Das Buch Alice (eBook)

Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten
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2020 | 1. Auflage
464 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2357-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Buch Alice -  Karina Urbach
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Einst erfolgreiche Kochbuch-Autorin, verliert die Wiener Jüdin Alice Urbach unter den Nationalsozialisten Heimat, Familie und Karriere. Sie flieht nach England, wo sie jüdische Kinder betreut. Später emigriert sie nach New York, gibt Kochkurse in San Francisco und stellt im amerikanischen Fernsehen ihre besten Rezepte vor. In einer Wiener Buchhandlung findet sie nach dem Krieg sogar ihr Buch wieder. Doch wer ist der Mann, dessen Name auf dem Umschlag prangt? Hat es den 'Küchenmeister' Rudolf Rösch je gegeben? Recherchen führen Alice' Enkelin Karina Urbach in Wiener, Londoner und Washingtoner Archive, in denen sie längst verloren geglaubte Briefe, Tonband- und Filmdokumente findet. Sie eröffnen ein bislang unbekanntes Kapitel in der Geschichte deutscher NS-Verbrechen.

Karina Urbach wurde an der Universität Cambridge promoviert. Für ihre Habilitation erhielt sie den bayerischen Habilitationsförderpreis. Sie arbeitete am Deutschen Historischen Institut London und der Universität London. Seit 2015 forscht sie am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie war an mehreren historischen Dokumentationen des ZDF, der BBC und des amerikanischen Senders PBS beteiligt. Neben Sachbüchern wie 'Hitlers heimliche Helfer' und 'Queen Victoria. Die unbeugsame Königin' veröffentlichte sie auch den historischen Roman 'Cambridge 5' der für mehrere Preise nominiert wurde.

Karina Urbach wurde an der Universität Cambridge promoviert. Für ihre Habilitation erhielt sie den bayerischen Habilitationsförderpreis. Sie arbeitete am Deutschen Historischen Institut London und der Universität London. Seit 2015 forscht sie am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie war an mehreren historischen Dokumentationen des ZDF, der BBC und des amerikanischen Senders PBS beteiligt. Neben Sachbüchern wie "Hitlers heimliche Helfer" und "Queen Victoria. Die unbeugsame Königin" veröffentlichte sie auch den historischen Roman "Cambridge 5" der für mehrere Preise nominiert wurde.

Ein blinder Vater und ein schlechter Kartenspieler

»Schau ich mir die Juden an,
Hab ich wenig Freude dran.
Fallen mir die anderen ein,
Bin ich froh, ein Jud zu sein.«

Albert Einstein1

Es war eine lange, schmale Gasse. Die Häuser klebten eng aneinander, jeder Zentimeter Wohnraum musste genutzt werden. Im Parterre lagen die Läden, vollgestopft mit Stoffen, einen Stock höher die Wohnräume, vollgestopft mit Menschen. Es lebten ungefähr 5000 Leute hier, auch wenn es offiziell sehr viel weniger waren. Nicht jeder wollte gemeldet sein, manche kamen illegal bei Freunden und Verwandten unter. In dieser Judengasse, im Pressburger Getto, 60 Kilometer östlich von Wien, begann Alice’ Geschichte. Hier wuchs ihr Großvater Salomon Mayer (1798–1883) auf. Laut einer Familienanekdote stand er als Siebenjähriger mit seinen Eltern am Fenster der kleinen Wohnung und beobachtete, wie Weltgeschichte geschrieben wurde. Seine Mutter soll nach draußen gedeutet und zu ihm gesagt haben: »Schau auf diesen kleinen Mann da unten auf seinem weißen Pferd. Alle Welt zittert vor ihm. Sein Name ist Napoleon.«2

Wie so oft bei Familienanekdoten ist auch diese nicht sehr zuverlässig. Der Friede von Pressburg, dem heutigen Bratislava, wurde zwar im Dezember 1805 nahe der Judengasse geschlossen, aber bei den Unterzeichnern handelte es sich um Napoleons Außenminister Talleyrand und Johann Joseph Fürst von Liechtenstein, der die Habsburger vertrat. Napoleon selbst kam erst vier Jahre später nach Pressburg. Vielleicht hatte man sich also einfach in der Jahreszahl geirrt, und Salomon war bereits elf Jahre alt, als er den französischen Kaiser sah. Die Farbe des Pferdes ist allerdings ebenfalls nicht ganz exakt – Napoleons Schlachtpferd war ein hellgrauer Araber namens Marengo. Natürlich könnte es sein, dass Salomons Mutter annahm, das Pferd wäre einfach nur etwas schmutzig von der letzten Schlacht und im Original bestimmt weiß.3 Fantasie zu entwickeln war im Getto wichtig, um das Grau des Alltags zu verdrängen. Ein weißes Pferd klang auf jeden Fall sehr viel romantischer als ein graues.

