Zwischen den Zeiten (eBook)
320 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2603-7 (ISBN)
Ein neuer Blick auf die DDR der 80er Jahre.
Die Biermann-Ausbürgerung hatte die DDR-Gesellschaft 1976 in eine Melancholie gestürzt, aus der sie 1985 mit Michail Gorbatschow erwachte. Jetzt kehrte die Utopie zurück. Vor allem Intellektuelle, Künstler und Aussteiger aller Art lebten sie. Dem westlichen Siegerblick nach 1990, der die Geschichte der Ostdeutschen bis heute dominiert, entgeht zumeist dieser Emanzipationsprozess, der lange vor 1989 einsetzte. Umso mehr scheint hier eine Korrektur nötig: die Aneignung der eigenen - höchst widersprüchlichen - Geschichte durch die Akteure dieser Geschichte.
»Brilliant und unterhaltsam erzählt.«, FAZ über '1965. Der kurze Sommer der DDR'.
Gunnar Decker, 1965 in Kühlungsborn geboren, studierte von 1985 bis 1990 Philosophie an der Berliner Humboldt Universität und promovierte in Religionsphilosophie. Er lebt als Autor in Berlin, veröffentlichte vielfach gelobte Biographien unter anderem zu Hermann Hesse, Gottfried Benn und Franz Fühmann sowie das Geschichtsbuch »1965. Der kurze Sommer der DDR«. 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Ernst Barlach - Der Schwebende. Eine Biographie.'
Die Zeit der großen Beerdigungen
Dostoprimetschatelnosti
Diese für nicht im Russischen Trainierte schier unaussprechbare Vokabel – Dostoprimetschatelnosti – heißt: Sehenswürdigkeiten. Jeder, der in der DDR eine zehnklassige Polytechnische Oberschule besuchte, kannte sie. Denn in jeder Stadt, gleich ob in der Sowjetunion oder der DDR, gab es solche Sehenswürdigkeiten, die es aufzuzählen und mit neuen Vokabeln zu verbinden galt. Der Russischunterricht dauerte lange. Sechs Jahre auf der Polytechnischen Oberschule, acht Jahre auf der zwölfklassigen Erweiterten Oberschule – und wer dann an der Universität studierte, bekam noch mal zwei weitere, macht zehn Jahre. Doch für diese immense Unterrichtsdauer war unser aktives russisches Sprachvermögen gering.
Ein Stück antirussischer Sprachverweigerung scheint immer im Spiel gewesen zu sein, denn die russischen Freunde waren schließlich auch die Besatzer. Doch ein Zungenbrecher war das Wort Dostoprimetschatelnosti für uns nun nicht gerade. Und immerhin, zehn Jahre Russisch reichten, dass ich als Richtschütze bei den NVA-Panzertruppen in Eggesin/Torgelow alle ausschließlich auf Russisch (mit kyrillischen Buchstaben) beschrifteten Bedienungs- und Warnhinweise samt dazugehöriger Knöpfe, Schalter und Hebel des ziemlich modernen T-72 drücken lernte, ohne größere Katastrophen zu verursachen – was durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätte.
So also begleitete uns nicht nur die russische Sprache wohl oder übel durch den Alltag der DDR, auch das Denken und Fühlen der Russen sickerte mit den Jahren in uns ein – obwohl nicht jeder die passiven Neigungen von Gontscharows Gesellschaftsverweigerer Oblomow in sich fühlte.
Das Prinzip »Zeit ist Geld« haben wir jedenfalls nicht erfunden. Chef sein war eine Strafe und Karriere ein Schimpfwort.
Aitmatows, Granins, Bulgakows, Schatrows oder Rasputins Bücher, Michalkows, Abuladses, Tarkowskis oder Klimows Filme prägten uns. Aber es waren auch politische Koordinaten (der potenzielle Feind stand nun mal im Westen), mit denen wir aufwuchsen – aber gegen deren Indoktrination fanden wir reichlich westliche Korrektive, von Radio Luxemburg bis zur »Tagesschau«, nur nicht bei der NVA, da war das mediale Auswandern auf Zeit strikt verboten. Außerhalb derartiger kaderschmiedender Sicherheitszonen war es in den achtziger Jahren längst so normal geworden wie Westgeld im Portemonnaie und der Besuch im Intershop.
