Meister Eckhart (eBook)

Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand
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2021 | 1. Auflage
544 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-21103-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meister Eckhart -  Joel F. Harrington
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Die große Biographie des berühmten deutschen Mystikers
Er ist der Ahnherr der Selbsthilfephilosophie, der Guru der New Age-Bewegung, die Millionen von Anhängern hat: Meister Eckhart, Dominikaner, Mystiker und Philosoph. Doch wer war der Mann hinter den Lehren, die nach sieben Jahrhunderten noch Menschen begeistern? Wie sind seine Ideen entstanden? Der Mönch aus Thüringen zeigte damals, dass nur der persönliche Weg zu Gott zum Seelenheil führt und predigte, dass diese spirituelle Erfahrung allen möglich war, die die innere Haltung des Loslassens ('Gelâzenheit') einnahmen. Dieses verblüffend moderne Denken brachte den Mönch Eckhart in Konflikt mit der Kirche, die sich von der Sprengkraft seiner Ideen herausgefordert fühlte. Der Historiker Joel F. Harrington hat sich auf die Spuren des bedeutenden Mystikers begeben und lässt in seiner Biographie eine der faszinierendsten Figuren des Mittelalters auferstehen.

Joel F. Harrington ist Professor für Europäische Geschichte an der Vanderbilt University. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sozialgeschichte, vor allem zur Zeit der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. Für seine Forschung hat er zahlreiche Förderungen erhalten, darunter von der Fulbright-Hayes Foundation und der John Simon Guggenheim Foundation. Harrington hat in Nordamerika und Europa gelehrt und war u.a. Fellow der American Academy in Berlin sowie Gastprofessor in Cambridge und an der Universität Erlangen-Nürnberg. Harrington ist Autor zahlreicher Publikationen darunter The Unwanted Child (2009), ein preisgekröntes Buch über Findelkinder, Waisen und jugendliche Kriminelle in der frühen Neuzeit. 2014 erschien Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert. 2021 folgte Meister Eckart. Der Mönch, der die Kirche herausforderte und seinen eigenen Weg zu Gott fand.

Prolog

Der Gegensatz zwischen dem gegebenen Rahmen und der Botschaft hätte kaum größer sein können. Man schrieb das Jahr 1318; der Ort war das Liebfrauenmünster in der deutschen Stadt Straßburg, der Anlass eine gewöhnliche Sonntagmorgenmesse.2 Der Mann, der in Kürze sprechen sollte, war Eckhart von Hochheim, der Nachwelt besser bekannt als Meister Eckhart. Rund 300 Männer und Frauen saßen schweigend auf den Holzbänken. Einige murmelten lateinische Gebete, während sie die erst kürzlich erfundenen Gebetsperlen, den sogenannten Rosenkranz, durch die Finger gleiten ließen. Die meisten warteten still, ihr Blick ruhte auf dem Priester mittleren Alters, der mit ernster Miene links vom Altar saß. Sein Haupt war nach der üblichen Tonsur der Mönchsorden rasiert, der Mann selbst auffällig gekleidet – er trug die bestickten, grünen Gewänder der liturgischen Jahreszeit.

Während der langen Pause, die nach der Schriftlesung folgte und der Besinnung dienen sollte, ließen wohl etliche Mitglieder der Gemeinde ihren Blick über die Wunder der prächtigen Kathedrale schweifen, von denen sie umgeben waren. Fast ein Jahrhundert lang war die erste Kirche, die man in einem Stil errichtet hatte, den man später romanisch nennen sollte, nach und nach in eine Kirche des »französischen Stils« umgebaut worden, der heutigen Gotik. Außen liegende Streben und andere bautechnische Wunderdinge hatten es den Erbauern der Kathedrale ermöglicht, zu hohen Bögen und dünnen, weitgehend als Schmuck dienenden Säulen überzugehen, sodass der Innenraum der Kirche gleichsam steil und dramatisch aufwärts, zu Gott hin, zu streben schien. Hell gefärbte Buntglasfenster erzählten Geschichten von Heiligen und Märtyrern und warfen regenbogenfarbene Strahlen des Morgenlichtes auf die Gemeinde. Weihrauchschwaden von der Eröffnungsprozession der Messe schwebten im Sonnenschein und erfüllten die Luft mit ihrem mild-süßlichen, jenseitigen Duft.

