Die verlorene Tochter der Sternbergs (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
348 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-8387-4674-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die verlorene Tochter der Sternbergs -  Armando Lucas Correa
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Berlin, 1939. Für die jüdische Bevölkerung wird das Leben immer schwieriger. Wer kann, bringt sich in Sicherheit. Auch Amanda Sternberg beschließt, ihre Töchter mit der MS ST. LOUIS nach Kuba zu schicken. Am Hafen kann sie sich jedoch nicht von der kleinen Lina trennen. So vertraut sie nur die sechsjährige Viera einem allein reisenden Ehepaar an und flieht mit Lina nach Frankreich. Doch es dauert nicht lange, bis die Gräueltaten der Nationalsozialisten auch ihre neue Heimat erreichen ...



<p><strong>Armando Lucas Correa</strong> lebt in Manhattan und arbeitet dort als Herausgeber des wichtigsten Magazins der spanischen Gemeinschaft in den USA, <i><b>People en Español</b></i>. Zuvor arbeitete er auf Kuba als Herausgeber eines Kulturmagazins. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem von der <i><b>National Association of Hispanic Publications</b></i> und der<i><b> Society of Professional Journalism</b></i>.</p>

2


Amanda Sternberg hatte schon immer befürchtet, eines Tages ihr Ende in den Flammen zu finden, deshalb überraschte es sie nicht sonderlich, dass ihre Bücher bald dieses Schicksal erleiden sollten.

Die Deutsche Studentenschaft hatte ein warnendes Flugblatt mit zwölf Thesen Wider den undeutschen Geist! in ihrem kleinen Buchladen in Charlottenburg hinterlassen. Sie hatte bereits mit dem Ausräumen der Bücher begonnen, von der Auslage im Fenster bis zur hintersten Ecke des Lagerraums. Es wurde erwartet, dass sie alle Bücher aussortierte, die als anstößig, zersetzend oder undeutsch angesehen werden konnten. Dieses Zerrbild der Luther’schen Thesen sollte alles Jüdische aus der Welt des Druckes tilgen und jeden Buchbesitzer im Land erreichen. Amanda war sicher, dass nur sehr wenige ihrer Bücher überleben würden. So viele Jahre hatte sie zwischen Pergamenten, Manuskripten und kalbsledergebundenen Bänden mit handgezeichneten Illustrationen verbracht, inmitten von Geschichten über Duelle, heimliche Liebschaften, teuflische Verschwörungen und verwirrte Geisteskranke. Bücher und Geschichten machten ihre Vergangenheit aus – und die ihrer Familie, denn die Leidenschaft ihres Vaters hatte der Kunst der alten Schreiber gegolten. Und all das sollte nun zu Asche werden. Ein wahrhaft wagnerianischer Akt der Reinigung, dachte sie.

Sie klammerte sich noch immer an die verzweifelte Hoffnung, dass das Ladenschild mit der Aufschrift Büchergarten nicht weiter auffallen würde. Vielleicht würden sie sie in Ruhe lassen, wenn sie in der Auslage nur reines Deutschtum ausstellte und die Bücher, die ihr am Herzen lagen, im Hinterzimmer versteckte? Auch das Wetter kam ihr zugute: Wochenlanger Regen hatte das Vorrücken der Scheiterhaufen gebremst.

Selbst wenn sie noch einen Funken Hoffnung hatte, durfte sie ihre Familie keinem Risiko aussetzen. Deshalb hatte sie sich entschlossen, endlich mit der grausamen Aufgabe zu beginnen. Aber zuerst legte sie sich neben die Bücherregale auf den Boden. Sie ließ den Kopf auf den warmen Holzdielen ruhen, starrte hinauf zu den Spinnweben an der Decke und ließ die Gedanken zwischen den Rissen und Feuchtigkeitsflecken entlangwandern, die alle ihre eigene Geschichte hatten, genau wie jedes Buch in ihrem Buchladen seine eigene Geschichte hatte: wer es vorbeigebracht hatte, warum es angeschafft worden war, wie schwierig das Versenden gewesen war. Diese Stadt war davon besessen, jeden Gedanken, jede Metapher und jeden Vergleich zu kontrollieren, und von dem Bedürfnis, verfemtes Schrifttum ausfindig zu machen, um es auf einem öffentlichen Platz zitternd vor Jubel und unter Gesängen in die Flammen zu werfen. Sie sah ein grenzenloses Feuer vor sich, das kein Buch überleben würde, denn selbst in den deutschesten, nationalistisch gesinnten und reinsten Werken ließen sich noch zahllose Mehrdeutigkeiten entdecken. Ihr war klar, dass die Interpretation eines Textes letztlich immer vom Leser abhing – egal, wie der Autor seine Figuren gestaltete oder welche Worte er wählte. »Am Ende ist alles von unseren Sinnen abhängig – unser Geruchssinn bestimmt, was wir riechen«, murmelte sie vor sich hin, während sie versuchte, einen Weg zwischen möglichen Lösungen zu finden, von denen ihr keine besonders praktikabel erschien.

