Das andere Kind in der Schule -  Gee Vero

Das andere Kind in der Schule (eBook)

Autismus im Klassenzimmer

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
270 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-034703-8 (ISBN)
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Gee Vero zeigt in diesem authentischen Mutmach-Buch, wie eine erfolgreiche Beschulung autistischer Kinder gelingen kann. Sie berichtet von ihrer eigenen Schulzeit als Asperger-Autistin sowie auch aus dem Schulalltag ihres Sohnes, der mit seinem frühkindlichen Autismus eine Schule für geistige Entwicklung besucht. Die Andersartigkeit autistischer Kinder in sozialer Interaktion und Kommunikation wird erklärt, Strategien zur Bewältigung des Schulalltages mit autistischen Kindern werden erläutert und realisierbare Wege zur inklusiven Schule aufgezeigt. Die Autorin stellt zahlreiche Checklisten und Anregungen zur Verfügung und erklärt sich, ihren Autismus und den Autismus ihres Sohnes mit großer Offenheit. Das Buch hilft sowohl Lehrkräften als auch all jenen, die autistischen Kindern im Kontext Schule begegnen, sich besser in das 'andere Kind' in der Klasse hineinzuversetzen.

Gee Vero, grafische Künstlerin und Autorin, ist freiberuflich als Referentin und Beraterin für Autismus tätig.

Gee Vero, grafische Künstlerin und Autorin, ist freiberuflich als Referentin und Beraterin für Autismus tätig.

3          Die Wahrnehmung


 

 

 

Wahrnehmung ist der Vorgang, bei dem in unseren Gehirnen durch das Aufnehmen, Filtern und Verarbeiten äußerer und innerer Reize eine Art Modell der Welt entsteht. Jeder von uns hat seine eigene Wahrnehmung von sich selbst, von Anderen und von seiner Umgebung. Ich denke, es muss uns wieder bewusster werden, dass Wahrnehmung immer subjektiv ist. Weil sich unsere Wahrnehmung immer von der Wahrnehmung Anderer unterscheidet, macht sie uns zu Individuen. Meine Wahrnehmung ist die einzige Realität, die ich kenne und auf die ich letztendlich mit Verhalten reagieren kann. Meine, von der Gesellschaft als autistisch bezeichnete, Wahrnehmung ist extrem anders. Sie ist spezifisch für mich so wie Ihre Wahrnehmung spezifisch für Sie ist.

Schauen Sie sich die Menschen an, mit denen Sie leben und arbeiten. Sie können die unterschiedlichen Wahrnehmungen nämlich sehen oder riechen: Kleidung, Frisur, Schmuck, Parfüm, Partner usw. Kein Mensch (nicht einmal eineiige Zwillinge) sieht so aus wie der Andere. Und auch bei Zwillingen hat jeder seine eigene Wahrnehmung. Selbst wenn es uns schwerfällt, ein Ei vom Anderen zu unterscheiden, so stimmt das Sprichwort doch. Es ist wirklich so, dass kein Ei dem anderen gleicht. Wir können auf dieser Welt vieles miteinander teilen, nur eben unsere Wahrnehmung nicht. Keiner von uns kann einem Anderen die eigene Wahrnehmung verbal ausreichend erklären. Niemand kann wissen, wie die Wahrnehmung eines anderen Menschen ist, wie es sich wirklich anfühlt, dieser Mensch zu sein und als dieser Mensch die Umwelt und andere Menschen zu erleben. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Sie werden nie wissen können, wie es für einen anderen Menschen ist, die Farbe Rot zu sehen, oder wie es sich für ihn anfühlt, in eine Zitrone zu beißen. Ganz egal wie viel Sie jemals über das Gehirn wissen werden, die Erlebnisperspektive eines anderen Menschen wird Ihnen immer verschlossen bleiben. Sie können vermuten oder versuchen zu erahnen, aber wirklich kennen werden Sie am Ende immer nur Ihre eigene Wahrnehmung. Natürlich müssen wir weiterhin so ausführlich wie möglich miteinander darüber reden, wie es für jeden von uns ist, er oder sie zu sein. Zum einen damit wir uns als Individuen kennenlernen und respektieren können und zum anderen damit wir als Gruppe erfolgreich sein können. Sei es als Paar, Familie, Freunde, Schulklasse, Kollegium, Sportgruppe oder Gesellschaft.

