Israel - eine Utopie (eBook)

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2020 | 1. Auflage
220 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2272-8 (ISBN)

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Israel - eine Utopie -  Omri Boehm
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Zwischen einem jüdischen Staat und einer liberalen Demokratie besteht ein eklatanter Widerspruch, sagt der israelische Philosoph Omri Boehm. Denn Jude ist, wer 'jüdischen Blutes' ist. In einem großen Essay entwirft er die Vision eines ethnisch neutralen Staates, der seinen nationalistischen Gründungsmythos überwindet und so endlich eine Zukunft hat. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich Israel dramatisch verändert: Während der religiöse Zionismus immer mehr Zuspruch erfährt, fehlt es der Linken an überzeugenden Ideen und Konzepten. Die Zwei-Staaten-Lösung gilt weithin als gescheitert. Angesichts dieses Desasters plädiert Omri Boehm dafür, Israels Staatlichkeit neu zu denken: Nur die Gleichberechtigung aller Bürger kann den Konflikt zwischen Juden und Arabern beenden. Aus dem jüdischen Staat und seinen besetzten Gebieten muss eine föderale, binationale Republik werden. Eine solche Politik ist nicht antizionistisch, sondern im Gegenteil: Sie legt den Grundstein für einen modernen und liberalen Zionismus.

Omri Boehm, geboren 1979, ist Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht. Sein Buch Kant's Critique of Spinoza erschien 2014 bei Oxford University Press. Er schreibt unter anderem über Israel, Politik und Philosophie in Haaretz, Die Zeit und The New York Times. Bei Propyläen erschien seine von der Kritik hochgelobten Bücher Israel - eine Utopie und Radikaler Universalismus. 

Omri Boehm, geboren 1979 in Haifa, studierte in Tel Aviv und diente beim israelischen Geheimdienst Shin Bet. In Yale promovierte er über "Kants Kritik an Spinoza", heute lehrt er als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht und schreibt über israelische Politik in Haaretz, Die Zeit und The New York Times..

Einleitung


I.


In den vierundzwanzig Jahren, die seit Jitzchak Rabins Ermordung vergangen sind, ist die Zweistaatenlösung, sein Osloer Vermächtnis, systematisch hintertrieben worden. Als 1993 das erste Osloer Abkommen unterzeichnet wurde, lebten rund 110 000 Siedler im Westjordanland und weitere 146 000 in besetzten Gebieten rund um Jerusalem. Diese Zahlen sind inzwischen auf etwa 400 000 Siedler im Westjordanland und 300 000 im Raum Jerusalem gestiegen: Größenordnungen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen.18 Gegenwärtig leben ungefähr zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Israels in besetzten Gebieten – wo sie israelischem Recht unterliegen, das israelische Parlament wählen und sich der Lebenschancen erfreuen, die ein moderner Industriestaat zu bieten hat. Sie sind über eine Infrastruktur von Autobahnen, öffentlichen Schulen, Fabriken, Banken und eine Forschungsuniversität im Territorium verankert. Sie leben aber inmitten von fast drei Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern, die nunmehr seit mehr als einem halben Jahrhundert Israels aggressivem Militärregime unterworfen sind.

Beharrliche Verfechter der Zweistaatenlösung betonen gern, es stimme zwar, dass man die meisten Siedler nicht umsiedeln könne, doch werde das Problem, das ihre Präsenz darstelle, übertrieben. Ihrer Ansicht nach ist die Landkarte der Westbank zwar mit rund hundertdreißig Punkten befleckt, die für israelische Siedlungen unterschiedlicher Größe stehen, doch zählten rund hundertzehn von ihnen weniger als fünftausend Einwohner (neue Siedlungen tauchen inzwischen im Wochenrhythmus über Nacht auf, sodass es sinnlos ist, genaue Zahlen nennen zu wollen). Sechzig dieser Siedlungen, so wird argumentiert, hätten nicht einmal tausend Bewohner, und viele lägen ohnehin nahe der Grenze von 1967: Es bräuchte nur kleinere Veränderungen des Grenzverlaufs, und schon hätte man dafür gesorgt, dass die meisten Siedler im israelischen Kernland verblieben, wofür man die Palästinenser mit anderen Landstücken an anderen Orten entschädigen könnte. Die Tendenz, das mit den Siedlungen gegebene Hindernis für eine Zweistaatenlösung »grob zu übertreiben«, heißt es mitunter, leiste im rechtsextremen wie im linksextremen Lager einer Einstaatenalternative ideologisch Vorschub – nicht aber die Tatsachen vor Ort.19

