Bewusstsein unabhängig vom Gehirn (eBook)

Eine Literatursichtung mit Blick auf Willensfreiheit und einen möglichen Paradigmenwechsel
eBook Download: EPUB
2019 | 2. Auflage
260 Seiten
Tectum-Wissenschaftsverlag
978-3-8288-7437-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bewusstsein unabhängig vom Gehirn -  Siegfried Schumann
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Täglich treffen wir bewusste Entscheidungen und sind dabei über weite Strecken frei, die eine oder andere Wahl zu treffen. Wirklich? Die Selbstverständlichkeit dieser Alltagserfahrung ist wissenschaftlich höchst umstritten. Häufig wird behauptet, im Gehirn autonom ablaufende neuronale Prozesse steuerten unser Verhalten. Erst danach, als Folge hiervon, entstünde unser 'Bewusstsein'. Ein 'freier Wille' im oben genannten Sinne sei damit nur eine (liebgewonnene) Illusion! Wer stattdessen postuliert, dass wir die Fähigkeit besitzen, frei auf Handlungsprozesse einzuwirken, läuft Gefahr, sich über einen solchen 'unabhängigen' Eingriff in materielle Prozesse in Widerspruch zu grundlegenden naturwissenschaftlichen Annahmen zu begeben! Die vorliegende Literatursichtung präsentiert publizierte Argumente dafür, dass (als Voraussetzung für 'Willensfreiheit') Bewusstsein unabhängig vom Gehirn auftreten könne.

1 Einleitung: Wolf Singer diskutiert mit Matthieu Ricard über „Bewusstsein“

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit der Frage, ob Bewusstsein lediglich ein (nachgeordnetes!) Produkt neuronaler Aktivität im Gehirn sei – oder ob es möglicherweise unabhängig davon auftreten bzw. „existieren“ könne.

Unter „Bewusstsein“ ist dabei – im Sinne einer Nominaldefinition – „die bewusste Wahrnehmung von uns selbst und unserer Umgebung“ (Myers 2014, S. 90; vgl. hierzu auch Damásio 2013, S. 169) zu verstehen.

Die praktische Relevanz der genannten Frage liegt auf der Hand. Ihre Beantwortung hat tiefgreifende Konsequenzen für unser Selbstverständnis. Die Interpretation des im Bild auf der Umschlagrückseite festgehaltenen Geschehens hängt beispielsweise hiervon ab – wobei festzuhalten ist, dass sehr unterschiedliche Interpretationen möglich sind!

Auch für die Wissenschaft ist die genannte Frage relevant. So ergibt sich beispielsweise aus ihrer Beantwortung der Stellenwert, den wir den Grundannahmen der quantitativen bzw. der qualitativen empirischen Sozialforschung beimessen (vgl. hierzu z. B. Schumann 2018).

Insbesondere die zentrale Frage des „freien Willens“ ist – wie nachfolgend dargelegt – aufs engste mit der hier behandelten Thematik verknüpft. Der vorliegende Beitrag wird keine letzte Antwort liefern. Er liefert jedoch aus unterschiedlichen Bereichen Indizien dafür, dass die Vorstellung eines zumindest in bestimmten Fällen von neuronalen Prozessen unabhängigen Bewusstseins nicht vorschnell verworfen werden sollte.

Die Beiträge stammen von naturwissenschaftlich sozialisierten Personen, die auf eine entsprechende Ausbildung zurückblicken und die entsprechende Argumentationsweise – was die genannte Thematik betrifft – kennen.

Die Beurteilung der berichteten Anhaltspunkte bleibt natürlich der Leserin bzw. dem Leser überlassen. In etlichen Fällen mag diese Beurteilung aufgrund mangelnden Spezialwissens auf dem betreffenden Fachgebiet schwerfallen – ich möchte mich da nicht ausschließen. Wie nachfolgend noch zu erläutern sein wird, würde jedoch die Akzeptanz auch nur eines einzigen der hier angesprochenen Belege genügen, um einräumen zu müssen, dass Bewusstsein offenbar auch ohne eine „erzeugende“ neuronale Aktivität auftreten kann. Damit wäre, wie im Vorwort dargestellt, eine Voraussetzung für die Annahme eines „freien Willens“ gegeben.

