Einführung in die Erzähltheorie (eBook)

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2020 | 11. Auflage
234 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-74291-0 (ISBN)
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Die Erzähltheorie gehört zu den Grundlagendisziplinen der Literaturwissenschaft. Das bewährte Standardwerk von Matías Martínez und Michael Scheffel stellt unter Verwendung von Beispielen aus verschiedenen Literaturen und Epochen ein umfassendes, praktisch anwendbares Modell zur Analyse von erzählenden Texten vor.
Der Band orientiert über den aktuellen Stand der internationalen Erzählforschung und bezieht auch die Erkenntnisse anderer Disziplinen wie der Psychologie und der Geschichtswissenschaft ein. Zugleich finden etliche Aspekte des literarischen Erzählens Berücksichtigung, die in anderen Einführungen vernachlässigt werden. Durch sein Glossar mit Kurzdefinitionen ist der Band auch zum Nachschlagen einzelner Begriffe geeignet.
Für die 11. Auflage wurde der Band von den Autoren überarbeitet und aktualisiert.

Matias Martinez und Michael Scheffel sind Professoren für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

Cover 1
Titel 4
Widmung 5
Impressum 5
Inhalt 6
Vorwort 8
I. Merkmale fiktionalen Erzählens 12
1. Faktuales und fiktionales Erzählen 12
2. Das Erzählen und das Erzählte 23
II. Das ‹Wie›: Darstellung 30
1. Zeit 34
a) Ordnung (In welcher Reihenfolge?) 35
b) Dauer (Wie lange?) 43
c) Frequenz (Wie oft?) 48
2. Modus 51
a) Distanz (Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?) 51
Erzählung von Ereignissen 53
Erzählung von Worten und Gedanken 55
b) Fokalisierung (Aus welcher Sicht wird erzählt?) 68
3. Stimme 72
a) Zeitpunkt des Erzählens (Wann wird erzählt?) 74
b) Ort des Erzählens (Auf welcher Ebene wird erzählt?) 80
c) Stellung des Erzählers zum Geschehen (In welchem Maße ist der Erzähler am Geschehen beteiligt?) 86
d) Subjekt und Adressat des Erzählens (Wer erzählt wem?) 90
4. Franz K. Stanzels Typologie von ‹Erzählsituationen› 95
5. Unzuverlässiges Erzählen 101
III. Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt 116
1. Handlung 116
a) Ereignis – Geschehen – Geschichte 116
b) Motivierung 119
c) Die doppelte Zeitperspektive des Erzählens 128
d) Handlungsschema 132
2. Erzählte Welt 138
3. Figur 150
4. Raum 156
a) Diegetischer Raum 156
b) Semantisierung des Raums (Lotmans Konzept derGrenzüberschreitung) 161
IV. Ausblick: Kontexte des Erzählens 168
a) Soziolinguistik (Erzählen im Alltag) 168
b) Kognitionspsychologie (‹Scripts› und Affektlenkung) 172
c) Anthropologie (Das Handlungsschema der Suche) 176
d) Geschichtswissenschaft (Erklärung durch ‹emplotment›) 179
Hinweise zur Forschungsliteratur 184
Allgemeine Darstellungen der Erzähltheorie 184
zu I: Merkmale fiktionalen Erzählens 185
zu II: Das ‹Wie›: Darstellung 188
zu III: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt 191
zu IV: Ausblick: Kontexte des Erzählens 194
Narratologische Websites 196
Literaturverzeichnis 198
Lexikon und Register erzähltheoretischer Begriffe 220
Personen- und Werkregister 228
Zum Buch 236

II. Das ‹Wie›: Darstellung


Jede Geschichte lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Henry James hat behauptet, dass man es auf fünf Millionen Arten tun könne (Letter, 1899), Raymond Queneau hat es in einem kleinen Büchlein ausprobiert und eine Geschichte in immerhin 99 Varianten präsentiert. In seinen Stilübungen (Exercices de style, 1947) führt der Franzose die Gestaltungsmöglichkeiten einer Erzählung so anschaulich vor, dass wir einige seiner Beispiele als Einführung in die Analyse des ‹Wie› von Erzähltexten nutzen wollen. Gegenstand von Queneaus Stilübungen ist ein alltägliches Geschehen: In einem gut gefüllten Pariser Autobus der Linie ‹S› fährt ein junger Mann mit Hut; er beschimpft einen älteren Herrn und setzt sich anschließend auf einen frei gewordenen Platz; zwei Stunden später befindet er sich an der Gare Saint-Lazare, wo ihm ein Mann sagt, an seinem Überzieher fehle ein Knopf. Queneau präsentiert dieses Geschehen u.a. in Gestalt der folgenden Erzählungen:

(1) Vergangenheit

Es war Mittag. Die Fahrgäste stiegen in den Autobus. Wir standen gedrängt. Ein junger Herr trug auf seinem Kopfe einen mit einer Kordel und nicht mit einem Bande umschlungenen Hut. Er hatte einen langen Hals. Er beklagte sich bei seinem Nachbarn wegen der Stöße, die dieser ihm verabreichte. Sobald er einen freien Platz erblickte, stürzte er sich darauf und setzte sich.

