davon, wie die von Menschen errichtete Welt von der Erde weg in den Himmel sich streckt, von dem Himmel weg in das Weltall greift, in die Nachbarschaft von Sonne, Mond und Sternen. Wer dürfte wagen, davon schon zu reden, woran wir doch unaufhörlich denken, seitdem das erste von Menschen verfertigte Ding in das Weltall flog, um dort für eine Zeit in den gleichen, durch die Gravitation bestimmten Bahnen zu wandeln, die den Himmelskörpern seit Ewigkeit den Weg und den schwingenden Lauf vorzeichnen. Seither ist ein Satellit nach dem anderen in den Weltraum aufgestiegen, der Mond ist umflogen, und was noch vor zehn Jahren in unendlich erhabener Ferne, in den schweigenden Regionen eines unnahbaren Geheimnisses lag, muß sich nun gefallen lassen, den Weltraumvorrat jenseits des Himmels, der sich um die Erde wölbt, mit irdisch-menschlichen Gegenständen zu teilen.

An Bedeutung steht das Ereignis des Jahres 1957 keinem anderen nach, auch nicht der Atomspaltung, und man hätte annehmen können, daß es trotz aller Sorge um die militärischen und politischen Begleitumstände von den Menschen mit großem Jubel begrüßt werden würde. Seltsam, der Jubel blieb aus, und von Triumph war kaum etwas zu spüren, aber auch nichts von einem Gefühl des Unheimlichen, daß von dem bestirnten Himmel über uns nun unsere eigenen Apparate und Geräte uns entgegenleuchten sollen. Statt dessen stellte sich als erste Reaktion ein kurioses Gefühl der Erleichterung ein, »daß der erste Schritt getan sei, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen«. Und so phantastisch uns die Vorstellung anmuten mag, daß die Menschen, der Erde müde, sich auf die Suche nach neuen Wohnplätzen im Universum begeben, so ist sie doch keineswegs die zufällige Entgleisung eines amerikanischen Journalisten, der sich etwas Sensationelles für eine Schlagzeile ausdenken wollte; sie sagt nur, und sicher ohne es zu wissen, was vor mehr als zwanzig Jahren als Inschrift auf dem Grabstein eines großen Wissenschaftlers in Rußland erschien: »Nicht für immer wird die Menschheit an die Erde gefesselt bleiben.«

Was an solchen Äußerungen frappiert, ist, daß sie keineswegs verstiegene Phantasien von heute sind, als seien die neuesten Errungenschaften der Technik einigen Leuten zu Kopf gestiegen, sondern Allerweltsvorstellungen von gestern und vorgestern. Wie kann man nur angesichts dieses und ähnlicher Tatbestände meinen, das »Denken« der Menschen sei hinter den wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Entwicklungen zurückgeblieben! Es ist ihnen immer um Jahrzehnte vorausgeeilt, und zwar das Denken und Vorstellen von Jedermann, nicht nur dasjenige derer, die diese Entdeckungen leisten und ihre Entwicklung vorantreiben. Denn die Wissenschaft hat nur verwirklicht, was Menschen geträumt haben, und sie hat nur bestätigt, daß Träume keine Phantasie zu bleiben brauchen. Ein Blick in die Literatur der Science-Fiction, um deren seltsame Verrücktheit sich leider noch niemand ernsthaft gekümmert hat, dürfte lehren, wie sehr die moderne Entwicklung gerade den Wünschen und heimlichen Sehnsüchten der Massen entgegenkommt. Und die vulgäre und verkitschte Journalistensprache sollte nicht hindern einzusehen, daß das, was sie ausspricht, ganz und gar außerordentlich und keineswegs gewöhnlich ist, wenn wir damit das meinen, woran wir gewohnt sind. Denn obzwar das Christentum gelegentlich die Erde als ein Jammertal bezeichnet und die Philosophie gelegentlich den Körper als ein Gefängnis für Geist und Seele angesehen hat, so ist es doch vor dem zwanzigsten Jahrhundert niemandem in den Sinn gekommen, die Erde für ein Gefängnis des menschlichen Körpers zu halten, bzw. sich in allem Ernst darum zu bemühen, einen Ausflug auf den Mond zu machen. Sollte das, was die Aufklärung für die Mündigkeitserklärung des Menschen ansah und was in der Tat eine Abkehr, zwar nicht von Gott überhaupt, aber von dem Gott bedeutete, der den Menschen ein Vater im Himmel war, schließlich bei einer Emanzipation des Menschengeschlechts von der Erde enden, die, soviel wir wissen, die Mutter alles Lebendigen ist?

