Im Grunde gut (eBook)

Spiegel-Bestseller
Eine neue Geschichte der Menschheit
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00763-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Grunde gut -  Rutger Bregman
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Der Historiker und Journalist Rutger Bregman setzt sich in seinem Buch mit dem Wesen des Menschen auseinander. Anders als in der westlichen Denktradition angenommen ist der Mensch nicht böse, sondern, so Bregman, im Gegenteil: von Grund auf gut. Und geht man von dieser Prämisse aus, ist es möglich, die Welt und den Menschen in ihr komplett neu und grundoptimistisch zu denken. In seinem mitreißend geschriebenen, überzeugenden Buch präsentiert Bregman Ideen für die Verbesserung der Welt. Sie sind innovativ und mutig und stimmen vor allem hoffnungsfroh.

Rutger Bregman, geboren 1988, ist Historiker und einer der innovativsten Denker Europas. 2017 erschien sein Buch «Utopien für Realisten», 2020 folgte der «Im Grunde gut», das bisher in 46 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt mit seiner Familie in New York.
Spiegel-Bestseller

Rutger Bregman, geboren 1988, ist Historiker und einer der innovativsten Denker Europas. 2017 erschien sein Buch «Utopien für Realisten», 2020 folgte der «Im Grunde gut», das bisher in 46 Sprachen übersetzt wurde. Er lebt mit seiner Familie in New York. Ulrich Faure, geboren 1954 in Halle/Saale, war langjähriger Online-Chefredakteur beim Branchenmagazin BuchMarkt. Er lebt als Übersetzer aus dem Niederländischen, Publizist, Lektor und Herausgeber in Düsseldorf.

Prolog


Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zeigte sich die britische Armeespitze über die Maßen besorgt. London sei in akuter Gefahr. Ein gewisser Winston Churchill behauptete, die Stadt sei «das größte Ziel der Welt, eine riesige, fette, teure Kuh, die festgebunden wurde, um das Raubtier anzulocken».[1]

Der Name dieses Raubtiers? Adolf Hitler. Wenn das Volk unter dem Terror seiner Bomber einknicken würde, wäre es um Großbritannien geschehen. «Der Verkehr wird eingestellt, die Obdachlosen werden um Hilfe schreien, und die Stadt wird in ein totales Chaos abrutschen», befürchtete ein britischer General.[2] Millionen Bürger würden in Panik ausbrechen. Die Armee würde nicht einmal zum Kampf kommen, weil sie die hysterischen Massen in Schach halten müsste. Churchill prophezeite, dass mindestens drei bis vier Millionen Einwohner Londons zur Flucht gezwungen würden.

Wer wissen wollte, welche Katastrophe sich da zusammenbraute, brauchte eigentlich nur ein einziges Buch aufzuschlagen: Psychologie des foules – «Psychologie der Massen». Der französische Autor Gustave Le Bon war einer der einflussreichsten Gelehrten seiner Zeit. Hitler hatte das Buch von vorn bis hinten gelesen, wie auch Mussolini, Stalin, Churchill und Präsident Roosevelt.

Le Bon erklärte detailliert, was in solchen Ausnahmesituationen vor sich geht. Fast unmittelbar, so schrieb er, falle der Mensch «mehrere Stufen von der Leiter der Zivilisation herab».[3] Dann griffen Panik und Gewalt um sich. Schließlich offenbare sich unsere wahre Natur.

Am 19. Oktober 1939 diktierte Hitler seinen Generälen den Angriffsplan. «Der gnadenlose Einsatz der Luftwaffe, um den britischen Widerstandswillen zu brechen, kann und soll zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgen.»[4]

Die Briten befürchteten, dass es längst zu spät war. Hastig wurde noch erwogen, ein Netz von Schutzräumen unterhalb Londons zu graben, aber am Ende wurde der Plan doch verworfen. Bald würde die Bevölkerung sowieso vor Angst gelähmt sein. In letzter Minute wurden außerhalb der Stadt einige psychiatrische Notfallkliniken eingerichtet, um die ersten Opfer aufzufangen.

Dann ging es los.

Am 7. September 1940 überquerten 348 deutsche Bomber den Kanal. Das Wetter war gut. Viele der Londoner waren draußen und blickten gen Himmel, als die Sirenen Punkt 16:43 Uhr losheulten.