Doch die – sichtbare wie unsichtbare – Daueranwesenheit der Russen hatte nicht nur einen freundlichen folkloristischen Aspekt, wir waren – als Teilstaat des östlichen Imperiums – auch ein Teil der osteuropäischen Geschichte geworden, mit Stalin, dem Gulag, der Wolokolamsker Chaussee, die ebenso zu uns gehörten wie Chruschtschows Entstalinisierungsversuche oder die bleierne Zeit unter Breschnew, dann der Hoffnungsfunke 1985 mit Gorbatschow und seiner Politik der Umgestaltung.
Die aber sollte, was uns als Studenten geradezu umstürzlerisch stimmte, laut SED-Spitze in der DDR gar nicht (niemals!) stattfinden, denn so SED-Propagandachef Kurt Hager am 9. April 1987 im Interview mit dem Stern: »Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?«
Solche Dostoprimetschatelnosti aller Art gehören zum östlichen deutschen Teilvolk, das ohne sie und die – komisch-grotesken, aber auch tragischen – Schatten, die sie warfen, nicht zu verstehen ist.
Darum blickten wir, anders als es der gegenwärtige Zeitgeist suggeriert, nicht bloß nach Westen, sondern immer auch nach Osten.
Erwin Strittmatter, anfänglich ein politisch eher konformistischer Schriftsteller, der erst durch die heftigen Reaktionen, die einige seiner Bücher erfuhren, vor allem Ole Bienkopp von 1963 und Wundertäter III von 1980, immer stärker auf Distanz zur herrschenden SED-Politik ging, registriert in seinen Tagebüchern diesen Wandlungsprozess, der wesentlich von sowjetischen Autoren angestoßen wurde. Am 27. November 1979 sieht er im Deutschen Theater in Berlin Majakowskis Schwitzbad von 1929 in der Regie von Friedo Solter, mit Dieter Franke in der Hauptrolle als Koprochef, der sich im selbst geschaffenen bürokratischen System gefangen gesetzt hat. Diese Inszenierung steht viele Jahre auf dem Spielplan, in 131 Aufführungen sind die Reaktionen des Publikums von überbordender Begeisterung. Strittmatter notiert: »Es war ein kräftiger Spaß. Der größte Teil des Publikums amüsiert sich. Funktionäre, zumindest etwas höhere, besuchen, vermute ich, die Vorstellungen nicht, sonst wären sie durch die tosenden Zuschauer, ihren Nebenleuten, in die Lage versetzt, über ihre Dummheiten zu lachen und sie auszuklatschen.«
Aber dann erinnert er sich, dass er das Stück 1960 schon einmal an der Volksbühne gesehen hatte, von einem sowjetischen Regisseur inszeniert – und da war er selbst, als Sekretär des Schriftstellerverbandes, noch ein Funktionär und reagierte beleidigt: »Ich hielt das Stück politisch für gefährlich und verließ meine Loge vor dem Schluss-Applaus. In einer anderen Loge saß Lotte Ulbricht. Im Foyer sprach sie mich an. Sie wollte wissen, was ich ›vom Stück‹ halte. ›Es richtet ich gegen uns‹, sagte ich, L. U. atmete auf: ›Gottseidank‹, sagte sie, ›ich dachte schon, ich wär’s allein, die so denkt.‹«
Knapp zwanzig Jahre später fällt Strittmatters Urteil vernichtend aus: »Damals wagte ich noch nicht zu erkennen, dass die Parteibürokratie, die Majakowski schon erkannte und aufs Korn nahm, keine behebbare Unart oder Schwäche war, sondern dem marxistischen System inhärent ist.«19
Reisen gen Westen waren bekanntlich für die allermeisten DDR-Bürger, vor allem die jüngeren, unmöglich. Es blieben nur wenige Ziele im Ausland, die man auch individuell bereisen konnte. Offiziell konnte man sich um Auslandsreisen bei Intourist oder Jugendtourist (dem Reisebüro der FDJ) bewerben, aber deren Reisen waren »geleitet«, also auch immer überwacht. Der visafreie Verkehr nach Polen wurde schon 1980, wenige Jahre nach seiner Einführung, bei Ausrufung des Kriegsrechts im Nachbarland im Zusammenhang mit den Solidarność-Protesten, wieder ausgesetzt – ein herber Schlag. Es blieb als visafreies Ziel so nur noch die Tschechoslowakei – und als im Frühherbst 1989 auch hier die Visafreiheit auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurde, fühlten wir uns endgültig gefangen gesetzt.