Ich erblickte ihn später vor der Gare Saint-Lazare. Er trug einen Überzieher, und ein Kamerad, der sich dort befand, machte diese Bemerkung: man müßte noch einen Knopf hinzufügen. (S. 49)

(2) Rückwärts

Du solltest noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen, sagte sein Freund zu ihm. Ich traf ihn mitten auf der Cour de Rome, nachdem ich ihn, sich gierig auf einen Sitzplatz stürzend, zurückgelassen hatte. Er hatte gerade gegen die Knüffe eines anderen Fahrgastes protestiert, der, sagte er, ihn jedes Mal anstieß, wenn jemand ausstieg. Dieser abgezehrte junge Mann war Träger eines lächerlichen Hutes. Dies geschah heute Mittag auf der Plattform eines vollbesetzten S. (S. 12)

(3) Vorhersage

Wenn Mittag kommen wird, wirst du dich auf der hinteren Plattform eines Autobusses befinden, auf der viele Fahrgäste zusammengepfercht sein werden, unter denen du einen lächerlichen Jüngling bemerken wirst: knochiger Hals und kein Band am weichen Filz. Er wird sich nicht wohlfühlen, der Kleine. Er wird denken, daß ein Herr ihn absichtlich anrempelt, sooft Leute vorbeikommen, die ein- oder aussteigen. Er wird es ihm sagen, aber der andere, voller Verachtung, wird nicht antworten. Und der lächerliche Jüngling, von Panik ergriffen, wird ihm vor der Nase davonlaufen, einem freien Platz zu.

Du wirst ihn etwas später an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare, wiedersehen. Ein Freund wird ihn begleiten, und du wirst diese Worte hören: ‹Dein Überzieher schlägt nicht gut übereinander, Du mußt noch einen Knopf daran anbringen lassen.› (S. 15)

(4) Amtlicher Brief

Ich habe die Ehre, Ihnen folgende Begebenheit mitzuteilen, deren ebenso unparteiischer wie entsetzter Zeuge ich sein durfte.

Um die Mittagszeit des heutigen Tages stand ich auf der Plattform eines Autobusses, der die Rue de Courcelles in Richtung Place Champeret hinauffuhr. Besagter Autobus war besetzt, ich wage sogar zu sagen, er war überbesetzt; der Schaffner hatte ohne triftigen Grund und befeuert von übertriebener Herzensgüte, die ihn sich über die Dienstvorschrift hinwegsetzen ließ und folglich an Nachsicht grenzte, den Wagen mit mehreren Antragstellern überfüllt. Das Kommen und Gehen der ein- und aussteigenden Fahrgäste an den einzelnen Haltestellen führte zu einem gewissen Gedränge, das einen der Fahrgäste dazu veranlaßte, nicht ohne Schüchternheit allerdings, Einspruch zu erheben. Ich muß sagen, daß er sich hinsetzte, sobald die Sache möglich war. Ich werde meinem kurzen Bericht noch diesen Nachtrag hinzufügen: Ich hatte Gelegenheit, diesen Fahrgast einige Zeit später in Begleitung einer Person zu erblicken, die ich nicht zu identifizieren vermochte. Die sehr lebhafte Unterhaltung, die sie führten, schien sich auf Fragen ästhetischer Natur zu beziehen. In Anbetracht dieser Lage bitte ich Sie, sehr geehrter Herr, mir mitteilen zu wollen, welche Konsequenzen ich aus diesen Tatsachen zu ziehen habe und welche Haltung ich nach Ihrer Ansicht in der Führung meines zukünftigen Lebens einnehmen soll. In Erwartung ihrer geschätzten Antwort versichere ich Sie meiner zumindest diensteifrigen Hochachtung. (S. 36)

(5) Vulgär

’S war was über Mittag, als ich in’n Ess steigen konnte. Ch steig also ein, ch zahl meinen Platz wie sichs gehört, und schon bemerk ich da so’n bekloppten Stenz mit nem Hals wie’n Teleskop und ner Art Schnur umn Deckel. Ch glotznn an, weil ich n doof finde, als er so Knall und Fall anfängt, seinen Nachbarn anzuquatschen. Sagn Se mal, fauchtern an, können Se nich aufpassen, setzer hinzu, man könnte meinen, greinter, daß Se’s absichtlich tun, blubberter, mir die ganze Zeit auf die Quanten ze tretn, sagter. Drauf gehter stolz wie’n Spanier weg und knallt sich hin. Wie’n Sack.