Zu Beginn möchte ich einige für die genannte Fragestellung zentrale Passagen aus dem äußerst lesenswerten und informativen Buch „Jenseits des Selbst“ von Wolf Singer und Matthieu Ricard (2017) zitieren. Wolf Singer, für sein wissenschaftliches Werk vielfach ausgezeichnet, ist emeritierter Direktor am Max-Plank-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Matthieu Ricard, Autor mehrerer internationaler Bestseller, „war als Molekularbiologe am Institut Pasteur in Paris tätig, bevor er buddhistischer Mönch wurde“ (Singer und Ricard 2017, Umschlag/back matter) – und sich mit der Wirkung der Meditationserfahrung auf neuronale Prozesse befasste.

Bewusstsein als Produkt neuronaler Prozesse?

Die in dem Buch von Singer und Ricard beschriebene Diskussion dreht sich an zentraler Stelle um die Frage eines möglicherweise von einer materiellen Basis unabhängigen Bewusstseins. Auf den ersten Blick scheint die Sachlage klar. In den Worten Singers:

Die Neurobiologie postuliert [sic!], dass alle geistigen Prozesse, auch jene, die anscheinend nicht viel mit materiellen Abläufen zu tun haben – Wahrnehmen, Entscheiden, Planen, Gefühle entwickeln und sich seiner selbst und der Welt bewusst sein zu können –, die Folge neuronaler Prozesse sind und nicht ihre Ursache. Im Rahmen unseres Verständnisses von Naturgesetzen ist es unvorstellbar, dass ein immaterielles Agens – also etwa der Wille – auf neuronale Netzwerke einwirkt und sie dazu bringt, das auszuführen, was dieses Agens vorhat, um damit eine Handlung auszulösen. Wie ich finde, vertritt die Neurobiologie hier zu Recht die eindeutige Position, dass alle mentalen Funktionen, einschließlich unseres Bewusstseins, das Resultat des Zusammenspiels der neuronalen Aktivitäten in den verschiedenen Bereichen des Gehirns sind. Diese koordinierten Aktivitätsmuster bringen hervor, was wir als Wahrnehmungen, Entscheidungen, Gefühle, Urteile oder den Willen erfahren. Aus dieser Perspektive sind folglich alle mentalen Phänomene die Folge neuronaler Prozesse und nicht deren Ursache (Singer und Ricard 2017, S. 214; Hervorhebung im Original; vgl. hierzu auch S. 206, 208, 224, 308).

Auf den zweiten Blick fällt zunächst das Verb „postuliert“ ins Auge. Ähnlich ist auf Seite 206 eher vorsichtig formuliert von „neurobiologischen Indizien“ die Rede, welche auf den genannten Sachverhalt hindeuten. In gewisser Ambivalenz hierzu formuliert Singer auf Seite 224 wieder klipp und klar:

Es gibt kein »Bewusstsein« ohne eine entsprechende neuronale Basis

– worauf Ricard kontert:

Ziehst du hier deine Schlüsse nicht ein wenig voreilig? Sicherlich teilen die meisten Neurowissenschaftler diese Meinung, aber es wäre übertrieben zu behaupten, dass es diesbezüglich unwiderlegbare Beweise gibt.

Letzteres wird oft konstatiert. Wolf Singer (2015, S. 29–30) antwortete beispielsweise an anderer Stelle auf die Frage: „Das heißt, Sie kennen die materielle Ursache des Erlebens?“ unter anderem mit:

[…] Was uns noch schwerfällt, ist, das neuronale Korrelat für Bewusstsein an sich zu identifizieren. Wir wissen noch nicht, wie die Repräsentation der Inhalte des Bewusstseins im Gehirn organisiert ist.

Bei dem Psychologen und Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz (2013, S. 26) ist zu lesen:

Die Biologen können erklären, wie die Chemie und die Physik des Gehirns funktionieren. Aber niemand weiß bisher, wie es zur Ich-Erfahrung kommt und wie das Gehirn überhaupt Bedeutungen hervorbringt.