Dieser Septembertag sollte als schwarzer Tag in die Geschichte eingehen, und die andauernden Angriffe danach als «The Blitz» – der Luftkrieg. Allein auf London gingen in neun Monaten mehr als 80000 Bomben nieder. Ganze Stadtteile wurden ausgelöscht. Eine Million Gebäude blieben beschädigt oder vollständig zerstört zurück, und mehr als 40000 Menschen starben.

Und wie reagierten die Briten? Was geschah, als Millionen von ihnen monatelang mit Bomben aus der Luft zermürbt wurden? Wie hysterisch wurden sie, wie kopflos verhielten sie sich?

 

Beginnen wir mit dem Bericht eines kanadischen Psychiaters.

Im Oktober 1940 fuhr Dr. John MacCurdy durch den Südosten Londons. Er besuchte ein Armenviertel, das durch die ersten Bombardierungen schwer mitgenommen worden war, alle hundert Meter entdeckte man einen Krater oder eine Ruine. Wenn irgendwo Panik herrschen musste, dann hier.

Folgende Szenen beobachtete der Psychiater kurz nach der Auslösung eines Fliegeralarms:

Kleine Jungs spielten weiterhin auf dem Bürgersteig, Kunden ließen sich beim Feilschen nicht unterbrechen, ein Polizist regelte den Verkehr in königlicher Gelangweiltheit, und die Radfahrer trotzten dem Tod und den Verkehrsregeln. Niemand, soweit ich erkennen konnte, schaute zum Himmel.[5]

Wer über die Monate des Luftkrieges liest, stößt auf die eine oder andere Beschreibung einer seltsamen Ruhe, die sich über London ausgebreitet hatte. Eine amerikanische Journalistin interviewte ein britisches Ehepaar in seiner Küche. Während die Fenster zitterten, tranken sie in aller Seelenruhe Tee. Ob sie denn keine Angst hätten, fragte die Journalistin. «Aber nein. Was würde das helfen?»[6]

Alle Anzeichen wiesen darauf hin, dass Hitler den Charakter der Briten falsch eingeschätzt hatte. Keeping a stiff upper lip – die Ohren steifhalten. Der trockene Humor. Unternehmer stellten Schilder vor die Ruinen, die einst ihre Geschäfte gewesen waren: «MORE OPEN THAN USUAL.» («WEITER GEÖFFNET ALS SONST.») Der Eigentümer eines Pubs griff die Verwüstung gar humoristisch auf: «OUR WINDOWS ARE GONE, BUT OUR SPIRITS ARE EXCELLENT. COME IN AND TRY THEM.» («UNSERE FENSTER SIND HINÜBER, ABER UNSER GEIST IST NICHT GEBROCHEN. KOMMT REIN UND ÜBERZEUGT EUCH SELBST.»)[7]

Die Briten reagierten auf die Bomben der Luftwaffe wie auf die Verspätung eines Zuges: lästig, aber es gab Schlimmeres im Leben. Die Züge fuhren auch während der Luftangriffe weiter, und der Schaden für die Wirtschaft hielt sich in Grenzen. Im April 1941 wurde die britische Kriegsproduktion durch den Ostermontag, an dem alle Arbeiter freihatten, stärker getroffen als durch den Luftangriff.[8]

Nach einigen Wochen wurde über die deutschen Bomben wie über das Wetter geredet. «Es war heute recht blitzy, oder?»[9] Ein amerikanischer Schriftsteller notierte, dass «die Engländer schneller gelangweilt sind als alle anderen» und kaum jemand noch Deckung suchte.[10]

Und die mentale Verwüstung? Die Millionen an traumatisierten Opfern, vor denen die Experten gewarnt hatten? Nirgends zu entdecken. Natürlich gab es viel Kummer und Wut. Natürlich gab es tiefe Trauer um die umgekommenen Angehörigen.

