Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (eBook)

Universale Werte für das 21. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2408-1 (ISBN)

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Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten -  Markus Gabriel
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Dieses Buch ist ein philosophisches Handbuch, das einen Entwurf der Aufklärung gegen den Wertenihilismus unserer Zeit bietet. Markus Gabriel gibt uns eine neue Antwort auf die Hauptfrage der Philosophie: 'Was ist der Mensch?' Die Krise der liberalen Demokratie und die Ausbreitung des Populismus folgen dem Muster einer Selbstabschaffung des Menschen. Der Diskurs über Künstliche Intelligenz und die hemmungslose Digitalisierung verstärken diese fatale Entwicklung noch. Doch trotz aller gegenwärtigen Rückschläge: Die Menschheit ist zu moralischem Fortschritt fähig. In seinem engagierten Buch zeigt Markus Gabriel, Deutschlands weltweit bekanntester Gegenwartsphilosoph, warum es nicht verhandelbare, universale Grundwerte gibt, die für alle Menschen gelten. Er zeigt: Wir bedürfen dringend eines innovativen Konzepts der Kooperation von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, um ein Gesellschaftssystem zu entwerfen, das auf moralischen Fortschritt zielt.  'Einer der wichtigsten deutschen Philosophen der Gegenwart' Süddeutsche Zeitung

Markus Gabriel, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1) sowie der New School for Social Research in New York City.  

Markus Gabriel, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1).

Erstes Kapitel
Was Werte sind und warum sie universal sind


Im vorliegenden Kapitel geht es um die ethischen Grundbegriffe der neuen Aufklärung, die sich aus einigen Kernthesen ergeben. Die Kernthesen des Neuen Moralischen Realismus15 lauten:

Kernthese 1: Es gibt von unseren Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen. Diese bestehen objektiv.

Kernthese 2: Die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen sind wesentlich durch uns erkennbar, also geistabhängig. Sie richten sich an Menschen und stellen einen Moralkompass dessen dar, was wir tun sollen, tun dürfen oder verhindern müssen. Sie sind in ihrem Kernbestand offensichtlich und werden in dunklen Zeiten durch Ideologie, Propaganda, Manipulation und psychologische Mechanismen verdeckt.

Kernthese 3: Die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen gelten zu allen Zeiten, in denen es Menschen gab, gibt und geben wird. Sie sind von Kultur, politischer Meinung, Religion, Geschlecht, Herkunft, Aussehen und Alter unabhängig und deswegen universal. Die moralischen Tatsachen diskriminieren nicht.

Kernthese 1 werde ich als moralischen Realismus ansprechen. These Nummer 2 betrifft uns Menschen als diejenigen freien geistigen Lebewesen, an die moralische Ansprüche ergehen. Sie nenne ich deswegen Humanismus. Nummer 3 schließlich bezeichnet man üblicherweise als Universalismus.16

Als einprägsamen Slogan dieses Kapitels können wir zwei fiktive Staatenkonzepte miteinander kontrastieren. Das erste nenne ich PRN. P steht für Pluralismus, R für Relativismus und N für Nihilismus. Die Konstellation von Wertepluralismus, Werterelativismus und Wertenihilismus halte ich für ein Übel, weil darunter insgesamt die Idee zu verstehen ist, dass moralische Kodizes, also Wertesysteme, einfach nur dadurch entstehen und aufrechterhalten werden, dass sich eine mehr oder weniger beliebige Gruppe von Menschen ihnen verschreibt. Werte sind diesem Modell zufolge Glaubenssätze, die eine Gruppe zusammenhalten, sodass ihre Geltung auch nur auf eine Gruppe beschränkt ist.

Ein Beispiel dafür wären die Wertvorstellungen einer evangelikalen, fundamentalistisch-christlichen Gemeinde, die jegliche Form von Abtreibung sowie jeglichen Alkoholkonsum, gleichgeschlechtlichen Sex und in vielen Fällen sogar Kaffee und Tee als moralisch abwegig, da in den Augen Gottes verwerflich betrachtet. Viele christlich-fundamentalistische Gruppen, etwa die Zeugen Jehovas, glauben auch, es gebe nur einige auserwählte Menschen, an die sich Gott mit seinen moralischen Geboten richte. Die meisten Menschen sind in ihren Augen von vornherein verdammt und werden entweder in der Hölle schmoren oder einfach ausgelöscht.

