Denkräume (eBook)

Von Orten und Ideen
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2020 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00638-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Denkräume -
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'Das Denken ist so unberechenbar wie die Gegenwart, in der es stattfindet.' Wie sehr hängt das Denken davon ab, wo man denkt? Prinzipiell ist es überall und jederzeit möglich. Musik und Tanz können uns denken lassen, das Sitzen in der Küche, ein Spaziergang durch die Natur oder die Stadt, die virtuelle Bewegung im Netz, allein oder im Kontakt mit anderen: Orte und Weisen des Denkens und Schreibens sind vielfältig. Unsere Räume des Denkens eröffnen Möglichkeiten und beschränken diese, sie trennen und verbinden zugleich. Denken setzt sich, selbst räumlich beschränkt, über Grenzen hinweg. Journalistinnen und Journalisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Schriftstellerinnen und Schriftsteller reflektieren über die Orte, an denen sie denken und schreiben. Was macht der Ort mit den Gedanken? Entstanden sind Anekdoten, Dialoge, autobiographische Beobachtungen, literarische Streifzüge, Denkbilder und Essays. Sie alle ergeben einen so vergnüglichen wie ernstzunehmenden Blick auf die Denkräume der Gegenwart. Mit Beiträgen von Basma Abdelaziz, Meryl Altman, Dirk Baecker, Jens Balzer, Bernd Bösel, Friedrich von Borries, Mercedes Bunz, Ann Cotten, Dietmar Dath, Diedrich Diederichsen, Sascha Ehlert, Carolin Emcke, Hanna Engelmeier, Isabelle Graw, Rahab Haidar, Sven Hanuschek, Gerhard Henschel, Iman Humaidan, Ann Lauterbach, Birthe Mühlhoff, Matthias Nawrat, Joseph O'Neill, Kathrin Passig, Stephan Porombka, Kathrin Röggla, Juan G. Sánchez Martínez, Nora Sternfeld, Jörg Sundermeier, Me?ale Tolu, David Wagner und Bernhard Waldenfels.

Simone Jung ist Soziologin und schreibt als freie Autorin über Popkultur und Kunst. Nach Tätigkeiten bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, TAZ, De: Bug und dem Missy-Magazine arbeitete sie als Journalistin in Berlin. Sie hat an der Universität Hamburg über das Politische im Feuilleton promoviert und forscht und lehrt heute an der Leuphana Universität in Lüneburg an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Zuletzt gab sie den Band «Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur» mit heraus. Jana Marlene Mader promoviert als Stipendiatin am literaturwissenschaftlichen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München und ist Gastwissenschaftlerin am Hannah Arendt Center des Bard College in New York. Sie lehrte an der University of North Carolina, USA im Department der German Studies und arbeitet als freie Autorin und Übersetzerin. 2017 erschien ihr Debütroman «Wir alles, wir nichts». Als Wissenschaftlerin, Lehrende und Schriftstellerin arbeitet sie an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literatur.  Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. fu?r «Die Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam ... Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher - und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.» 2021 folgte «High Energy.  Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt» sowie 2023 «No Limit. Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit».   Sven Hanuschek, geb. 1964, studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie, Psycholinguistik und Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Publizist, Germanist, lehrt Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Philologie der Münchner Universität. Schwerpunkte: deutsche Literatur des 19.-21. Jahrhunderts, Literatur und Sozialpsychologie, Ethnologie, Film, Biographie. Bücher über Heinar Kipphardt, Uwe Johnson, Erich Kästner, Elias Canetti, Heine, Laurel & Hardy, eine Geschichte des westdeutschen P.E.N. Editionen (Kipphardt/Grieshaber, Kästner, Canetti, B. v. Brentano), Herausgeberschaften, zahlreiche Aufsätze und Rezensionen. Eine ausführliche Liste seiner Veröffentlichungen findet sich auf der Webseite germanistik.uni-muenchen.de/pdf/pdf_publikationslist/publikation_hanuschek.pdf Gerhard Henschel, geboren 1962, ist freier Schriftsteller. Zahlreiche Veröffentlichungen. Zuletzt erschienen: 'Die Liebenden', Hamburg 2002; 'Die wirrsten Grafiken der Welt', Hamburg 2003; 'Kindheitsroman', Hamburg 2004; 'Der dreizehnte Beatle', Hamburg 2005; 'Danksagung', Göttingen 2005. Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; «Unternehmer» (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. «Der traurige Gast» (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. «Reise nach Maine» (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband «Gebete für meine Vorfahren» (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin. Joseph O'Neill wurde 1964 als Sohn einer Türkin und eines Iren in Cork geboren und wuchs in Holland auf. Er studierte Jura in Cambridge und arbeitete als Anwalt in London.

