Wider den Kapitalismus (eBook)

Antikapitalismen in der Moderne
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
294 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44253-2 (ISBN)

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Wider den Kapitalismus -
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Die Geschichte des Kapitalismus wird seit einigen Jahren wieder intensiv diskutiert und erforscht. Erstaunlicherweise gilt das nicht für den Antikapitalismus, obwohl er politische Gegenbewegungen und Ideen hervorgebracht hat, die auf die Entwicklung des Kapitalismus und der modernen Gesellschaft entscheidenden Einfluss ausgeübt haben. So zielt dieser Band darauf, den Antikapitalismus zu einem Thema eigenen Rechts zu machen und Perspektiven für die historische Forschung zu entwickeln.

Thomas Kroll ist Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Jena. Bettina Severin-Barboutie ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Gießen.

Thomas Kroll ist Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Jena. Bettina Severin-Barboutie ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Gießen.

Phasen der Kapitalismuskritik im Leben und Werk von Karl Marx


Jonathan Sperber

Nach den Ereignissen von 1989 bis 1991 löste sich der Ostblock auf; das kommunistische Wirtschaftssystem, von einigen kuriosen Ausnahmen wie Kuba und Nordkorea abgesehen, verschwand aus der Welt. Die Ostblockländer hatten sich, ob in gerechtfertigter Weise oder nicht, »marxistisch« genannt, und das Scheitern ihres Wirtschaftssystems führte dazu, dass die Kapitalismuskritik marxistischer Prägung nicht mehr mit Leidenschaft vertreten wurde. Plausible Alternativen zum Kapitalismus schien es damals nicht zu geben. Es war, so der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, das Ende der Geschichte.

Die globale Wirtschaftskrise von 2008 hat inzwischen zu einer Neubelebung der Kapitalismuskritik geführt. Marx und seine Ideen sind wieder da – und auch die Geschichte, pace Fukuyama, ist weitergezogen. Wenn man jedoch fragt, was in der Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus eigentlich auf Marx zurückgehe, sind es meistens Phrasen und Schablonen, wie Globalisierung, Krise, Verarmung, Ungleichheit. In diesem Aufsatz wird nun versucht, diese Phrasen mit Inhalt zu füllen und ihren Ort im Leben und Werk von Marx herauszuarbeiten, die Kapitalismuskritik von Marx zu skizzieren und chronologisch einzuordnen, vom Beginn des öffentlichen Wirkens Marxens bis in die Zeit kurz vor seinem Tod. Es werden dabei sowohl andauernde Elemente seiner Kritik als auch zeitweilig vorherrschende Emphasen hervorgehoben.

Marx war kein geborener Kapitalismuskritiker. Im Gegensatz zu seinem Freund und Jünger Friedrich Engels, dessen öffentliches Wirken fast von Anfang an in enger Verbindung zum Antikapitalismus stand, war Marx in seiner ersten politischen Rolle als Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln von 1842 bis 1843 ein Verfechter der kapitalistischen Marktwirtschaft. Unter seiner Leitung stand die Zeitung in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten vor allem für den Freihandel.77 Marx verfasste eine Artikelreihe über die Wirtschaftsnot und den sich daraus ergebenden Holzdiebstahl der Moselwinzer, die im Nachhinein als Kritik des kapitalistischen Eigentumsbegriffs gedeutet werden kann und von Marx auch selber so gedeutet wurde.78 Der Schwerpunkt dieser Reihe lag jedoch vielmehr auf dem Versagen der preußischen Beamten, einer häufigen Zielscheibe der Marx’schen Kritik. Sie hätten tatenlos zugesehen, als die durch den Code Napoléon eingeführte rechtliche Neuordnung des Eigentums die früheren Gewohnheitsrechte der Winzer zum Sammeln von Windfallholz aufgehoben und die durch den Zollverein zugelassene Einfuhr süddeutscher Weine die Weinpreise gedrückt hätten. Die rechtliche Neuordnung des Code Napoléon und die Handelsfreiheit des Zollvereins förderten gewiss die kapitalistische Marktwirtschaft, durch die sich die Lage der Winzer erheblich verschlechterte. Die Beamten hätten, so Marx, nichts unternommen, um den Winzern zu helfen, sich an diese neue Lage anzupassen, schlimmer noch, sie hätten versucht, die Not der Winzer zum eigenen Vorteil auszubeuten. Eine öffentliche Besprechung der Notlage und Gegenmaßnahmen hätten die Beamten durch die Pressezensur verhindert.

Die von Marx gemachten Vorschläge zur Behebung der Lage der Winzer wurden ebenfalls von der Zensur erfasst und verboten. Sie durften nicht im Druck erscheinen; sollte es einen Entwurf oder ein Konzept gegeben haben, gibt es davon keine Überlieferung. Eine antikapitalistische Stoßrichtung dieser Vorschläge war angesichts eines von Marx zur gleichen Zeit verfassten Artikels eher unwahrscheinlich. Der in der Rheinischen Zeitung erschienene Artikel war eine Reaktion auf Vorwürfe der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die pro-demokratische Kölner Zeitung verbreite kommunistische Ideen. Er enthielt eine Schilderung der wirtschaftlichen und sozialen Zustände in Deutschland, und sprach davon,