Weniger radikal (aber genauso falsch) ist die Idee, dass es »deutsche« Werte wie Pünktlichkeit und Präzision gebe, die etwa in Italien nicht gelten, wo man sich nicht an den Minutentakt der Uhrzeit halte und keinen großen Wert darauf lege, Arbeitsvorgänge mit deutscher Genauigkeit auszuführen. Diese Vorstellung hatte fatale Folgen: Während Italien in der Corona-Krise dringend die logistische und finanzielle Hilfe anderer europäischer Länder gebraucht hätte, um die Überlastung seines Gesundheitssystems durch schwere Verläufe der COVID-19-Erkrankung in den Griff zu bekommen, weigerten sich seine europäischen Partner zunächst, diese anzubieten. In Deutschland hörte man vermehrt, das Problem in Norditalien sei eben ein Ergebnis kultureller Defizite – »italienisches Chaos« halt. Ein moralisch verwerfliches, nachweisbar falsches Stereotyp. Es trifft nicht zu, dass das norditalienische Gesundheitssystem aus irgendwelchen kulturellen Gründen durch die Corona-Pandemie an seine Grenzen gekommen ist. Die furchtbare Tragik in Norditalien und andernorts ist kein Ausdruck lokaler Kulturprobleme, sondern könnte genauso gut durch die Ausbreitungslogik des Virus zu erklären sein, die bisher noch nicht geklärt ist, weil uns die Daten und Studien dafür fehlen. Dass Deutschland mehr Intensivbetten pro Einwohner als Italien hat, liegt nicht an etwaigen »deutschen Werten«, sondern an der Organisation unseres Gesundheitssystems und unseren besser aufgestellten Staatsfinanzen. Nationalistischer Unsinn kann vermieden werden, wenn wir moralische Klarsicht beweisen, ohne die es keine Ethik, keine rationale Erforschung der moralischen Tatsachen geben kann.

Gegen PRN verteidigt die neue Aufklärung das Ideal einer »Republik der Humanistischen Universalisten« (RHU), deren moralphilosophische Grundverfassung, wie wir sehen werden, erfreulicherweise weitgehend unserem Grundgesetz entspricht. R steht hierbei für Realismus, H für Humanismus und U für Universalismus.

Das Grundgesetz hat in den letzten siebzig Jahren auch deswegen progressiv gewirkt, weil es als Ergebnis dieser dunklen Zeit zustande gekommen ist. Selbst die nationalsozialistische Diktatur hat die Lichter der Aufklärung nicht gänzlich ausblasen können. Das ist jetzt keine Empfehlung zu deutschnationalistischer Selbstüberschätzung und auch kein Plädoyer für einen harmlosen Verfassungspatriotismus, sondern der Hinweis auf eine Konstellation, die sich als Reaktion auf den schlimmsten Abgrund der deutschen Geschichte ergeben hat.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland formuliert einen Wertekatalog mit universalem Anspruch, der nicht nur deutsche Staatsbürger (die offensichtlichen Adressaten dieses Texts), sondern alle Menschen betrifft. Es ist eine keineswegs wertneutrale Grundlage, auf der sich ein politischer Parteienkampf entfaltet, der sogar in einer Aufhebung der Demokratie selbst resultieren darf. Deswegen ist unsere heutige Wertekrise zugleich eine Demokratiekrise: Wer den Universalismus beschädigt, wendet sich gegen die Idee, dass unsere Gemeinschaft darauf aufbaut, dass wir alle Menschen sind, die allein schon deshalb bestimmte Rechte und Pflichten haben. Dazu gehören das Recht auf freie Entfaltung unserer Persönlichkeit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht darauf, vor Gericht nicht aufgrund von Geschlecht, Sprache, Herkunft, Einkommen usw. benachteiligt zu werden.

