Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2446-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land - Erwin Berner
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'Wer war ich zu jener Zeit, an jenem Ort?'.

Mai 1975: Der junge Schauspieler Erwin Berner zieht in die Schreinerstraße in Friedrichshain. Hier wird er sein Leben verbringen, Erfolge feiern, sein Coming Out erleben, aber auch die Brüche der Wende und Nachwendezeit erfahren. Geht er dann durch die Straßen, tritt er in seine Wohnung, so erinnert ihn alles an das, was war und nicht mehr ist, verschwunden im Strudel einer neuen Zeit. Schreibend wird er zum literarischen Chronisten einer anderen Welt und erobert sich den Boden, der ihm nach der Wende in Berlin unter den Füßen weggezogen wurde, zurück. Es sind Bilder einer Stadt und eines Lebens, die in der Erinnerung Gestalt annehmen und sich wie ein Schattenspiel über die Oberfläche des Hier und Jetzt schieben.

Mit seiner Biografie schreibt sich Erwin Berner eindringlich in die Veränderungen einer Stadtlandschaft ein.



Erwin Berner wurde 1953 als ältester Sohn von Eva und Erwin Strittmatter geboren. Er war ein vielbeschäftigter Bühnen- und Fernsehschauspieler, u. a. in 'Adel im Untergang', 'Sonjas Rapport', 'Die Verführbaren (Ein ernstes Leben)', 'Ein altes Herz geht auf die Reise' und 'Zur See'. Er lebt in Berlin und schreibt Stücke, Gedichte, Liedtexte und Prosa.

Im Aufbau Verlag ist sein Buch 'Erinnerungen an Schulzenhof' erschienen. Außerdem gab er (zus. mit Ingrid Kirschey-Feix) Erwin und Eva Strittmatter, 'Du bist mein zweites Ich. Der Briefwechsel' heraus.

2


Alles gestrige Erinnern zielt letztendlich auf ein verlorenes Lebensgefühl. Sehe ich in Oma Schades Küche den Abwaschtisch, den Kohlenkasten und die Kaffeekanne auf dem Küchentisch, habe ich das Bild so recht vorm inneren Auge, dann spüre ich sekundenweise die eigene Jugend. Ich weiß, der Tag beginnt und alles ist möglich. – Doch nichts ist möglich außer Schreiben.

Meine Lebensfreundin Johanna holt mich zu einer Autofahrt nach Reinickendorf ab.

Wir umlaufen den zugefrorenen und zugeschneiten Schäfersee. Die Polizei warnt seit Tagen, man solle die Berliner Gewässer nicht betreten. Trotzdem gehen Leute übers Eis. Selbst Kinder nehmen die uneinsichtigen Erwachsenen mit. – Johanna ist empört.

Ich erzähle, daß ich Carola Braunbock im Film »Florentiner 73« habe spielen sehen. Vorm Fernseher hatte ich überlegt, wie alt sie während der Dreharbeiten gewesen sein mochte. Ich schätzte sie auf fünfundfünfzig und schaute im »Lexikon der DDR-Filmschauspieler« nach: Braunbock war 1971 erst siebenundvierzig Jahre alt.

Sie war jünger, als ich es heute bin, sage ich. Und dabei habe ich Carola Braunbock gestern nicht mehr mit den Augen der Jugend, die Alter sieht, wo es noch gar nicht sichtbar ist, taxiert. Ich habe versucht, sie mit meinem jetzigen Gefühl fürs Alter zu sehen. Dennoch habe ich mich so verschätzt.

Ich erzähle, daß ich in der Erinnerung an meine Freiberger Theaterzeit die Schauspielerin Grete Maurer zur Seniorin gemacht habe. Tatsächlich war Grete damals erst fünfzig Jahre alt. Ja, grausam ist die Jugend, was ihr Urteil übers Alter anlangt. Auch Johanna entsinnt sich, in der Jugend hart geurteilt und Kollegen für alt erklärt zu haben.

Wir spazieren durch Seitenstraßen zum Franz-Neumann-Platz und halten nach jener Parterrewohnung Ausschau, in deren Fenster letztes Jahr ein Schild fragte: Wer mietet mich? Ich war letztes Jahr gewillt umzuziehen. Nur fort aus dem Stadtbezirk Friedrichshain, fort aus der Schreinerstraße, fort vom Kinderladen. Reinickendorf erschien mir ideal. Hier war alles so still-beschaulich, als lebte der gesamte Stadtbezirk im Ruhestand. Dazu das Schild im Fenster. Bei unserem nächsten Spaziergang entdeckten wir, daß die Wohnung unter der Einflugschneise zum Flughafen Tegel liegt. Heute sehen wir, ihr Eigentümer hat es aufgegeben, sie vermieten zu wollen, und das Schild entfernt.