Leider lässt sich dieser Optimismus nur bewahren, wenn man die Landkarte nicht allzu genau studiert. Ja, rund hundertzehn von hundertdreißig Siedlungen im Westjordanland haben weniger als fünftausend Einwohner, aber damit bleiben zwanzig mit mehr als fünftausend, und zwar in einigen Fällen bedeutend mehr. Modi’in Illit, nicht weit von Jerusalem, zählt mehr als siebzigtausend Einwohner. In Beitar Illit leben fünfundfünfzigtausend Menschen, in Ma’ale Adumim vierzigtausend. Um die Bedeutung dieser Zahlen zu ermessen, muss man sich nur die Räumung israelischer Siedlungen im Gazastreifen 2005 vor Augen führen. Insgesamt 8400 Siedler mussten ein Land verlassen, das Juden nicht annähernd so heilig ist und für Israelis nicht annähernd so hohe symbolische Bedeutung besitzt wie das Westjordanland, und dennoch ist dieser Vorgang der israelischen Gesellschaft als ein Trauma in Erinnerung. Auch die Vorstellung, die meisten Siedlungen lägen an der Grenze von 1967, führt in die Irre. Das trifft zwar auf die größten von ihnen zu, doch befinden sich zahlreiche andere Siedlungen ganz unterschiedlichen Ausmaßes sehr tief in besetztem Territorium. Ariel, eine der wohlhabendsten Siedlungen Israels, liegt mit ihren zwanzigtausend Einwohnern im Herzen der Westbank. Diese Lage wurde in den Siebzigerjahren strategisch ausgewählt, um jede mögliche geografische Geschlossenheit eines zukünftigen palästinensischen Staates zu verhindern. Bereits 1980 sprach Ariel Sharon, damals israelischer Verteidigungsminister, von dem Siedlungsprojekt als einer vollendeten Tatsache, einem »Skelett«, das im Westjordanland abgelegt worden sei und »jeden territorialen Kompromiss« verhindere. Angesichts dieses Skeletts sah Sharon »kein einziges Gebiet mehr, das wem auch immer [über]geben werden kann«.20 Zu diesem Zeitpunkt zählte eine Siedlung wie Ariel noch wenige Hundert Einwohner. Vor einigen Jahren gründete Israel hier seine sechste staatliche Forschungsuniversität. 2018 stiftete der Kasinomogul Sheldon Adelson, Hauptspender für Donald Trumps Wahlkampf, die nötigen Mittel zur Einrichtung der Adelson-Fakultät für Medizin an der »Universität Ariel in Samarien«. Aus Sharons abgelegtem Skelett ist ein voll ausgewachsener, massiver Körper geworden. An irgendeinem Punkt muss man wohl zugeben, dass der Traum von einer Zweistaatenlösung zu einer Zweistaatenillusion zerstoben ist. Das zu ignorieren ist ungefähr so, wie die Erderwärmung zu leugnen.

Unterdessen breitet sich sowohl in Israel als auch international die Vorstellung von einem um das Westjordanland erweiterten jüdischen Staat aus. Fast unmittelbar nach seiner Amtsübernahme signalisierte Präsident Trump, dass er die US-amerikanische Festlegung auf eine Zweistaatenlösung aufgeben werde, der amerikanische Präsidenten, ob Demokraten oder Republikaner, jahrzehntelang treu geblieben waren. David Friedman, US-Botschafter in Israel, der nunmehr stolz in Jerusalem residiert, erklärte, Israel habe das »Recht« auf Annexionen im besetzten Westjordanland.