Manche Mitglieder der Gemeinde mochten, während sie noch darauf warteten, dass der Zelebrant das Wort an sie richtete, die Wandverkleidungen und Plastiken an den Seiten des Kirchenschiffs begutachtet haben, die ebenfalls an heilige Vorgänger erinnerten. Die bekannteste darunter war die »Liebe Frau«, die heilige Jungfrau Maria und Schutzherrin der Kathedrale, doch keineswegs alle Bilder spendeten Trost. Viele stellten schreckliche Todesqualen dar, die im Dienst des Herrn erduldet worden waren, allen voran das riesige Kruzifix, das über dem Hauptaltar hing. Eine Säule – der sogenannte Engelspfeiler – ermahnte die Versammelten an ihr eigenes bevorstehendes Ableben und an ihr Schicksal im Jenseits. Übergroße Figuren der vier Evangelisten schmückten die Säule, gekrönt von vier Engeln, welche die Posaunen des Jüngsten Gerichts bliesen. Darüber wiederum sah man drei Engel und einen leidenden Jesus, der bereit war, über die verstorbenen Seelen zu urteilen. Im Gegensatz zu diesem beunruhigenden Bild glänzte der Altar vor verzierten Reliquienschreinen, die jeweils einen Knochensplitter oder einen auf wundersame Weise erhaltenen Körperteil eines verehrten Heiligen zur Schau stellten – ein Anblick, der, so grausig er nach heutigen Standards auch sein mag, für Christen des Mittelalters eine unfehlbare Aura der Geborgenheit und Heiligkeit ausstrahlte.

Detail des Engelspfeilers im Südquerhaus des Straßburger Liebfrauenmünsters. Die Engel blasen die Posaunen, die das Jüngste Gericht der Lebenden und der Toten ankündigen – und damit das endgültige Schicksal der ewigen Belohnung oder Strafe für jede Seele.

Schließlich erhob sich Meister Eckhart. Alle Augen wandten sich dem Priester zu, während er gemessenen Schrittes die Stufen zur Kanzel hochstieg. Für die meisten Menschen in der Gemeinde war er ein Fremder, ein eigens eingeladener Gast, aber nahezu alle Anwesenden kannten seinen bemerkenswerten Ruf. Der strikt im geistlichen Orden der Prediger – oder Dominikaner – geschulte Priester studierte bereits seit Jahrzehnten die Bibel und die Theologie und hatte sogar schon zwei Mal an der Universität von Paris gelehrt, der angesehensten theologischen Fakultät der christlichen Welt. Er war unbestreitbar ein überaus gebildeter Mann. Aber Eckhart war auch für seine verzaubernde Redekunst bekannt. Er galt als jemand, der die jahrhundertealte Weisheit selbst dem einfachsten Zuhörer vermitteln konnte. Mit seinem überaus einnehmenden Wesen war der leicht untersetzte Mönch laut seinen Bewunderern imstande, die wahren Frommen unter ihnen zu einer unmittelbaren, persönlichen Erfahrung Gottes selbst zu leiten.

Der Bibeltext, der als Ausgangsbasis für die Predigt diente, stammte aus dem Buch der Weisheit (18,14–15): »Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom Königsthron herab.«3 Nach der Übersetzung des Verses aus dem Lateinischen ins Deutsche, der Sprache seiner Zuhörer, referierte der Prediger in der Umgangssprache über die Geburt des Wortes – eine beliebte Metapher für das Erscheinen Jesu auf Erden. Aber Eckhart sprach nicht von Eseln, Ställen, Hirten oder Engeln. Die Geburt, die dieser Prediger beschrieb, war die »ewige Geburt«, die Gegenwart Gottes auf Erden, nicht nur in der Person des Jesus von Nazareth oder im geweihten Brot und Wein der Eucharistie, sondern als greifbare Präsenz, die in die Seele eines jeden Gläubigen einzog, der ausreichend vorbereitet war. Man brauche gar nicht den Priester, um Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu zu verwandeln, erklärte er. Man müsse weder ein Mönch noch eine Nonne oder auch nur ein gebildeter Mensch sein. Nein, betonte Eckhart, jeder, der geistig bereit sei, könne die Geburt Gottes direkt in seiner eigenen Seele erleben.