Ob Salomon nun Napoleon und sein Pferd 1809 wirklich gesehen hat oder nicht – der entscheidende Grund, warum die Szene einen so hohen Stellenwert für ihn und die anderen Pressburger Juden hatte, wird in der Anekdote nicht erwähnt. Man musste es nicht erklären, weil es damals jeder wusste: Napoleon verkörperte die Französische Revolution, und Frankreich war für viele Juden zum Sehnsuchtsland geworden. Seit 1791 war es dort der jüdischen Bevölkerung erlaubt, freie Franzosen zu werden, die sich – zumindest theoretisch – nur noch durch ihre Religion vom Rest der Bevölkerung unterschieden. In den Augen der Pressburger Juden trug Napoleon diese Idee mit sich durch ganz Europa. Deswegen platzierten sich die Mayers in ihrer Familienerinnerung am Fenster, wo sie sahen, was sie sehen wollten. Jahreszahl und Pferd spielten letztlich keine Rolle, relevant war allein die Hoffnung auf eine angstfreie Zukunft. Es war eine Art Gründungsmythos für die Mayers, und Alice’ Bruder Felix spielte später sogar mit dem Gedanken, eine Familiengeschichte mit dem Titel »Von Napoleon zu Hitler« zu schreiben. Er stellte dafür eine kleine Statistik auf, die zu dem Ergebnis kam, dass es in seiner Verwandtschaft überraschend wenig Scheidungen und Krebserkrankungen, dafür aber zwei Selbstmorde gegeben hatte. Kein Mayer war – laut Felix’ Statistik – jemals kriminell geworden,4 allerdings fielen zahlreiche Familienmitglieder einem Jahrhundertverbrechen zum Opfer. Am Ende konnte Felix sich nicht dazu durchringen, dieses Verbrechen zu beschreiben. Aus seinem Buchprojekt wurde nichts.

Die Familiengeschichte begann also mit Salomon Mayer am Fenster. Salomon war für seine Abkömmlinge auch deshalb von großer Bedeutung, weil er im Leben immer die richtigen Entscheidungen traf. Dazu gehörte es, eine kluge Frau zu heiraten, mit der man etwas Großes aufbauen konnte. Antonia (Tony) Frankl (1806–1895) war eine solche Frau, und sie wurde Teil der Familienlegende.5 Im Pressburger Getto gab es damals 30 Textilgroßhändler, und dank Tonys gutem Geschmack gehörten die Mayers zu den erfolgreichsten.6 Tony arbeitete nicht nur ausgesprochen hart, sie gebar nebenher auch noch 16 Kinder, von denen nur neun überlebten. Das war für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich. Kinder wurden ständig geboren und starben mit zuverlässiger Regelmäßigkeit. Es gab unendlich viele Krankheiten, an denen Kleinkinder sterben konnten – Keuchhusten, Typhus, Durchfall, Scharlach, Zahnfieber, Masern, Fleckfieber. Die Kindersterblichkeitsrate scheint im Getto allerdings überdurchschnittlich hoch gewesen zu sein. Alice’ Vater Sigmund machte für den frühen Tod seiner Geschwister die großen hygienischen Missstände verantwortlich. In seinen Lebenserinnerungen beschrieb er die primitiven Wohnverhältnisse im Getto:

Hölzerne, wacklige, vollständig finstere Treppen führten zu den Wohnungen, deren rückwärtige, an den Berg stoßende Hälften nicht anders als feucht und dunkel sein konnten. Die Kanalisierung war elend, der Luftzutritt durch den winzigen Hofraum vollständig ungenügend, die Atmosphäre war schwer und dumpf. Kein einziges Haus besaß einen Brunnen. Die ganze Bevölkerung musste aus den zwei Gemeindebrunnen ein schlechtes, kaum genießbares Wasser schöpfen.7