Gerne wird übersehen, dass aus unseren Grundrechten Pflichten folgen: Wer das Recht hat, etwa durch rassistische Stereotype oder Homophobie nicht benachteiligt zu werden, hat genau deswegen auch die Pflicht, niemand anderen auf diese Weise zu benachteiligen. Die Grundrechte sollen uns zu unseren Menschenrechten verhelfen. Zu den Menschenrechten gehört vieles, was wir rechtlich nicht kodifiziert haben: das Recht auf Wohnraum, das Recht auf Umweltschutz (der es uns ermöglicht, hinreichend saubere, unserem Wohlempfinden als Menschen entsprechende Luft zu atmen), das Recht auf Freizeit, das Recht auf Rente und überhaupt auf alles, was dafür sorgt, dass wir in einer solidarischen Gemeinschaft leben können, deren Ziel es ist, moralischen Fortschritt und Kooperation zu begünstigen.

Ich werde im vorliegenden Kapitel dafür argumentieren, dass moralische Tatsachen weder in Gott noch in der allgemeinen Menschenvernunft noch in der Evolution, sondern in sich selbst begründet sind. Wie viele andere Tatsachen auch bedürfen sie keiner Begründung, sondern einer Erkenntnis, die es erlaubt, ihre Konturen zu erfassen. Es gibt moralische Selbstverständlichkeiten, etwa: Du sollst keine Neugeborenen quälen. Niemand, weder ein Chinese noch ein Deutscher, Russe, Afrikaner oder Amerikaner; kein Moslem, Hindu, Atheist usw. wird daran ernsthaft zweifeln. Es gibt sehr viele solcher moralischen Selbstverständlichkeiten, die alle Menschen sofort einsehen – was wir aber aus dem Blick verlieren, weil uns in moralischen Fragen meistens die schwierigen, komplexen moralischen Probleme beschäftigen, in denen Gemeinschaften voneinander abzuweichen scheinen.

Es gibt keinen moralischen Algorithmus, keine Regel und kein Regelsystem, das alle moralischen Probleme ein für alle Mal abhandelt.

Ein Beispiel kann das illustrieren. Bis vor kurzem dachten viele Menschen (und viele denken es immer noch), es sei völlig in Ordnung, ja sogar geboten und wünschenswert, Kinder körperlich zu züchtigen. Vielleicht dachten in der Vergangenheit sogar manche Kinder, das täte ihnen gut, weil man ihnen dies tagein, tagaus unter Hinweis auf vermeintliche Tatsachen weismachte. Körperliche Züchtigung, so hätte man glauben können, ist zwar unangenehm, aber sinnvoll, genauso wie z. B. eine Grippeschutzimpfung. Doch die in der Moderne erst langsam entstehenden Disziplinen der wissenschaftlichen Psychologie, Soziologie, Religionswissenschaft und Neurobiologie haben uns mittlerweile gezeigt, dass körperliche Züchtigung traumatisiert und dass Gewalt und Grausamkeit in der Familie sogar eine wichtige Grundlage für totalitäre Regime sind, die auf häuslicher Gewalt aufbauen.

Es ist natürlich prinzipiell denkbar, allerdings ausgesprochen unwahrscheinlich, dass es in fünfzig Jahren Erkenntnisse gibt, die zeigen, dass körperliche Züchtigung doch entscheidend zur Reifung beiträgt und dass mit heutigen Maßstäben sanft erzogene Kinder zu brutalem kapitalistischen, die Umwelt zerstörenden Konsum neigen, sodass wir wieder zur Rute greifen müssen. Doch selbst wenn das so wäre, wären die zukünftigen Gründe, die uns als Rechtfertigung...

Erscheint lt. Verlag 3.8.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Aufklärung • Autokratie • Bestseller • Bildung • Carlo Schmid • Corona • Covid-19 • Demokratiekrise • Diktatur • Diskriminierung • Ethik • Existentialismus • Gegenwart • Gesellschaft • Hannah Arendt • Heidegger • Heute • Humanismus • Kant • Kategorischer Imperativ • Klimawandel • Krise • Kulturpessimismus • Künstliche Intelligenz • liberale Demokratie • Moderne • Neoliberalismus • Neuer Realismus • Nietzsche • Nihilismus • Populismus • Postmoderne • Rassismus • Trump • Universalismus • Wahlen • Werte • Wertedebatte • Werterelativismus
ISBN-10 3-8437-2408-3 / 3843724083
ISBN-13 978-3-8437-2408-1 / 9783843724081
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