Durch die Regierung Trump ermutigt, begann auch Israels Ministerpräsident Netanjahu offen von Annexionen zu sprechen. Während Obamas Regierungszeit hatte er hin und wieder Lippenbekenntnisse zur Zweistaatenlösung abgegeben und beispielsweise behauptet, in seiner »Friedensvision« lebten die beiden Völker »frei, Seite an Seite«, jedes mit »seiner eigenen Fahne, seiner eigenen Nationalhymne, seiner eigenen Regierung«.21 Diese unverhohlene Lüge wurde von Obamas Regierung freudig begrüßt, weil sie ihr dabei half, den zunehmend schärferen Fehden mit der israelischen Regierung ebenso aus dem Weg zu gehen wie Konflikten mit Amerikas jüdischer Gemeinschaft. Erst die Präsidentschaft Trumps trug dazu bei, dieser Heuchelei ein Ende zu setzen, ob es uns gefällt oder nicht – erst recht mit seinem »Deal des Jahrhunderts«, der die Annexion aller israelischen Siedlungen offiziell akzeptiert und einen Bevölkerungsaustausch sowie die Ausbürgerung arabischer Staatsbürger Israels empfiehlt, um die Zahl der Palästinenser in einem vergrößerten jüdischen Staat zu verringern. Praktisch hat sich die Position der israelischen Regierung kaum verändert; nur verschweigt sie jetzt nicht mehr, woran sie arbeitet – nämlich daran, einen palästinensischen Staat zu verhindern und Annexionen vorzubereiten. Letztere nahm Netanjahus Likud bereits 2017 ins Parteiprogramm auf. Ob Netanjahu Ministerpräsident bleibt oder nicht, ist in diesem Zusammenhang belanglos, und allein darauf kommt es an. Weder der Likud noch die Opposition – Benny Gantz etwa oder Jair Lapid, die angeblich liberalen Alternativen – unterstützen die Zweistaatenlösung. Sie alle befürworten den Deal des Jahrhunderts, wie im Übrigen auch Amir Peretz, Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei Awoda.

Die gegenwärtigen raschen Änderungen von Israels Grundgesetzen, die zusammengenommen die Verfassung des Landes ausmachen, verstärken diesen Trend. Hatte die Unabhängigkeitserklärung von 1948 noch etwas allgemein vom »Recht des jüdischen Volkes« gesprochen, »seine Geschichte unter eigener Hoheit selbst zu bestimmen« – und ein palästinensisches Recht auf Selbstbestimmung zumindest potenziell anerkannt –, so legt Israels neues Nationalstaatsgesetz fest, dass dieses Recht im Staate Israel »einzig für das jüdische Volk« gelte. Um die rechtliche Infrastruktur für massive Annexionen zu schaffen – in dem Moment nämlich, da »zu viele« Araber innerhalb Israels eigentlicher Grenzen leben würden –, hebt das Gesetz auch den bisherigen Status des Arabischen als einer Amtssprache in Israel auf und definiert die jüdische Besiedlung von Eretz Israel als »nationalen Wert«. Damit untergräbt es die Gleichberechtigung, die die Unabhängigkeitserklärung allen Bürgern des Landes »ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht« zugesichert hatte. Indem das Nationalstaatsgesetz von der Idee der palästinensischen Selbstbestimmung, wie sie noch in der Unabhängigkeitserklärung anklang, abrückte, tat es einen Riesenschritt zur Umsetzung einer jüdischen »Einstaatenlösung«.

Nicht umsonst haben in den vergangenen Jahren einige rechte Abgeordnete von einem politischen Plan zu sprechen begonnen, den man als »Apartheid mit menschlichem Antlitz« bezeichnen kann. Ihre Idee, die inzwischen vom Zentralkomitee des Likud befürwortet wird, besteht darin, das Westjordanland zu annektieren und der Gesetzgebung Israels statt seines Militärregimes zu unterwerfen, ohne den Palästinensern jedoch ein Wahlrecht oder die Staatsbürgerschaft einzuräumen. Das Vorbild für diese...

Erscheint lt. Verlag 29.6.2020
Übersetzer Michael Adrian
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Philosophie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arabisch • Benny Gantz • Besatzungspolitik • blau-weiß • Gazastreifen • Hebräisch • Herzl • Jordanien • Libanon • Mauer • Nahostkonflikt • Nationalsozialismus • Netanjahu • Palästinenser • Republik • Wahlen • Westjordanland • Zionismus • Zwei-Staaten-Lösung
ISBN-10 3-8437-2272-2 / 3843722722
ISBN-13 978-3-8437-2272-8 / 9783843722728
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