Aber es gab noch andere Gründe, warum Sigmund das Getto hasste. Seiner festen Überzeugung nach hatten er und seine Geschwister nie gelacht. Er konnte sich auch an kein einziges spielendes Kind in der Judengasse erinnern. Hier existierte nur ein Gefühl – Angst. Wer im Getto leben musste, war eingeschlossen, im wahrsten Sinne des Wortes. Jeden Abend wurde die »Gasse von der städtischen Polizei durch schwere eiserne Gitter abgesperrt«.8 Offiziell schützten die Gitter die Christen vor den »gefährlichen« Juden. In Wahrheit ging es darum, Gewalttaten gegen die Juden zu verhindern. Und mit dieser Gewalt war jederzeit zu rechnen. Tagsüber kamen die Pressburger zwar in die jüdischen Geschäfte, um billig einzukaufen, aber die Stimmung konnte schnell umschlagen. Wer am Morgen bei Juden Seide, Kurzwaren, Leinen, Pinsel, Knöpfe und Kämme eingekauft hatte, der ärgerte sich vielleicht schon abends über den Preis. Sigmund erinnerte sich an einen katholischen Kaufmann namens Philipp Scherz, mit dem die Familie zusammenarbeiten musste und der zu sagen pflegte: »Jud und Schwein sind nicht zu schätzen, bis sie tot sein.«9

Man lebte nicht nur in Angst vor feindseligen Kunden und Geschäftspartnern, sondern auch vor dem Vermieter, der einen jederzeit auf die Straße setzen konnte. Selbst wenn man genug Geld gespart hatte, durfte man als Jude kein eigenes Haus in der Judengasse kaufen. Es war nur auf Umwegen möglich – indem man einen christlichen Strohmann ein Haus erwerben ließ und mit ihm einen Nießnutz- oder Erbpachtvertrag abschloss.10

Die Angst der Erwachsenen, jederzeit alles verlieren zu können, übertrug sich auch auf die Kinder. Sie wurden von ihren christlichen Altersgenossen regelmäßig verprügelt und durften sich nicht darüber beschweren, geschweige denn wehren. Aber nicht nur die Außenwelt galt als bedrohlich, auch im Inneren tobten die Auseinandersetzungen. Die jüdischen Schullehrer ließen ihre Aggressionen an den Kindern aus und prügelten das Wissen in sie hinein. Natürlich unterschieden sie sich damit nur marginal von nichtjüdischen Lehrern, aber die Gewissheit, weder in der Schule noch auf der Straße vor Prügeln sicher zu sein, machte das Leben zur Tortur. Das permanente Gefühl, allem und jedem ausgeliefert zu sein, ließ die Gettobewohner im schlimmsten Fall resignieren, im besten Fall sarkastisch werden. Diese Verhaltensweisen waren für Sigmund der Schlüssel, um die Werke großer jüdischer Autoren zu verstehen: »Nur wer mit diesen Gefangenen der Judengasse mitgelebt und mitgelitten, versteht den grimmigen Hohn Ludwig Börnes, den Zynismus Heines, begreift, warum … Ferdinand Lasalle und Karl Marx gerade Juden waren.«11

Man konnte das Getto zwar verlassen, aber das Getto verließ einen nie. In seinen Erinnerungen beschreibt Sigmund die Judengasse in so drastischer Weise, dass man fast vergisst, wie früh er ihr entkommen konnte. Er war elf Jahre alt, als das Pressburger Getto 1842 geöffnet wurde und die Mayers in ein besseres Haus umzogen. Die Überlebenschancen von Sigmund und seinen nachgeborenen Geschwistern erhöhten sich damit. Sie entkamen den schlechten hygienischen Zuständen und wuchsen gesünder auf.12

Als Sigmund Mayer 1917 sein Buch Die Wiener Juden publizierte, war er der festen Überzeugung, eine längst überwundene Tristesse zu beschreiben: »Nur sehr wenige der jetzt noch Lebenden werden ein echtes … Ghetto gekannt haben.«13 Für ihn war es völlig offensichtlich, dass diese Monstrosität niemals wiederkehren würde. Dass 1942 drei seiner Kinder aus ihrer bürgerlichen Realität in ein Getto zurückgestoßen wurden, musste er nicht mehr miterleben. Seine Tochter Alice entkam diesem Schicksal, und das lag ironischerweise auch daran, dass man sie in der Familie immer übersehen hatte.

Alice bewunderte und fürchtete ihren Vater. Für beides hatte sie gute Gründe: »Mein Vater war eine imposante Persönlichkeit. Er war relativ klein, was ihn ein Leben lang ärgerte, aber...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alice im Wunderland • Anna Freud • Arisierung • Bücherdiebe • C.H. Beck • CIA • Dachau • England • Ernst-Reinhardt-Verlag • Exil • Fernsehköchin • Geheimdienst • Judentum • Kindertransport • Kochschule • Konzentrationslager • London • Nationalsozialismus • New York • Rudolf Rösch • So kocht man in Wien! • Spion • Starköchin • Urheberrecht • Wiener Küche
ISBN-10 3-8437-2357-5 / 3843723575
ISBN-13 978-3-8437-2357-2 / 9783843723572
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