Aber die psychiatrischen Notaufnahmen blieben leer. Mehr noch, mit der mentalen Gesundheit vieler Briten ging es bergauf. Der Alkoholmissbrauch nahm ab. Weniger Menschen als in Friedenszeiten begingen Selbstmord. Nach dem Krieg sehnten sich viele Briten sogar nach der Zeit des Luftkrieges zurück, als jeder jedem half und es keine Rolle spielte, ob man links oder rechts, arm oder reich war.[11]

«Die britische Gesellschaft wurde durch den Luftkrieg in vielerlei Hinsicht stärker», schrieb ein britischer Historiker später. «Hitler war enttäuscht.»[12]

 

Der berühmte Massenpsychologe Gustave Le Bon hätte also in diesem Fall nicht schlimmer danebenliegen können. Die Notsituation hatte nicht das Schlechteste im Menschen hervorgeholt. Das britische Volk stieg auf der Zivilisationsleiter ein paar Stufen hinauf. «Der Mut, der Humor und die Freundlichkeit der einfachen Menschen», notierte eine amerikanische Journalistin in ihrem Tagebuch, «sind angesichts dieses Albtraums erstaunlich.»[13]

Die unerwartet positiven Auswirkungen der deutschen Bombardements führten zu einer neuen militärischen Diskussion. Großbritannien selbst besaß eine Flotte von Bombern, und die Frage war: Wie konnten diese am effektivsten gegen den Feind eingesetzt werden?

Seltsamerweise beharrten die Experten der Royal Air Force unvermindert darauf, dass sich der Wille eines Volkes brechen ließe. Mit Bombardements. Gut, vielleicht war das bei den eigenen britischen Landsleuten nicht geglückt, aber das musste dann ein Ausnahmefall gewesen sein: Kein anderes Volk auf der Welt könnte ebenso nüchtern und mutig reagieren. Die Deutschen würden nach Ansicht der Experten «nicht ein Viertel»[14] der Bombenmenge ertragen. Der Feind sei sowieso moralisch wenig belastbar.

Diese Experten erhielten Rückenwind von Churchills Busenfreund: Frederick Lindemann, auch bekannt als Lord Cherwell. Eines der wenigen Porträts, die von ihm existieren, zeigt einen hochgewachsenen Mann mit Melone, Spazierstock und eiskaltem Blick.[15] In den hitzigen Diskussionen um die Luftmacht blieb Lindemann hart. Bombardements funktionieren. Wie Gustave Le Bon hatte er keine hohe Meinung vom einfachen Volk; er hielt es für feige und zur Panik neigend.

Um seinen Standpunkt zu bekräftigen, schickte Lindemann ein Team von Psychiatern nach Birmingham und Hull, zwei Städte, die gnadenlos bombardiert worden waren. In kurzer Zeit interviewten die Wissenschaftler Hunderte von Menschen, die während des Luftkrieges ihr Zuhause verloren hatten.[16] Sie fragten nach den belanglosesten Einzelheiten – von «der Anzahl der getrunkenen Pints bis zur Menge des gekauften Aspirins».[17]

Einige Monate später erhielt Lindemann den Abschlussbericht. Die Schlussfolgerung stand auf dem Titelblatt:

 

«KEIN BEWEIS FÜR EINE SCHWÄCHUNG DER MORAL».[18]

 

Und was tat Frederick Lindemann? Er winkte angesichts dieser Schlussfolgerung ab. Er hatte längst beschlossen, dass Bombardements hervorragend funktionieren würden, und ließ sich darin nicht beirren.

Lindemann schrieb schließlich auch eine der Untersuchung gänzlich widersprechende Notiz, die auf Churchills Schreibtisch landete:

Die Forschung scheint zu beweisen, dass die Zerstörung des Hauses eines Menschen sehr schädlich für seine Moral ist. Die Leute scheinen das für noch schlimmer zu halten als den Verlust von Freunden oder sogar ihrer Familie. […] Wir können in den 58 wichtigsten deutschen Städten zehnmal mehr Schaden anrichten. Es...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Übersetzer Ulrich Faure, Gerd Busse
Zusatzinfo Mit 17 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Allgemeinwissen • Anthropologie • Bestseller • bestsellerliste spiegel aktuell • Evolutionspsychologie • Gerechtigkeit • Geschichte • Geschichte der Menschheit • Intuition • Lebensethik • Menschheitsgeschichte • Menschliches Handeln • Moralphilosophie • Ökologie • Politik • Sachbuch • Vatertagsgeschenk • Weltgeschichte • Wichtelgeschenk • Wissen
ISBN-10 3-644-00763-2 / 3644007632
ISBN-13 978-3-644-00763-5 / 9783644007635
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