Simone Jung ist Soziologin und schreibt als freie Autorin über Popkultur und Kunst. Nach Tätigkeiten bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, TAZ, De: Bug und dem Missy-Magazine arbeitete sie als Journalistin in Berlin. Sie hat an der Universität Hamburg über das Politische im Feuilleton promoviert und forscht und lehrt heute an der Leuphana Universität in Lüneburg an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Zuletzt gab sie den Band «Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur» mit heraus. Jana Marlene Mader promoviert als Stipendiatin am literaturwissenschaftlichen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München und ist Gastwissenschaftlerin am Hannah Arendt Center des Bard College in New York. Sie lehrte an der University of North Carolina, USA im Department der German Studies und arbeitet als freie Autorin und Übersetzerin. 2017 erschien ihr Debütroman «Wir alles, wir nichts». Als Wissenschaftlerin, Lehrende und Schriftstellerin arbeitet sie an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literatur.  Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für «Die Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam ... Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.» 2021 folgte «High Energy.  Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt» sowie 2023 «No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit».   Sven Hanuschek, geb. 1964, studierte Neuere deutsche Literatur, Philosophie, Psycholinguistik und Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Publizist, Germanist, lehrt Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Philologie der Münchner Universität. Schwerpunkte: deutsche Literatur des 19.–21. Jahrhunderts, Literatur und Sozialpsychologie, Ethnologie, Film, Biographie. Bücher über Heinar Kipphardt, Uwe Johnson, Erich Kästner, Elias Canetti, Heine, Laurel & Hardy, eine Geschichte des westdeutschen P.E.N. Editionen (Kipphardt/Grieshaber, Kästner, Canetti, B. v. Brentano), Herausgeberschaften, zahlreiche Aufsätze und Rezensionen. Eine ausführliche Liste seiner Veröffentlichungen findet sich auf der Webseite germanistik.uni-muenchen.de/pdf/pdf_publikationslist/publikation_hanuschek.pdf Gerhard Henschel, geboren 1962, ist freier Schriftsteller. Zahlreiche Veröffentlichungen. Zuletzt erschienen: "Die Liebenden", Hamburg 2002; "Die wirrsten Grafiken der Welt", Hamburg 2003; "Kindheitsroman", Hamburg 2004; "Der dreizehnte Beatle", Hamburg 2005; "Danksagung", Göttingen 2005. Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; «Unternehmer» (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. «Der traurige Gast» (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. «Reise nach Maine» (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband «Gebete für meine Vorfahren» (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin. Joseph O'Neill wurde 1964 als Sohn einer Türkin und eines Iren in Cork geboren und wuchs in Holland auf. Er studierte Jura in Cambridge und arbeitete als Anwalt in London.

I. Im Grundsätzlichen


Unbesetzte Räume


Carolin Emcke

«Also lassen Sie uns denken. Lassen Sie uns in Büros denken; in Omnibussen; während wir in der Menge stehen und Krönungen oder Amtsantrittsumzüge von Oberbürgermeistern beobachten; lassen Sie uns denken, wenn wir am Kenotaph vorbeigehen; lassen Sie uns in Whitehall denken; auf der Galerie des Unterhauses; in den Gerichtshöfen; lassen Sie uns bei Taufen und Hochzeiten und Beerdigungen denken.»