Während wir zum Auto zurückkehren, schildere ich, was mir gestern in der Drehtür vom »Plaza«-Gebäude widerfahren ist. Daß mich meine Gereiztheit ängstigt. Und gewiß hat sie mit dem Kinderladen und mit meinem Alter zu tun.

Im Postschließfach finde ich die Telefonrechnung. Obwohl ich in letzter Zeit viel telefoniert habe, weicht sie von der üblichen Monatsrechnung nicht ab. Ich habe dank einer Billigvorwahlnummer kostengünstig telefoniert.

Wie sehr ich mich ans eigene Telefon gewöhnt habe. Heutzutage heftet niemand mehr einen Zettel an die Wohnungstür: Habe dich leider nicht angetroffen. Wie traurig! Oder: War hier! – Wo bist du? Oder: Komme in einer Stunde wieder. Gruß …

Zu Oma Schades Zeiten hinterließ bei ihr, wer laut genug sprechen konnte, eine Nachricht für mich.

Da war wieder die junge Frau dagewesen, die schon öfters da war.

Welche, Oma Schade?! Die blonde?!

Nein, die andre. Die kleine.

Ich rätselte: Die kleine Frau – meinte Oma Schade Frau Taube? Wir waren uns zufällig in einem Berliner Theater wiederbegegnet. Seitdem besuchte mich die ehemalige Freiberger Theaterdramaturgin zuweilen abends überfallartig. Sie setzte sich in meinem Untermietzimmer fest und berichtete von ihrem verworrenen Leben. Oder Frau Taubes Leben war gar nicht verworren und sie schilderte es nur so.

Oma Schade konnte auch sagen: Da war jetzt eine Frau da, die war noch nie da.

Es stellte sich heraus, meine Mutter hatte mich besuchen wollen. Ich schrie: Doch, Oma Schade, die Frau war schon mal hier: meine Mutter!

Wer?

Meine Mutter wollte mich besuchen!

Na kann sie doch.

Nachdem Oma Schade gestorben war, hefteten Freunde, die mich daheim nicht antrafen, Zettel an die Wohnungstür. Oder sie steckten die Zettel zusammengefaltet ins Schlüsselloch. Das ging so, bis ich ein eigenes Telefon bekam. Seitdem besucht mich kaum jemand unangemeldet. Bleibt die Frage: Bin ich, von mir unbemerkt, zum Westler geworden, der nur nach Ankündigung besucht werden möchte? Oder liegt’s am Alter, daß mich heute unangemeldeter Besuch stört?

Oma Schade redete oft vom Krieg. Sobald sie eine Weile erzählt hatte, wußte sie nicht mehr, von welchem Krieg sie sprach.

Welchen meinen Sie jetzt, Weltkrieg eins oder Weltkrieg zwei?!

Hm. Oma Schade stand in der Kittelschürze vor mir, ihre Arme ruderten. Meine Frage hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Welcher wird’s wohl gewesen sein? überlegte sie mir zuliebe. Wahrscheinlich der erste. Sicher war sie sich dessen nicht. Es war auch egal: Krieg war Krieg, und jeder war an viel Unglück schuld.

Der alte Schade war schon Mitte der 50er Jahre gestorben. Auch daran war der Krieg schuld. Und wenn nicht der Krieg, so die russische Kriegsgefangenschaft.

Seit ihr Mann tot war, vermietete Oma Schade das kleinere Zimmer ihrer Zweizimmerwohnung an Studenten, die ihr über die Bäckerei Wiener aus der Samariterstraße vermittelt wurden. Klara, die Tochter vom Bäckermeister Wiener, studierte Medizin. Sie machte Oma Schade mit zimmersuchenden Studenten bekannt. Auch mich machte sie mit ihr bekannt. Durch Klara wurde ich Oma Schades erster Nichtstudent-Untermieter.

Zeitweise hatten sogar zwei Studenten im vorderen Zimmer gewohnt, hatten sie sich in die Miete dreingeteilt. Herrenabende wurden veranstaltet, erzählte Oma Schade. Es wurde Bier getrunken und Skat gespielt. Aber legt mir ja ’ne Decke drunter, wenn ihr Skat kloppt, hab ich ihnen gesagt. Ich will keinen Ärger haben mit der von oben oder der von nebenan. Die Studenten hielten sich an die Anweisung.