»daß Deutschland jetzt arm ist an unabhängigen Existenzen, daß 9/10 der gebildeteren Jugend den Staat anbetteln um Brod für ihre Zukunft, daß unsere Ströme vernachlässigt, daß die Schifffahrt darniederliegt, daß unsern ehemals blühenden Handelsstädten der alte Flor fehlt, daß die freien Institutionen erst auf langsamen Wege in Preußen erstrebt werden, daß der Ueberfluß unserer Bevölkerung hülflos umherirrt, um in fremden Nationalitäten als Deutsche unterzugehen.«79

Diese Schilderung kam keineswegs sozialistisch oder antikapitalistisch daher, im Gegenteil, sie entstammte der Waffenkammer der liberalen Kritik vormärzlicher Zustände, ausgesprochen von Männern wie dem Kölner Handelskammerpräsidenten Ludolf Camphausen, einem Mitarbeiter der Rheinischen Zeitung, oder dem Aachener Großhändler David Hansemann, den Marx in seinen Artikeln zur Lage der Winzer lobend erwähnte.

Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass Marx während seiner Zeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung in Kontakt mit sozialistischen Ideen kam, vor allem durch die Teilnahme an einer Lesegruppe, die von Moses Hess geführt wurde. Hess war ein früher Verfechter des Kommunismus in Mitteleuropa, dessen intellektueller Einfluss auf Marx häufig unterschätzt wird. Im ersten längeren Werk von Marx, der unabgeschlossenen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, verfasst im Frühjahr und Sommer 1843 in Kreuznach unmittelbar nach dem Verbot der Rheinischen Zeitung, gibt es zwar einige kryptische Bemerkungen über »neuere französische Schriftsteller« und ihre Eigentumsbegriffe, und damit wohl einen Hinweis auf sozialistische oder kommunistische Ideen. Wie bei der Artikelreihe über die Moselwinzer war der Schwerpunkt des Aufsatzes aber ein anderer, er lag vor allem auf den Bedingungen einer demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung.80

Marx wurde, wie nach ihm Zhou Enlai, Ho Chi Minh und Pol Pot, erst in Paris zum Kommunisten. Während seines dortigen Aufenthalts, von Oktober 1843 bis Januar 1845, verkehrte er in den Kreisen republikanischer Geheimgesellschaften deutscher und französischer Handwerker, deren Mitglieder kommunistische Ideen erprobten, dabei lernte er Kommunisten wie Pierre-Joseph Proudhon kennen.81 Solche Begegnungen förderten gewiss seine antikapitalistischen Gesinnungen, jedoch lagen die intellektuellen Quellen der Marx’schen Kapitalismuskritik an anderer Stelle, und zwar in zwei Bereichen: Eine Quelle war die Lektüre der Klassiker der Nationalökonomie – Adam Smith, David Ricardo, Jean-Baptiste Say, James und John Stuart Mill. Wie sehr diese Marx beeindruckten, zeigen seine Aufzeichnungen. Er schrieb nicht nur ausführlich ab, sondern fasste die Ideen der Ökonomen in eigenen Worten und in deutscher Sprache zusammen, kritisierte sie und entwickelte aus ihnen heraus eigene Varianten.82 Die klassischen Nationalökonomen, wiewohl ausgesprochene Anhänger der kapitalistischen Marktwirtschaft, hatten ein düsteres Bild von deren Zukunft gezeichnet, besonders was den Wohlstand der Arbeiter betraf. Marx resümierte ihre Prognosen in einem Satz: »Also im abnehmenden Zustand der Gesellschaft progressives Elend des Arbeiters, im fortschreitenden Zustand complicirtes Elend, im vollendeten Zustand stationaires Elend.«83

Die zweite Quelle der entstehenden Marx’schen Kapitalismuskritik war die junghegelianische Religionsdeutung, die er verwendete, um die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse zu beleuchten. Den atheistischen Junghegelianern war Gott ein aus der Entfremdung und Entäußerung grundsätzlicher menschlicher Eigenschaften eingebildetes Wesen, dessen Existenz zur geistigen Verarmung der Menschheit führte. Marx übertrug diese Idee insofern, als für ihn die Ware zu einem aus der Entfremdung und Entäußerung der menschlichen Arbeit gebildeter Gegenstand wurde, der zur Verarmung der Arbeiter führe. Diese Art von Kapitalismuskritik wurde zuerst von Moses Hess formuliert; ein weiterer Beweis von dessen Einfluss auf die Marx’sche Gedankenwelt.84 In seinem Aufsatz über die Hegelsche Rechtsphilosophie hatte Marx schon versucht, die junghegelianische Religionskritik für die Kritik der Politik und Gesellschaft anzuwenden. Diese ersten Versuche gingen jedoch in eine andere Richtung. Sie zielten auf eine Versöhnung der Gegensätze zwischen Individuum und Gesellschaft und zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die durch eine...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2021
Co-Autor Frank Becker, Eva Maria Gajek, Wolfgang Knöbl, Thomas Kroll, David Kuchenbuch, Timo Luks, Axel Schildt, Bettina Severin-Barboutie, Jonathan Sperber, Dietmar Süß, Meik Woyke
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Kapitalismuskritik • Karl Marx • Marxismus • Sozialgeschichte • Sozialwissenschaften • Wirtschaft
ISBN-10 3-593-44253-1 / 3593442531
ISBN-13 978-3-593-44253-2 / 9783593442532
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