Virginia Woolf, Drei Guineen

Die Frage nach den Räumen, in denen ich denken kann oder, allgemeiner, in denen sich denken lässt, wird gewohnheitsmäßig auf Räume als Orte gelenkt, also auf ein Wo, an dem sich ungestört, unbelastet, unbeschwert denken (und schreiben) lässt. Ich vermute, diese eingeübte Assoziation, hin zu etwas Topographischem, Gegenständlichem, hat nicht zuletzt mit Virginia Woolfs legendärem Essay «Ein eigenes Zimmer» zu tun, der die dahingeworfene Frage nach «Frauen und Literatur» auf ihre eigenen unmöglichen Voraussetzungen hin abklopft und mit dem Verweis auf die ökonomischen und räumlichen Bedingungen des weiblichen Denkens und Schreibens von Literatur beantwortet.

Und so fallen auch mir all die Räume ein, die ich mir gesucht, die ich gebaut, in die ich geflohen bin, als Kind, die versteckten Zonen, im Wald, im Keller, die geschlossenen und manchmal auch offenen Räume, die vor allem dadurch definiert waren, was sie nicht waren: nicht laut, nicht besetzt, nicht dominiert durch oder von anderen, Erwachsenen, nicht ausgeliefert den Vorstellungen oder Konventionen anderer, also freie, leere, stille Räume, in denen sich atmen ließ. «Kein Zwang zur Eile, kein Zwang zu Geistesblitzen. Kein Zwang, irgendjemand anderes zu sein als man selbst.» (Woolf, Ein eigenes Zimmer.) Das trifft es, das waren Denkräume zuallererst: solche, die nicht durch Zwang markiert waren, jemand anderes zu sein als man selbst. Auch in jenen jungen Jahren, in denen dieses «man selbst» noch erst ungenau zu benennen, aber sehr genau zu spüren war.

Bis heute hat sich diese beißende Sehnsucht gehalten: in Räumen sein zu können, die nicht schon besetzt sind mit Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann oder will, in Räumen also, die mir selber Raum lassen. Bis heute empfinde ich eine regelrecht körperliche Freude, sobald ich an einem Ort bin, an dem ich lesen oder schreiben oder auch nur sein kann, ohne andere Ansagen oder Aufgaben, an einem Ort, an dem es keinen Zwang gibt, anders auszusehen, anders zu sprechen, anders zu denken, anders zu sein, keinen Zwang, mich anders kleiden, bewegen, artikulieren, etwas verbergen oder entschärfen zu sollen.

Später (bis heute) waren und sind solche geschützten Räume auch queere Clubs oder Bars, nicht als Orte, an denen sich schreiben ließe (oder für mich nicht), aber doch als «safe spaces», Orte, an denen es, neben der schlichten Freude an der Begegnung, auch ums Sichverständigen und miteinander Handeln gehen kann. In der letzten Zeit, in denen die Räume für diejenigen, die anders aussehen, anders glauben oder anders begehren, in vielen Gegenden der Welt wieder zu schrumpfen beginnen, waren diese vertrauten Orte für mich besonders wichtig, wenn es etwas zu betrauern gab – wie nach dem Anschlag von Orlando –, weil es dann besonders Menschen braucht, mit denen sich sprechen oder schweigen lässt. Ohne lange Erklärungen.