Seufzend legte sie die Hände auf ihren Bauch. Bald würde er deutlich sichtbar anschwellen. Das Bimmeln der Türglocke riss sie aus ihrer Lethargie. Sie wandte den Kopf und erkannte die vertrauten Umrisse: Nur Julius kam zu dieser Tageszeit in den Buchladen.

Er kniete sich neben sie auf den Boden und bedeckte ihre Ohren mit seinen großen, warmen Händen, während er sie erst auf die Stirn, dann auf die Nasenspitze und schließlich auf die Lippen küsste. Ein Glücksgefühl durchströmte sie, wie immer, wenn sie sah, wie Julius in seinem grauen Mantel und der abgenutzten ledernen Aktentasche den Buchladen betrat.

»Wie ist es meinen beiden Lieblingen ergangen?«, hörte sie seine tiefe, liebevolle Stimme. »Wovon habt ihr gerade geträumt?«

Amanda wollte ihm erzählen, dass sie sich vorgestellt hatte, wie sich in ihrem Laden die Kunden drängten und ganz wild darauf waren, die neuesten Bücher zu kaufen. Dass sie von einer Stadt ohne Soldaten träumte, in der man Autos und Straßenbahnen nur aus der Ferne hören konnte, doch er sprach schon weiter, ehe sie etwas erwidern konnte.

»Die Zeit drängt«, sagte er. »Du musst endlich die Bücher wegschaffen.«

Sein Tonfall ließ sie frösteln, und sie schaute ihn bittend an.

»Lass uns nach oben gehen, Liebling. Dein Baby und ich haben Hunger«, sagte er nur.

Das Wohnzimmer der beiden war eine Art Garten, umgeben von einer Mauer aus Literatur. Es gab Brokatvorhänge mit Blumenmustern, Wandteppiche, die ländlich-idyllische Szenen zeigten, Teppiche, dicht wie frisch gemähtes Gras, und jeder freie Platz war mit Büchern bedeckt.

Beim Abendessen bemühte sich Amanda um ein unverfängliches Gespräch, nur damit Julius nicht zum drängendsten Thema zurückkehrte. Sie erzählte ihm, dass sie eine Enzyklopädie verkauft, dass jemand eine Sammlung griechischer Klassiker bestellt habe und dass ihre Lieblingskundin, Fräulein Hilde Krahmer, nun schon seit einer Woche nicht mehr im Buchladen aufgetaucht sei, während sie doch sonst immer gleich nach ihrem Unterricht erschienen war und stundenlang in den Regalen herumgestöbert hatte, ohne je etwas zu kaufen.

»Morgen früh musst du als Allererstes das Schaufenster leer räumen«, verlangte Julius. Als er merkte, wie sehr sein ernster Tonfall Amanda erschreckt hatte, ging er zu ihr und zog sie einen Moment lang an sich. Er lehnte den Kopf an ihre Brust und atmete den Duft ihres frisch gewaschenen Haares ein.

»Wirst du denn nie müde, dir Herzen anzuhören?«, fragte Amanda lächelnd.

Julius legte den Finger an die Lippen, dann hockte er sich vor sie hin, legte sein Ohr auf ihren Leib und erwiderte: »Ihres kann ich auch schon hören. Ich bin mir sicher, dass wir eine Tochter bekommen. Ihr Herz wird genauso schön sein wie das ihrer Mutter.«

Seit seiner Schulzeit in Leipzig hatte Julius das Herz fasziniert – die Unregelmäßigkeiten in seinem Rhythmus, die elektrischen Impulse und der Wechsel von Herzschlag und Ruhephase. »Es gibt nichts Stärkeres als das Herz«, hatte er zu Amanda gesagt, als sie frisch verheiratet waren und er noch an der Universität studierte. Dann hatte er warnend hinzugefügt: »Das Herz kann allen möglichen physischen Gewalteinwirkungen widerstehen – aber Traurigkeit kann es ganz schnell zerstören. Also keine Traurigkeit in diesem Haus!«