Denn wie immer es um »die Stellung des Menschen im Kosmos« bestellt sein mag, die Erde und die irdische Natur scheinen zumindest insofern einzigartig im Weltall zu sein, als sie solchen Wesen, wie Menschen es sind, die Bedingungen bereitstellen, unter denen sie ohne Umstände und ohne auf von ihnen selbst ersonnene Mittel angewiesen zu sein, leben und sich bewegen und atmen können. Die Welt als ein Gebilde von Menschenhand ist, im Unterschied zur tierischen Umwelt, der Natur nicht absolut verpflichtet, aber das Leben als solches geht in diese künstliche Welt nie ganz und gar ein, wie es auch nie ganz und gar in ihr aufgehen kann; als ein lebendes Wesen bleibt der Mensch dem Reich des Lebendigen verhaftet, von dem er sich doch dauernd auf eine künstliche, von ihm selbst errichtete Welt hin entfernt. Schon seit geraumer Zeit versuchen die Naturwissenschaften, auch das Leben künstlich herzustellen, und sollte ihnen das gelingen, so hätten sie wirklich die Nabelschnur zwischen dem Menschen und der Mutter alles Lebendigen, der Erde, durchschnitten. Das Bestreben, »dem Gefängnis der Erde« und damit den Bedingungen zu entrinnen, unter denen die Menschen das Leben empfangen haben, ist am Werk in den Versuchen, Leben in der Retorte zu erzeugen oder durch künstliche Befruchtung Übermenschen zu züchten oder Mutationen zustande zu bringen, in denen menschliche Gestalt und Funktionen radikal »verbessert« werden würden, wie es sich vermutlich auch in den Versuchen äußert, die Lebensspanne weit über die Jahrhundertgrenze auszudehnen.

Dieser zukünftige Mensch, von dem die Naturwissenschaften meinen, er werde in nicht mehr als hundert Jahren die Erde bevölkern, dürfte, wenn er wirklich je entstehen sollte, seine Existenz der Rebellion des Menschen gegen sein eigenes Dasein verdanken, nämlich gegen das, was ihm bei der Geburt als freie Gabe geschenkt war und was er nun gleichsam umzutauschen wünscht gegen Bedingungen, die er selbst schafft. Daß solch ein Umtausch im Bereich des Möglichen liegt, daran haben wir keinerlei Grund zu zweifeln, sowie wir ja auch leider keinen Grund haben, daran zu zweifeln, daß wir imstande sind, alles organische Leben auf der Erde zu vernichten. Die Frage kann nur sein, ob wir unsere neue wissenschaftliche Erkenntnis und unsere ungeheuren technischen Fähigkeiten in dieser Richtung zu betätigen wünschen; und diese Frage ist im Rahmen der Wissenschaften schlechthin unbeantwortbar, ja sie ist in ihrem Rahmen noch nicht einmal sinnvoll gestellt, weil es im Wesen der Wissenschaft liegt, jeden einmal eingeschlagenen Weg bis an sein Ende zu verfolgen. Auf jeden Fall ist diese Frage eine politische Frage ersten Ranges und kann schon aus diesem Grund nicht gut der Entscheidung von Fachleuten, weder den Berufswissenschaftlern noch den Berufspolitikern, überlassen bleiben.

Während dies alles noch Sache einer entfernten Zukunft sein mag, haben sich die ersten Rückschläge der großen wissenschaftlichen Triumphe in der sogenannten Grundlagenkrise der Naturwissenschaften selbst eingestellt. Es zeigt sich nämlich, daß die »Wahrheiten« des modernen wissenschaftlichen Weltbilds, die mathematisch beweisbar und technisch demonstrierbar sind, sich auf keine Weise mehr sprachlich oder gedanklich darstellen lassen. Sobald man versucht, diese »Wahrheiten« in Begriffe zu fassen und in einem sprechend-aussagenden Zusammenhang anschaulich zu machen, kommt ein Unsinn heraus, der »vielleicht nicht ganz so unsinnig ist wie ein ›dreieckiger Kreis‹, aber erheblich unsinniger als ein ›geflügelter Löwe‹« (Erwin Schrödinger). Wir wissen noch nicht, ob dies endgültig ist. Es könnte immerhin sein, daß es für erdgebundene Wesen, die handeln, als seien sie im Weltall beheimatet, auf immer unmöglich ist, die Dinge, die sie solcherweise tun, auch zu verstehen, d. h. denkend über sie zu sprechen. Sollte sich das bewahrheiten, so würde es heißen, daß unsere Gehirnstruktur, d. h. die physisch-materielle Bedingung menschlichen Denkens, uns hindert, die Dinge, die wir tun, gedanklich nachzuvollziehen – woraus in der Tat folgen würde, daß uns gar nichts anderes übrigbleibt, als nun auch Maschinen zu ersinnen, die uns das Denken und Sprechen abnehmen. Sollte sich herausstellen, daß Erkennen und Denken nichts mehr miteinander zu tun haben, daß wir erheblich mehr erkennen und daher auch herstellen können, als wir denkend zu verstehen vermögen, so würden wir wirklich uns selbst gleichsam in die Falle gegangen sein, bzw. die Sklaven – zwar nicht, wie man gemeinhin glaubt, unserer Maschinen, aber – unseres eigenen Erkenntnisvermögens geworden sein, von allem Geist und allen guten Geistern verlassene Kreaturen, die sich hilflos jedem Apparat ausgeliefert sehen, den sie überhaupt nur herstellen können, ganz gleich wie verrückt oder wie mörderisch er sich auswirken möge.

Aber auch abgesehen von diesen letzten, noch im Ungewissen liegenden Folgen hat die Grundlagenkrise der Wissenschaften ihre ernsten politischen Aspekte. Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind....

Erscheint lt. Verlag 12.10.2020
Co-Autor Hans-Jörg Sigwart
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Banalität des Bösen • Benjamin • Buch • Bücher • Denktagebuch • Denkwege • Essays • Gesellschaft • Heidegger • Konsumgesellschaft • Philosophie • Philosophin • Ratgeber • Totalitarismus • Vita activa • vom tätigen Leben
ISBN-10 3-492-99719-8 / 3492997198
ISBN-13 978-3-492-99719-5 / 9783492997195
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