Historische Migrationsforschung (eBook)
271 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44365-2 (ISBN)
Sylvia Hahn ist Historikerin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg.
Sylvia Hahn ist Historikerin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg.
1. Begriffe, Typologien, Theorien der Migration
1.1 Begriffe
Der Begriff Migration kommt vom lateinischen migrare und bedeutet wandern bzw. wegziehen. Mit dieser breit angelegten Definition sind weder zeitliche, räumliche noch personenbezogene Ausprägungen der Wanderung festgelegt und normiert. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde fast ausschließlich der Begriff der Wanderung bzw. der Wanderungsbewegung verwendet. Der Begriff Migration tauchte erst vereinzelt in Publikationen der 1930er Jahre auf, wie beispielsweise in der Studie der Gebrüder Kulischer (Kulischer/Kulischer 1932).
Begriff der Wanderung
Der Begriff der Wanderung war im 19. Jahrhundert in Europa aufgrund der sich herausbildenden Nationalstaaten und der mit der Wanderungsforschung beschäftigten Statistik vor allem politisch-rechtlich bzw. statistisch-juristisch definiert (Marschalck 1996: 4). Land-Stadt-Wanderungen wurden als Binnenwanderungen über die Gemeinde-, Stadt-, Bezirks- oder Landesgrenze, die Auswanderung als Fernwanderung über die Staatsgrenze hinweg gewertet und analysiert. Eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffs der Wanderung erfolgte zur Jahrhundertwende durch die sich etablierende soziologische Forschung. Ferdinand Tönnies (1855–1936) beispielsweise unterschied zwischen dem »Wandern, Reisen und Vazieren«. Tönnies‹ Schüler Rudolf Heberle (1896–1991) verstand unter Migration »jeden Wechsel des Wohnsitzes, und zwar de facto-Wohnsitzes, einerlei ob freiwillig oder unfreiwillig, dauernd oder vorübergehend« (Heberle 1955: 2). Eine überaus breite Definition lieferte Everett S. Lee (1917–2007) in den 1960er Jahren, indem er bereits den Wohnungswechsel innerhalb eines (Miets-)Hauses als Migration bezeichnete (Lee 1964: 49).
Definition von Migration von E.S. Lee (1960)
»Migration is defined broadly as a permanent or semi-permanent change of residence. No restriction is placed upon the distance of the move or upon the voluntary or involuntary nature of the act, and no distinction is made between external and internal migration. Thus, a move across the hall from one apartment to another is counted as just as much an act of migration as a move from Bombay, India, to Cedar Rapids, Iowa, though, of course, the initiation and consequences of such moves are vastly different. However, not all kinds of spatial mobility are included in this definition. Excluded, for example, are the continual movements of nomads and migratory workers, for whom there is no long term residence, and temporary moves like those to the mountains for the summer.
No matter how short or how long, how easy or how difficult, every act of migration involves an origin, a destination, and an intervening set of obstacles. Among the set of intervening obstacles, we include the distance of the move as one that is always present.« (Lee 1969: 285)
Der deutsche Historiker Wolfgang Köllmann (1925–1997) verstand – in Anlehnung an Malthus‹ These der Überbevölkerung und des unzureichenden Nahrungsspielraumes – »jede Wanderung als Bewegung zum Ausgleich wirtschaftlicher, sozialer oder auch kultureller Gefälle zweier Nahrungsspielräume« (Köllmann 1976: 263). Für den Schweizer Migrationsforscher H. J. Hoffmann-Nowotny wird Migration »Bewegung von Einzelpersonen oder Gruppen im Raum« definiert (Hoffmann-Nowotny 1970: 53).
Aktuelle Definitionen von Migration sind, wie im 19. Jahrhundert, überwiegend politisch und rechtlich ausgerichtet und meist an diejenige der Vereinten Nationen (UN) angelehnt. Migration wird hier verstanden als ein Wohnortwechsel, der entweder innerhalb eines Staates oder auch grenzüberschreitend erfolgt. In medialen oder tagespolitischen Diskursen wird der Begriff der Migration jedoch oft mit grenzüberschreitenden internationalen Wanderungen gleichgesetzt bzw. undifferenziert für je spezifische aktuelle Wanderungsbewegungen, wie beispielsweise für Kriegsflüchtlinge, verwendet.