Eines Abends brachte mir Oma Schade einen Schnellhefter.

Ich weiß ja nicht … Vielleicht intressiert Sie’s. Oma Schade lächelte. Ist dem seine Gerichtsakte – der Medizinstudent, von dem ich erzählt hab. Der verheiratete.

Ach der …!

Oma Schade zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie im Sessel saß und laut fernsah.

Ich las die Akte: Der Student hatte nach dem Studium die Scheidung beantragt. Er, der Mediziner, wollte nun eine standesgemäße Frau und nicht mehr die Bauerntochter, die er geschwängert und, weil es ihre Eltern verlangten, geheiratet hatte. Er behauptete vor Gericht, seine Frau hätte sich mit ihm geistig nicht mitentwickelt. Außerdem wäre sie als Hausfrau eine Versagerin. Die verklagte Partei verabsäumte es, auf den Möbeln der klagenden Partei Staub zu wischen, las ich. Die Ehe wurde tatsächlich geschieden. Der Mediziner setzte sich später nach Westberlin ab. Oma Schade fand die Akte, als das Zimmer von der Kriminalpolizei geräumt worden war.

Na, wie gefällt Ihnen das? fragte sie am nächsten Morgen. Hat ich ’nen feinen Untermieter, was? Aber die Frau war wirklich sehr vom Lande, paßte von Anfang an nicht zu ihm.

Oma Schade vermietete nicht nur des Geldes wegen. Sie wollte Gesellschaft und beklagte sich, wenn ich längere Zeit auswärts arbeitete. Manchmal schwieg sie auch trotzig, wenn ich erst am Wochenende heimkehrte.

Dachte schon, Sie kommen gar nicht wieder … Da! Der Nagel muß in die Wand geschlagen werden.

Oma Schade hielt mir Hammer und Nagel hin. Strafarbeit! Als ich nach ihrem Tod die Wohnung renovierte, fand ich an den seltsamsten Stellen eingeschlagene Nägel. Und warum hat Oma Schade hier einen Nagel eingeschlagen? überlegte ich. Ich entdeckte noch jahrelang Nägel in den Wänden. Und einige beließ ich als Zeugen meiner Untermieterzeit an ihrem Platz.

Oma Schade konnte auch gut erst mal ein wenig barmen und jammern, daß niemand ihr, der alten Frau, helfe, bevor sie mir sagte, was handwerklich zu erledigen sei. Ehe sie mir Hammer und Nagel in die Hand drückte.

Am Ende des fast zehn Meter langen Flurs befand sich hinter einem geblümten Vorhang der Hängeboden. Ebenso, wie sich in meiner Kindheit in Neuruppin am Ende von Großmutters Wohnungsflur hinter einem Vorhang ein Hängeboden befunden hatte. Doch war der Neuruppiner Flur nicht so lang und dunkel wie Oma Schades Flur, auf dem in einer verstaubten Mattglaskugel eine Vierzig-Watt-Glühbirne brannte.

Ein schwarzes Ofenrohr kreuzte vom Bad aus den Flur und führte durch die Wand in den Schornstein der Nachbarwohnung. Das Rohr gehörte zum Badeofen, den Oma Schade selten heizte. Wir wuschen uns kalt. Auch wer bei mir übernachtete, wusch sich am nächsten Morgen kalt. Das Bad war eine kalte Angelegenheit.

Im Bad waren Wäscheleinen gespannt, auf denen Oma Schades Schürzen und ihre rosa Altfrauenunterwäsche trockneten. Flur und Bad rochen nach Gas und Urin – ein leicht bitterer Geruch. Erst Jahre nach ihrem Tod gelang es mir, ihn aus der Wohnung zu vertreiben. Heute sehne ich mich manchmal nach ihm, denn auch der leicht bittere Geruch hat mit meiner Jugend zu tun.

Oma Schade klagte über Einsamkeit. Sie war jedoch nicht einsam. Ihre Tochter, die in Berlin-Schöneweide lebte, und auch die Enkeltochter besuchten sie und schauten in ihrer Wohnung nach dem Rechten. Und selbst der Urenkel, ein Junge in kurzen...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Autobiografischer Roman • Berlin • Coming out • DDR • DDR Alltag • Erwin Berner • Erwin Strittmatter • Eva Strittmatter • Friedrichshain • Homosexuelle Künstler • Mauerfall • Schauspieler • Schulzenhof • Wende • Wendejahr
ISBN-10 3-8412-2446-6 / 3841224466
ISBN-13 978-3-8412-2446-0 / 9783841224460
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