Mit dem ersten Kind warteten sie, bis er sich mit einer eigenen Praxis niedergelassen hatte. Manchmal ging Amanda mit ihm in sein Behandlungszimmer und probierte den Elektrokardiografen aus, den er kürzlich auf einer Reise nach Paris gekauft hatte. Ein solches Gerät war in Charlottenburg ein großes Novum und erschien Amanda wie eine komplizierte Version der Singer-Nähmaschine, die sie auf dem Speicher stehen hatte.

Beflügelt von den Gedanken an die Tochter, die in Amandas Leib wuchs, beschrieb Julius an diesem Abend im Bett seiner Frau voller Begeisterung die einzelnen Phasen des Herzzyklus. »Ein Herz im diastolischen Stadium befindet sich im Entspannungszustand«, erklärte er ihr, während sie in seinen Armen lag, und fuhr mit seinen Erläuterungen fort. Verwirrt von den Fachausdrücken schlief Amanda bald ein, an der Brust des Mannes, der sie und ihr Baby bis jetzt hatte beschützen können, auch wenn sich überall erschreckende Dinge zusammenbrauten, nicht nur in der unmittelbaren Nachbarschaft, sondern im ganzen Land. Amanda wusste, dass Julius sich gut um ihr Herz kümmerte, und das reichte, um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben.

Mitten in der Nacht wurde sie wach und schlich auf Zehenspitzen und ohne das Licht einzuschalten aus dem Zimmer, um Julius nicht zu wecken. Ein eigenartiges Unruhegefühl trieb sie nach unten zu einem der Regale im Hinterzimmer, wo die Bücher lagerten, die nicht zu verkaufen waren.

Dort stapelten sich die Bücher des russischen Dichters Wladimir Majakowski. Er hatte zu den Lieblingsautoren ihres Bruders Abraham gehört, der vor einigen Jahren aus Deutschland auf eine Insel in der Karibik ausgewandert war. Dort standen auch, mit brüchigen, altersschwachen Rücken, die Bilderbücher, aus denen ihr Vater ihr früher beim Zubettgehen vorgelesen hatte. Sie überlegte, welches der Bücher sie wählen würde, wenn sie nur ein einziges auswählen dürfte. Die Entscheidung dauerte nicht lange: Sie würde das botanische Album retten. Dieses französischsprachige Buch mit handgezeichneten Illustrationen von exotischen Blüten und Pflanzen hatte ihr Vater einmal von einer Studienreise in die Kolonien mitgebracht. Sie zog den Band aus dem Regal. Sein ganz besonderer Geruch erinnerte sie immer an ihren Vater. Als sie das Buch aufklappte, stellte sie fest, dass die Seiten schon stark vergilbt waren und die Tinte auf einigen der Zeichnungen verblichen war. Sie konnte sich noch immer genau an die Namen der Pflanzen erinnern, sowohl an die französischen als auch an die lateinischen, denn vor dem Einschlafen hatte ihr Vater ihr immer von den Pflanzen aus fernen Ländern erzählt, als seien sie Wesen mit einer Seele.

Aufs Geratewohl schlug sie eine Seite auf und ihr Blick fiel auf Chrysanthemum Carinatum. Sie schloss die Augen und meinte, die volltönende Stimme ihres Vaters zu hören, die ihr erklärte, dass diese Pflanze ursprünglich aus Afrika stamme, dreifarbig sei, gelbe Röhrenblüten an der Basis und so große Blütenköpfe...

Erscheint lt. Verlag 30.4.2020
Übersetzer Ute Leibmann
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel The Daughter's Tale
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Bücherverbrennung • Das Erbe der Rosenthals • Deutschland • Exil • Flucht • Frankreich • Frankreich unter deutscher Besatzung • Genozid • Gestapo • Helden • Holocaust • Judenverfolgung • Konzentrationslager • Massaker • Mütter und Töchter • Nationalsozialismus • New York • oradour sur glane • Pogrom • Rettung • Saga • St. Louis • Überleben • verborgene Kinder • Verfolgung
ISBN-10 3-8387-4674-0 / 3838746740
ISBN-13 978-3-8387-4674-6 / 9783838746746
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