Der Protest gegen diese Aufhebung jeglichen visafreien Reisens (und nicht nur der Wille, auch einmal in die Bundesrepublik zu kommen) war dann auch einer der Antriebskräfte des 89er-Wendeherbstes. Wer ein Visum nach Bulgarien oder Rumänien hatte, fuhr zumeist per Transit durch Ungarn. Aber es gab auch die Möglichkeit eines Transitvisums durch die Sowjetunion, das in der Regel nur zwei oder drei Tage gültig war. In den siebziger und achtziger Jahren entwickelte sich, vor allem in der alternativen Szene, eine Art Sport, mit diesen Transitvisa wochen- oder monatelang die Sowjetunion zu durchstreifen, bis zum Kaukasus oder dem Mittleren Osten. Die Strafen für derartigen Transitvisamissbrauch, die bei der Ausreise aus der Sowjetunion fällig wurden, waren in der Regel so milde, dass dies niemanden abhielt.
Der spätere SPD-Politiker Thomas Krüger kolportiert in dem Buch Unerkannt durch Freundesland: »Es geht die Legende von einem Transitnik um, der mit einem DDR-Sozialversicherungsausweis, in den er ein Passfoto geklebt und dann mit einem geliehenen Stempel der Betriebsgewerkschaftsleitung zu einem noch offizielleren Dokument veredelt hat, zunächst die sowjetisch-mongolische Grenze, in weiteren Legenden sogar auch die Innere Mongolei in China erreicht haben soll.«20 Krüger selbst fuhr mittels Transitvisum in den Kaukasus und sah dies als »Trainingslager für die Freiheit«. Ein ebenso offizielle Stellen verwirrendes Phänomen wie die Freejazz-Szene, die Modeszene, oder Super-8-Film-Szene – von der Punkszene mit z. B. »Feeling B« nicht zu reden.
Der Protest des Undergrounds war längst nicht mehr klar politisch definiert, sondern entsprach einem – oft diffusen – alternativen Lebensgefühl: »Wie sollte der Stasi-Offizier den politischen Widerstand der Autoperforationsartisten beschreiben und die Zersetzungskraft der Punkband ›Demokratischer Konsum‹ erfassen?«21
Auch Ekkehard Maaß, dessen Wohnküche im Prenzlauer Berg ein legendärer Szene-Treffpunkt war, reiste mehrfach unerkannt in die Sowjetunion. Halb war es auch eine Flucht, »weil meine Frau sich in einen Stasi-Spitzel [Sascha Anderson, Anm. G. D.] verliebt und von mir getrennt hatte«.22 Seine Reisen werden zu ambitionierten Exkursionen, bei denen er gezielt Autoren wie Tschingis Aitmatow oder den Sänger Bulat Okudshawa aufsucht. Okudshawa, von dem Wolf Biermann das Lied »Ach die erste Liebe« übersetzte (ein Lied über den Verrat), kommt am 2. Dezember 1976 zu seinem ersten Konzert nach Ostberlin in den Palast der Republik – keinen Monat, nachdem Wolf Biermann ausgebürgt worden war.
Verboten, aber stark gesucht und in zuverlässigen Freundeskreisen kursierend, war nicht nur Solschenizyns Archipel Gulag, sondern auch Doktor Schiwago von Boris Pasternak. Fritz Mierau erinnert sich in Mein...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | 1965 • 1985 • DDR Alltag • DDR Film • DDR-Jugend • DDR Künstler • DDR Parteiapparat • DDR Politik • Erich Honecker • Gorbatschow • Kalter Krieg • Mattheuer • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-8412-2603-5 / 3841226035 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2603-7 / 9783841226037 |
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Größe: 3,2 MB
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