Definition von Migration der UN Migration Agency (IOM)
»The UN Migration Agency (IOM) defines a migrant as any person who is moving or has moved across an international border or within a State away from his/her habitual place of residence, regardless of (1) the person’s legal status; (2) whether the movement is voluntary or involuntary; (3) what the causes for the movement are; or (4) what the length of the stay is.«
Migration als Ortsveränderung/Migrationssysteme
Für die historische Migrationsforschung bietet sich eine breit gefasste Definition von Migration an, wie dies beispielsweise der deutsche Historiker und Migrationsspezialist Peter Marschalck (1938–2016) empfahl: Unter Migration werden daher hier im Folgenden alle Wanderungen verstanden, die mit der Aufgabe des bisherigen Aufenthaltes bzw. Wohnsitzes und der Findung eines neuen Aufenthaltsortes verbunden waren bzw. sind (Marschalck 1996: 6). Bedenkt man zudem, dass die Wanderungen der Menschheit auf und zwischen den Kontinenten über die Jahrtausende hinweg die unterschiedlichsten Formen hinsichtlich Dauer, Distanz und Zusammensetzung aufwiesen und dass politisch-territoriale Markierungen und später nationalstaatliche Grenzziehungen sich ständig (ver-)änderten, so greift eine ausschließlich auf internationale grenzüberscheitende Migrationen konzentrierte Definition zu kurz. Denn dabei ausgeblendet bleiben die umfangreichen klein- oder großräumigen Binnenmigrationen innerhalb eines Nationalstaates. Um diese Aspekte in ihrer Gesamtheit zu erfassen, hat Dirk Hoerder den Begriff der mikro-, meso- und makroregionalen Migrationssysteme in die Diskussion eingebracht:
Migrationssysteme
Wanderungssysteme bezeichnen die Summe empirisch verifizierter Migration Vieler – individuell, in familiärer, in berufsspezifisch oder ethnokulturell definierten Gruppen – aus einer geographisch-wirtschaftlich definierten Region in eine ebenso definierbare Zielregion, die über einen längeren Zeitraum andauern und durch stetige Informationsflüsse selbst reguliert werden. (…) Migrationssysteme in ihrer
Gesamtheit entstehen aus den, bei makroregionaler Ausdehnung millionenfachen, Entscheidungen von Männern und Frauen, den für ihre Lebenspersktiven unbefriedigenden Ort zu verlassen und, unter Wissen um potenzielle Ziele, bessere Optionen anzustreben (Hoerder 2016a: 42–43).
Reise
Wenn wir demnach Migration als einen Um- und Wegzug definieren, der mit der Aufgabe des bisherigen Aufenthaltsortes einhergeht, so ergibt sich dadurch eine klare Abgrenzung zur Reise. Im Gegensatz zur Migration handelt es sich bei einer Reise um einen zeitlich begrenzten (Freizeit-)Aufenthalt in einer anderen Region unter Beibehaltung des (politisch-rechtlichen) Aufenthaltes bzw. Wohnsitzes. Reisen ist also eine kurzfristig (freizeitbedingte) Ortsveränderung bei gleichzeitiger Beibehaltung des politisch-rechtlichen Aufenthaltsortes und Aufrechterhaltung der bisherigen Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse.
Pendler
Wie verhält es sich mit der Pendelwanderung? Sind Pendler aufgrund ihres zeitlich limitierten Wohnortwechsels bei gleichzeitiger Beibehaltung des (politisch-rechtlichen) Aufenthalts- und Wohnortes Migranten? In den meisten wissenschaftlichen Abhandlungen werden Pendler aufgrund dieses spezifischen temporären Aufenthaltswechsels mit gleichzeitigen Doppel-, manchmal auch Dreifachwohnsitzen nicht zu den Migranten gezählt. Meines Erachtens muss hier jedoch...
Erscheint lt. Verlag | 17.5.2023 |
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Reihe/Serie | Historische Einführungen | Historische Einführungen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Abwanderung • Auswanderung • Ausweisung • Einwanderung • Flucht • Gender • Geschichte • Geschichtswissenschaften • Globalgeschichte • Migranten • Migration • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-593-44365-1 / 3593443651 |
ISBN-13 | 978-3-593-44365-2 / 9783593443652 |
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