Wie kann das sein?, dürften sich die meisten Zuhörer gefragt haben. Soweit sie wussten, waren seit den Tagen des Heilands nur sehr wenige heilige Menschen mit echten Visionen oder anderen direkten Begegnungen mit Gott gesegnet worden. Aber Eckhart betonte nachdrücklich: Die authentische Erfahrung des Göttlichen, die er beschrieb, hänge nicht von Erscheinungen, besonderen Kräften oder außergewöhnlichen Taten der Frömmigkeit ab. Sie sei nicht an bestimmte heilige Orte oder Rituale gebunden. Vielmehr erfordere die »ewige Geburt« eine entsprechende Geisteshaltung, eine Seele, die gelernt habe, von allen weltlichen Dingen, allen Wünschen und vorgefassten Meinungen, sogar vom Bild Gottes selbst loszulassen. »Je mehr du alle deine Kräfte zusammenziehen und alle Dinge und ihre Bilder vergessen kannst, die du je in dich gezogen hast, und je mehr du dich von den Geschöpfen und ihren Bildern entfernst, um so näher bist du diesem und um so empfänglicher [dafür].« Dann werde, so Eckhart, »mitten im Schweigen« Gott in ihre Seelen einziehen.4

Nach mehr als 20 Minuten kam der Prediger allmählich zum Schluss. »Der Sohn des himmlischen Vaters«, wiederholte er, »wird nicht allein in dieser Finsternis geboren, die ›sein Eigen‹ ist. Vielmehr: du wirst auch dort als Kind desselben himmlischen Vaters geboren und nicht als eines anderen [Vaters], und Er gibt [auch] dir diese Macht.« Der Schlüssel liege darin, »dass du dich deiner selbst beraubst und all dessen, was äußerlich ist, das gibt es dir in der Wahrheit. Und in der Wahrheit«, fuhr er fort, »glaube ich das und bin dessen sicher, dass dieser Mensch, der darin recht stünde, niemals mehr von Gott geschieden werden könnte, niemals, in keiner Weise. Ich spreche, er kann in keiner Weise in Todsünde fallen […] [solche Menschen] können keine lässliche Sünde begehen oder willentlich an sich selber noch auch an anderen Leuten zulassen, wo sie es verhindern können.« Der Prediger ließ den Blick über das Publikum schweifen. »In diese Geburt helfe uns Gott, der jetzt als Mensch geboren ist, dass wir schwache Menschen in ihm auf göttliche Weise geboren werden. Amen.«5 Er wandte sich um, schritt die Kanzelstufen hinab und begab sich an seinen Platz neben dem Altar. Die Kirche blieb von tiefer Stille erfüllt.

Diese Predigt war ganz anders als all das, was die Leute bisher innerhalb der Mauern des Münsters gehört hatten. Nach 40 Jahren der Kontemplation und des Studiums nutzte der geschätzte Mönch und Theologe seine Berufung in diese wichtige Stadt, um dem einfachen Volk seine spirituelle Weltanschauung zu predigen. Schon allein der Umstand, auf diese Weise zu gewöhnlichen Frauen und Männern über »höhere Dinge« zu sprechen, war bemerkenswert – ein Unterfangen, das von den meisten Priestern und Gelehrten jener Zeit höhnisch belächelt wurde. Noch provokativer war jedoch die radikale Botschaft, die Eckhart übermittelte. Auch wenn er die äußeren Formen der Frömmigkeit im unmittelbaren Umfeld nicht schlecht machte – immerhin war er gerade dabei, eine Messe zu feiern –, war Eckharts Fokus auf das Innere, auf das Denken gerichtet, höchst ungewöhnlich und für viele Zuhörer womöglich sogar beunruhigend. Die Kirche, die sie kannten, predigte, dass das Heil eines jeden Menschen vom Vollbringen guter Taten und von reuevollen Handlungen der Buße abhänge – doch in Eckharts Lehre fehlten diese Dogmen völlig. In der Kirche, die sie kannten, drehte sich alles um die Verehrung der Heiligen und die Verabreichung der Sakramente – aber diese spielten in der von Eckhart beschriebenen inneren Selbst-Transzendenz keine nach außen ersichtliche Rolle. Die Kirche, die sie kannten, ging davon aus, dass Mönche, Nonnen und andere kontemplative Menschen Gott näher seien – aber Eckhart...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2021
Übersetzer Norbert Juraschitz, Andreas Thomsen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Dangerous Mystic: Meister Eckhart's Path to the God Within
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Mittelalter
Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
Schlagworte Achtsamkeit • Biographie • Dominikaner • eBooks • Eckhart Tolle • Geschichte • Kloster • Mittelalter • Mystik • Philosophie • Spiritualität • Theologie
ISBN-10 3-641-21103-4 / 3641211034
ISBN-13 978-3-641-21103-5 / 9783641211035
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