Später komm ich wieder an der Cour de Rome vorbei, und bemerkn, wie’r mit nem andern Stenz von seiner Sorte rumdebattiert. Sag mal, hat der Andre gemacht, du solltest, hater gesagt, nen andern Knopf anmachen, hater hinzugefügt, an deinen Überzieherdingsbums, hater gemeint. (S. 64)

Bereits die wenigen hier zitierten Beispiele geben einen Einblick, wie grundsätzlich verschieden ein Geschehen vermittelt werden kann und welche Bedeutung damit dem ‹Wie› einer Erzählung zukommt. Die Beispiele unterscheiden sich nach dem Umfang der Erzählung (viel Erzählzeit in Beispiel 4 vs. wenig Erzählzeit in den Beispielen 1 und 2), dem Erzähltempus (Futur in Beispiel 3 vs. Präteritum in den anderen Fällen), der Reihenfolge der erzählten Ereignisse in der erzählerischen Darstellung (Umkehr der chronologischen Ereignisfolge in Beispiel 2 vs. Übereinstimmung in den anderen Fällen), der Situation und Perspektive des Erzählens (Erzählung in der zweiten Person in Beispiel 3 vs. Erzählung in der ersten Person in den anderen Fällen; eine am Geschehen nicht beteiligte, schwer fassbare narrative Instanz in Beispiel 3 vs. ein beteiligter, mehr oder minder als leibhaftige Person profilierter Erzähler in den anderen Fällen) und der Gestaltung des Verhältnisses von Erzähler und Leser (Entwurf eines Erzählrahmens und dementsprechend motiviertes Erzählen in Beispiel 4 vs. Fehlen eines Erzählrahmens und dementsprechend nichtmotiviertes Erzählen in den anderen Fällen; Ansprache eines Lesers in Beispiel 3 und 4 vs. Nichtansprache in den anderen Fällen). Auch die Wiedergabe von Figurenrede innerhalb der Erzählung erfolgt auf sehr verschiedene Weise (direkte Rede in Beispiel 3 und 5 vs. unterschiedliche Formen der vermittelten Rede in den übrigen Fällen), und schließlich gibt es deutliche Unterschiede im Sprachstil der Erzählungen (u.a. Umgangssprache in Beispiel 5 vs. Hochsprache in den übrigen Fällen).

Nicht alle der genannten, für das ‹Wie› einer Erzählung relevanten Merkmale sind nun allerdings Gegenstand einer narratologischen Analyse im engeren Sinn. Fragen, die vorrangig den Sprachstil einer Erzählung betreffen (also das Sprachniveau, das verwendete Vokabular, die syntaktische Struktur der Sätze, Bildlichkeit, Redefiguren u.ä.), sind nicht notwendig an das Phänomen des Erzählens gebunden, sondern betreffen die Gestaltung von Rede überhaupt. Obwohl auch diese Fragen für die Analyse einer Erzählung von Bedeutung sind (so trägt etwa in Beispiel 5 die Verwendung einer bestimmten Art von Umgangssprache wesentlich zur Profilierung einer als leibhaftige Person vorstellbaren Erzählerfigur bei, während die Verwendung einer neutralen Hochsprache in Beispiel 1 eine solche Profilierung gerade verhindert), gehört ihre Untersuchung in erster Linie zu den Aufgaben von Stilistik und Rhetorik. Alle anderen Unterschiede in der Präsentation des Erzählten, die wir an den fünf Erzählungen beobachten konnten, führen dagegen in das Zentrum all der Probleme, mit denen sich eine Untersuchung der Erzählform, also der Art und Weise der Darstellung eines Geschehens, beschäftigt. Im Folgenden behandeln wir diese Probleme in einer systematischen Ordnung, wie sie in ähnlicher Form bereits von Gérard Genette entwickelt worden ist (Genette, Erzählung, bes.S. 17–20). Wir differenzieren innerhalb der Erzählebene zwischen der Erzählung (oder auch dem ‹Text der...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Reihe/Serie C.H. Beck Studium
C.H. Beck Studium
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Analyse • Beispiele • Epoche • Erzählforschung • Erzähltext • Erzähltheorie • Geschichtswissenschaft • Glossar • Grundlagendisziplin • Kurzdefinitionen • Lehrbuch • Literatur • Literaturtheorie • Literaturwissenschaft • Modell • Narratologie • Psychologie • Standardwerk
ISBN-10 3-406-74291-2 / 3406742912
ISBN-13 978-3-406-74291-0 / 9783406742910
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