Das Modell der Welt im Kopf eines autistischen Menschen ist ein völlig anderes als das in den Köpfen nicht-autistischer Menschen. Beobachtet man das Verhalten der Menschen, dann fällt auf, dass sich nicht-autistische Menschen dahingehend sehr ähnlich zu sein scheinen. Da wir immer nur auf unsere Wahrnehmung reagieren können, liegt nahe anzunehmen, dass sich deren Wahrnehmungen auch ähnlich sind. Das nicht-autistische Modell der Welt hat sich anscheinend bewährt, denn man ist damit in eine Art Serienproduktion gegangen. Das autistische Modell dagegen ist fast immer ein Einzelstück oder zumindest eine streng limitierte Auflage. Man kann das Gehirn als einen Modellbauer bezeichnen, denn es erstellt außer dem Modell der Welt ebenfalls ein Modell des eigenen Geistes (eigene Wünsche, Gedanken und Gefühle) und ein Modell des Geistes Anderer (Vermutungen über die mentalistischen Zustände anderer Menschen). All diese Modelle stehen im ständigen Austausch miteinander und ermöglichen im Bestfall ein sehr erfolgreiches Dasein als Individuum in einer Gemeinschaft. Da all diese Modelle bei Autismus anders aussehen bzw. der Austausch zwischen ihnen weniger gut funktioniert, erscheint Ihnen ein Autist eventuell wie von einem anderen Planeten. Viele Asperger-Autisten schaffen es trotz alledem, eine Zeit lang so zu wirken, wie die Umgebung es erwartet. Als ich ein Schulkind war, war die Zeitspanne, in der ich es schaffte »normal« zu wirken, wesentlich kürzer als heute. An manchen Tagen waren es nur Minuten, weshalb meine Schulzeit für mich wie eine Art Spießrutenlauf war. Es verwundert mich immer wieder, dass ich trotz all des Stresses, dem ich schon allein bei dem Gedanken an die Schule ausgesetzt war, doch sehr viel aufnehmen und lernen konnte. Mein allergrößtes Problem während meiner Schulzeit war meine Selbstwahrnehmung.

Die Selbstwahrnehmung


Bei Selbstwahrnehmung geht es, wie der Name schon sagt, um die Wahrnehmung des eigenen Selbst. Mit genau diesem Selbst (autos) fängt für jeden von uns alles an. Da die Selbstwahrnehmung bei Autismus eine entscheidende Rolle spielt, möchte ich ausführlich auf dieses Thema eingehen. Wahrscheinlich beginnt die Entwicklung des Selbst schon vor der Geburt. Aber dennoch nimmt sich ein Baby bei der Geburt noch nicht sofort als eigenständiges Wesen wahr. Es hat also noch keine Selbstwahrnehmung. Haben Sie schon einmal einen Wellensittich beobachtet, der sich über sein eigenes Spiegelbild freut? Er glaubt, einen Spielkameraden zu haben. Für ihn bedeutet der Spiegel nur eine Erweiterung seiner Umgebung. Er ist sich seiner selbst nicht bewusst. Die Entwicklung des menschlichen Selbst ist eine sehr rasante. Schon kurz nach der Geburt wird ein differenzierteres Selbst wahrgenommen, womit der erste Schritt zu einer Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen erfolgreich getan ist. Ab dem zweiten Lebensmonat nehmen Babys ihr Spiegelbild als für sich einzigartig wahr. Sie merken, dass die von ihnen im Spiegel gesehenen Bewegungen mit den von ihnen gefühlten inneren Zuständen übereinstimmen. Das Spiegelbild ist jetzt unheimlich interessant und wird von nun an zum Ort der Begegnung mit dem eigenen Selbst. Der Moment, in dem sich das Baby im Spiegel erkennt, wird als Geburt des Ich bezeichnet. Im Alter von ca. sechs bis 18 Monaten weiß das Kind, dass es sich selbst im Spiegel sieht. Es kann sich also identifizieren. Spätestens im Alter von 24 Monaten bestehen Kleinkinder den Spiegeltest, bei dem eine Haftnotiz auf dem Haar angebracht wird, welche das Kind sofort abmacht, wenn es in den Spiegel schaut.