Der Philosoph David Chalmers meint in einem Gespräch mit Susan Blackmore:

»[…] Wie können hundert Milliarden interagierende Neuronen im Gehirn zusammen die Erfahrung eines bewussten Geistes mit all diesen wundervollen Bildern und Klängen hervorbringen?« Im Moment kennt wohl niemand die Antwort darauf (Blackmore 2012, S. 58)7

und der Intensivmediziner Sam Parnia (2013, S. 247) berichtet:

In der Wissenschaft ist es uns nicht gelungen, anhand eines plausiblen biologischen Mechanismus zu erklären, wie eine Zelle oder eine Gruppe von Zellen, die zusammenarbeiten (d. h. das Gehirn) möglicherweise einen Gedanken oder eine Sammlung von Gedanken erzeugen könnte und damit letztlich die Instanz hervorbringt, die wir als das menschliche Bewusstsein bezeichnen.

Auch der Physiologe Benjamin Libet (2013, S. 285) stellt fest:

Es gibt eine unerklärte Lücke zwischen der Kategorie der physischen Phänomene und der Kategorie der subjektiven Phänomene

und der Kardiologe Pim van Lommel (2013, S. 222) zitiert den Medizin-Nobelpreis-Träger Francis H. C. Crick mit den Worten:

Bisher können wir nicht ein einziges Areal im Gehirn identifizieren, in dem die Aktivität der Neuronen exakt dem lebhaften Bild der Welt entspricht, das wir vor unseren Augen haben.

Ganz ähnlich schrieb bereits Hampe (1975, S. 98):

Die Wissenschaft weiß ja heute noch immer nicht, was sich abspielen muss, damit körperliche Veränderungen im Gehirn zu seelischen Ereignissen führen […]. Wir kennen die Schaltstellen zwischen Gehirn und Bewusstsein […], aber wir haben noch keine Ahnung davon, wie sie funktionieren.

Konsequenzen in puncto „Willensfreiheit“

Die Vorstellung, Bewusstsein sei (wie alle „geistigen Prozesse“ im oben genannten Sinne) lediglich ein Produkt neuronaler Aktivitäten im Gehirn8, impliziert – wie bereits erwähnt – weitreichende Konsequenzen. Insbesondere ist nach dem Statement Singers die Annahme eines „freien Willens“ offenbar unhaltbar. Gemeint ist in diesem Zusammenhang ein „starker“ Begriff von Willensfreiheit, wie er im Vorwort definiert wurde.9 Was wir im alltäglichen Leben als „willentliche Entscheidung“ bezeichnen, wäre damit nach meiner Lesart des Statements nichts weiter als eine (durch vorausgehende neuronale Aktivität verursachte) Illusion (vgl. z. B. auch Singer und Ricard 2017, S. 206).

Beispielsweise wären im Bereich der Wissenschaft Fragestellungen, Interessenlagen, Zielsetzungen etc. von Forscherinnen und Forschern, deren Forschungsaktivitäten sowie auch die Resultate ihrer Forschungen letztlich das Ergebnis von Kausalketten und Selbstorganisationsprozessen. Gleiches würde für die Aktivitäten von Hans und Sophie Scholl als auch für deren Ermordung gelten. Auch lebensrettende medizinische Hightech-Geräte, ebenso wie Mienen in Form von Kinderspielzeug, wären wohl konsequenterweise als Ergebnis von Kausalketten und Selbstorganisationsprozessen zu betrachten – um die Implikationen der genannten Sichtweise etwas plakativ zu demonstrieren (vgl. hierzu auch Schumann 2018, S. 71–92).

Ein Argument gegen diese Sicht der Dinge sei anhand zweier Ausschnitte aus der Diskussion zwischen Matthieu Ricard (MR) und Wolf Singer (WS) aufgezeigt:

(WS) Wenn deine Entscheidung lautet, es dir auf einer Müllhalde bequem zu machen, dann müssen die Verbindungen in deinem Gehirn so verknüpft sein, dass diese demonstrative Handlung befriedigender ist als alle anderen Dinge, die du tun könntest.

(MR) Warum sollte das Gehirn auf diese merkwürdige Weise verdrahtet sein? Das ist für mein Überleben...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2019
Reihe/Serie Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag: Philosophie
Verlagsort Baden-Baden
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Dualismus • Jim B. Tucker • Matthieu Ricard • Michael Nahm • Nahtoderfahrung • Neurochirurgie • Penny Sartori • Pim van Lommels • Raymond Moody • Sam Parnia • Wolf Singer
ISBN-10 3-8288-7437-1 / 3828874371
ISBN-13 978-3-8288-7437-4 / 9783828874374
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