In den letzten Jahren, in denen die individuellen und kollektiven Anfeindungen zugenommen und das abstrakte Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit sich schmerzlich konkretisiert hat, ist mir dieses Denken mit anderen, die Suche nach Orten, an denen sich gemeinsam nachdenken lässt, unersetzlich geworden. Nicht nur als Räume, in denen wir uns beschützt und aufgehoben fühlen können, sondern auch als Räume, in denen zeitgeschichtliche, politische, soziale, ästhetische Fragen leidenschaftlich verhandelt werden können. Es ist ein großes Lebensglück, seit mittlerweile fünfzehn Jahren an der Schaubühne in Berlin einen solchen Ort, ein solches öffentliches, monatliches Gespräch mitgestalten zu können. Das reicht natürlich nicht. Es braucht mehr davon. Aber es ist mir über die Jahre immer kostbarer geworden, mir andere einladen zu dürfen und mit ihnen zusammen auf einem Podium, und immer auch mit dem Publikum, fragen, lernen, hadern, überprüfen, zweifeln und irren zu dürfen. Ein solcher Raum lebt, glaube ich, auch davon, dass das eigene Nicht-Wissen, Nicht-Verstehen sichtbar werden kann und nicht nur eine Expertise oder Überzeugung ausgestellt wird.

Der politisch-mediale Diskurs des Fernsehens bietet mittlerweile ja vor allem Gesprächssimulationen, die keinerlei, wirklich keinerlei Erkenntnisinteresse mehr leitet, sondern mit pornographischer Lust vorhersehbare Konflikte und Tabubrüche, in ewig selber dramaturgischer Abfolge, inszeniert. Wie da Woche für Woche jedes Nachdenken über die Welt, in der wir leben, systematisch verhindert wird, ist fast schon eine Kunstform. Und so sind alternative Orte, halb-öffentliche oder ganz-öffentliche Gespräche in Theatern oder Clubs, Buchhandlungen oder Teeküchen, Kirchen oder Vereinshäusern, aber auch Abende mit Freund*innen, in denen sich auch wieder das «Denken, das zuerst noch nicht um Richtung besorgt ist», wie Ingeborg Bachmann das in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen einmal nannte, üben lässt. Das braucht eine gewisse Geduld, dieses Denken ins Offene hinein, denn ohne die Bereitschaft, sich auch einmal zu irren, einmal zu verlaufen, sich zu korrigieren, getrieben von der Sorge, sich vom Vertrauten zu erntfernen und womöglich in unerwünschte Nähe zu politisch Andersdenkenden zu geraten, lässt sich nicht ernsthaft denken.

Das Sprachbild der Räume, die selber Raum lassen, eröffnet aber noch eine andere Überlegung, die wegführt von Räumen als Orten und hin zu Denkräumen als Phantasien, als Vorstellungen. Wenn ich diese Räume als Wie des Nachdenkens (oder des Womit) betrachte, also die Gegenden, in die hinein ich denken gelernt habe, dann spielte nicht nur das wachsende Reservoir an Wörtern eine Rolle, mit denen sich die Welt erschließen ließ, sondern auch die Geschichten und Erzählungen, mit denen sich Affekte und Beziehungen, Normen und Lebensentwürfe begreifen ließen: Für mich waren das sehr früh die biblischen Figuren und ihre Lebenswelt, und sie sind es noch heute, aber natürlich erweitert und vertieft um poetische oder theoretische, dramatische oder literarische Texte, die mich nicht nur in andere Erfahrungswelten haben hineindenken lassen, sondern auch durch ihre Musikalität und ihren Rhythmus mein Denken strukturiert und getaktet haben. Welche Metaphern, welche Bilder, welche Synkopen die Assoziationsketten meines Denkens in bestimmte Richtungen drängen, das ist immer auch geprägt und geleitet, mal bewusster, mal unbewusster, durch das Denken und Schreiben anderer, die sich in mir eingelagert oder die mich geformt haben mit ihren Versen, ihren Motiven, ja ihren Versprechen von Glück und Freiheit. So verknüpfen sich mit Begriffen über die Zeit Deutungen und Bedeutungen, die ihnen in einer alten Erzählung, einem Gedicht zugewiesen wurden, so verknüpfe ich, anders als andere, die andere Geschichten gelesen und in sich eingelagert haben, «Schilf» kaum merklich mit dem Auffinden des Mose oder «Glocken» mit den rauschenden Wellen des Pazifik, auf die Pablo Neruda von seinem Haus in Valparaiso aus schaute, so wie ich bei «Enten im Park» nicht anders kann, als mich zu fragen, wie Holden Caulfield, wohin sie im Winter gebracht werden, oder selbst beim unspektakulärsten Gurken-Sandwich immer an Oscar Wildes Snobismus denken muss. So verkoppeln sich manche Begriffe und Bilder auch immer mit schmerzlichen Gefühlen, evozieren Angst oder lösen umgehend Ruhe und Versöhnung aus, weil sie uns rückversetzen in den Erzählraum, aus dem sie ursprünglich einmal, in unserer Denkbiographie, stammen.