Mein Sohn Elijah (15 Jahre) tut dies bis heute nicht. Manchmal schaut er sich ganz lange und interessiert, mit einem breiten Lächeln, im Spiegel an, aber es ist von außen nicht zu erkennen, ob er sich selbst oder doch nur einen »Freund« anlächelt. Aber er macht Fortschritte. Er dreht sich seit einiger Zeit zu mir um, wenn er mich im Spiegel hinter sich stehen sieht. Er kann Spiegel nun als Rückspiegel nutzen, nämlich, um uns mit dem Rücken zu uns stehend beobachten zu können. So kann er die Andere-Wahrnehmung und damit verbunden seine Selbstwahrnehmung niedrig halten, aber dennoch am Geschehen teilnehmen. Er scheint sein Spiegelbild mittlerweile als einzigartig für sich zu erkennen und keinesfalls mehr nur als eine Erweiterung seiner Umgebung zu sehen. Autismus bedeutet immer eine Entwicklung nach vorn, aber mit einer anderen Geschwindigkeit als Sie es kennen und erwarten. Die Schritte sind oftmals so klein, dass die Umgebung sie gar nicht wahrnimmt und deshalb Stillstand oder gar Rückschritt registriert. Elijah hat jedenfalls ungeheuer viel Spaß mit Spiegeln, selbst wenn er den Spiegeltest (noch) nicht besteht. Auch ich habe es erst im späten Kindesalter geschafft, mich eindeutig im Spiegel zu identifizieren. Ich kann mein Spiegelbild jedoch nur eine bestimmte Zeit lang ertragen. Ich zeige deshalb bis heute eine Vermeidungshaltung, die ähnlich wie die eines Vampirs gegenüber dem Tageslicht ist. Unerwartetes Spiegeln, egal ob in Spiegeln, Scheiben oder blankgeputzten Oberflächen, löst immer wieder großen Stress aus. Im Gegensatz zu meiner Schulzeit kann ich dies nun adäquat verbalisieren. Ich kann heute sagen, dass ich ein Zimmer wegen des Spiegelns meiner Person in Glasschränken nicht betreten kann. Ich kann endlich auch erklären, warum das so ist. Als Kind war dies unmöglich. Ich wurde dann von meiner Umgebung gnadenlos nach meinem Verhalten beurteilt. Es konnte ja niemand wissen, welche Gefahr Spiegel und spiegelnde Oberflächen für mich darstellen.

Die Entwicklung des Selbst scheint bei vielen autistischen Menschen im Laufe des zweiten Lebensjahres einen anderen Weg zu nehmen als das bei nicht-autistischen Menschen der Fall ist. Viele Eltern bemerken in diesem Zeitraum erstmals Verhaltensauffälligkeiten ihrer später als autistisch diagnostizierten Kinder. Zu diesen Auffälligkeiten gehören der fehlende Blickkontakt und das Fehlen der Zeigegestik. Außerdem interagieren die meisten autistischen Kinder im Kontakt mit anderen Menschen ganz anders, es fehlt unter anderem die geteilte Aufmerksamkeit. Unerklärlich ist mir, dass solche Abweichungen in der Entwicklung eines Kindes nicht jedem Kinderarzt sofort auffallen, zumal ganz viele Mütter bei den U-Untersuchungen spezifisch darauf hinweisen. Blickkontakt, Zeigegestik und geteilte Aufmerksamkeit sind wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung eines Meta-Selbst und auch für die Fähigkeit zur Theory of Mind. Diese werde ich in diesem Kapitel noch näher erklären. Einfach...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2020
Zusatzinfo 1 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Alltagsbewältigung • inklusives Bildungssystem • Schulalltag
ISBN-10 3-17-034703-9 / 3170347039
ISBN-13 978-3-17-034703-8 / 9783170347038
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