Diese Räume, in die sich denken lässt, diese Landschaften, in die sich imaginieren lässt, sind immer vorgegeben und eben doch angeeignet, so subjektiv und vereinzelt, wie sozial und gemeinsam geteilt mit all denen, denen sich diese literarischen Motive und Bilder, diese Figuren und Erfahrungen ebenso (und etwas anders) eingeschrieben haben. Es sind endlose Fäden, die miteinander verknüpft und verwoben, wieder aufgelöst und hängen gelassen werden, und sie verbinden oder trennen, vergemeinschaften oder individuieren uns, immer wieder mit anderen.

In meinem Fall gehörte von früh an die klassische Musik zu dem vielleicht am tiefsten prägenden Denkraum, die musikalische Sprache ist für mich diejenige, die mir – durch ihre Methodik – die komplexesten Empfindungen und Gedanken erschlossen hat. Sie hat vermutlich auch, neben der Kritischen Theorie, den größten Einfluss auf mein eigenes Schreiben genommen. Aber es wäre fahrlässig, nur über ästhetische Denkräume, nur über das zu schreiben, was eine Person an sprachlichem, literarischem oder musikalischem Reservoir und Struktur gegeben wurde. Wenn es zu reflektieren gilt auf die Räume, in denen wir denken, dann gehören all jene Einflüsse, all jene Setzungen dazu, die das Denken behindern, unterdrücken oder abkürzen lehren, all die Ritualisierungen, Tabuisierungen, die unser Denken, unsere Körper angepasst und zugerichtet haben. Wenn erfasst werden soll, in welchen Räumen sich denken lässt, dann müssen all die Institutionen und Traditionen mit beschrieben werden, die das unabhängige, querulantische, subversive Denken einordnen, begradigen, maskieren wollen. Es sind Trainingsräume, in denen Regeln und ihre Anwendungen,...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2020
Co-Autor Basma Abdelaziz, Meryl Altman, Dirk Baecker, Jens Balzer, Friedrich von Borries, Bernd Bösel, Mercedes Bunz, Ann Cotten, Dietmar Dath, Sascha Ehlert, Hanna Engelmeier, Isabell Graw, Rabab Haidar, Sven Hanuschek, Gerhard Henschel, Iman Humaydan, Ann Lauterbach, Birthe Mühlhoff, Matthias Nawrat, Joseph O'Neill, Kathrin Passig, Stephan Porombka, Kathrin Röggla, Juan Sanchez-Martinez, Nora Sternfeld, Jörg Sundermeier, Meşale Tolu, David Wagner, Bernhard Waldenfels, Diedrich Diederichsen, Carolin Emcke
Übersetzer Friederike von Criegern, Larissa Bender, Hannes Riffel, Andreas Fliedner
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Denkanstöße • Denken • Denker • Entdecken • Gedanken • Gesellschaft • Ideenfindung • Kreativität • Medienkritik • Orte • Philosophie • Politik • Raum • Reflexion • Schreiben • Schreiborte • Verstand
ISBN-10 3-644-00638-5 / 3644006385
ISBN-13 978-3-644-00638-6 / 9783644006386
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