Die Mauergesellschaft (eBook)
1026 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76366-7 (ISBN)
Die Mauer sicherte nicht bloß eine Grenze, sie definierte Deutschland im Kalten Krieg. Von der aktiven Befürwortung über die stille Akzeptanz bis hin zum Widerstand einte die geteilte deutsche Gesellschaft, dass sie sich ihrer Existenz nicht entziehen konnte. In seiner brillanten und faktengesättigten Studie zeichnet der Historiker Frank Wolff diese Verhältnisse im Detail nach und zeigt unter anderem, dass die in der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit eher stiefmütterlich behandelte Forderung nach Reisefreiheit, der sich darum in der Bevölkerung entwickelnde Menschenrechtsdiskurs sowie die Ausreisebewegung selbst entscheidend für den Fall der Mauer waren.
Frank Wolff, geboren 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien in Osnabrück. Außerdem ist er Research Associate am Bard College in Berlin. 2019 erschien sein viel beachtetes Buch <em>Die Mauergesellschaft. Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961-1989</em> (stw 2297).
9Einleitung
1963 feierte Berlin ein besonderes Weihnachten. Zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren hatten die Einwohner wieder das Gefühl, in einer Stadt zu leben. Kurzzeitig erschien die erzwungene Spaltung in zwei Teile wie ein böser Spuk. Mit dem Bau der Berliner Mauer war eine Demarkationslinie zur Barriere gemacht worden: Straßen und Bahnverkehr wurden unterbrochen, allen Berlinern wurde der Grenzübertritt verboten, sogar die Telefonleitungen wurden gekappt. Doch war man noch ein Berlin! Weihnachten 1963 erlaubten die Passierscheinregelungen den West-Berlinern, für ein paar Tage ihre Ost-Berliner Verwandten zu besuchen. Endlich fühlte sich die Stadtmitte wieder so belebt an wie das Herz einer Großstadt; an der Bruchstelle zwischen den Systemen, an der Friedrichstraße, herrschte wohliges Verkehrschaos. Aber war man wirklich noch ein Berlin? Der Journalist Dieter Hildebrandt von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wohnte einem Wiedersehen in Ost-Berlin bei. Über die Mauer hinweg hatten die Verwandten sich herzliche Briefe geschrieben, Päckchen geschickt und gegenseitig Mut und Kraft zugesprochen. Das emotionale Wiedersehen begann mit Umarmungen, Begrüßungen und Bewunderung für die Kleinen. Doch bereits nach fünf Minuten stritt die geteilte Familie. Freuten sich die West-Berliner Gäste über die Besuchserlaubnis, sehnte der Ost-Berliner Vater dasselbe Recht für sich herbei – oder »wenigstens für alte Menschen«. Seine westdeutschen Verwandten wiesen ihn »ein bißchen obenhin« zurecht. Er solle »nun aber nicht gleich zu viel auf einmal wollen, schließlich sei die Passierscheinvereinbarung doch schon eine großartige Sache«. Der Haussegen hing schief. Ging es darum, gemeinsam gleiche Rechte gegen die Existenz der Mauer einzufordern, oder vielmehr, Willy Brandt folgend, darum, die Mauer »transparent zu machen, so daß Westberlin sich mit ihr arrangieren kann und lernt, mit diesem verhaßten Monstrum zu leben«?[1] »Nie wurde«, vermerkte der ernüchterte Beobachter Hildebrandt, »daß man getrennt war und getrennt sein würde, 10so spürbar, wie in den Stunden des Beisammenseins.«[2] Glücklicherweise besänftigten sich die Gemüter an diesem Tag wieder. »Weißt du«, erklärte der sich eingesperrt fühlende Vater, »manchmal packt einen eben doch die Wut, wenn man gar nicht raus kann.«[3]
Bonn, 13. September 1973. Hinter verschlossenen Türen verhandelten Vertreter beider Deutschlands über die Ausgestaltung der jüngst aufgenommenen zwischenstaatlichen Beziehungen. Oft ging es dabei um Reisegenehmigungen, Familienzusammenführungen und den Transitverkehr zwischen dem Bundesgebiet und West-Berlin. Für den SED-Staat galt ein jedes Transitfahrzeug als potentielles Fluchtvehikel. Karl Seidel, Vertreter des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA), forderte unter vier Augen den Vertreter des Bundeskanzleramts Carl-Werner Sanne auf, darzulegen, was seine Seite gegen »Mißbrauchshandlungen im Transitverkehr«, also gegen Fluchthilfe, unternehme. Sanne hielt sich an seine vorbereiteten Notizen. Ihm seien unter den 12 Millionen Transitreisenden nur 257 derartige Fälle bekannt. Es liege an der DDR, diese Wege zu kontrollieren. Angetan notierte Seidel, dass Sanne hervorgehoben habe, er besitze »für eine stärkere Überwachung volles Verständnis«. Zudem habe Sanne besonders betont, dass die sozialliberale Bundesregierung zur Empörung der Opposition – also der CDU/CSU – mehrfach deutlich gemacht habe, dass sie ebenso wie die DDR »jeden Mißbrauch des Abkommens mißbillige«.[4] Mit dieser Klarheit ging Sanne weit über das in der Bundesöffentlichkeit Sagbare hinaus, Seidel jedoch empfand dies als unbefriedigend und den Aufruf, die Grenzsicherung bei Bedarf zu verschärfen, gar als bevormundend. Wohlwollend meldete er hingegen den versteckten Kern in Sannes Aussagen: »Die Bundesregierung und der Bundeskanzler persönlich hätten sich bemüht und werden sich weiter darum bemühen, auf die Presse und sonstige Stellen einzuwirken, daß grundsätzlich so wenig wie möglich über Republikflucht geschrieben werde. Es liege im Interesse beider Seiten, die öffentliche Diskussion zu beenden.«[5] 11Trotz aller Differenzen stimmten die Staatenvertreter darin überein, dass die erhoffte Stabilität der Beziehungen nur ohne eine hitzige öffentliche Diskussion über Migration zu erreichen sei.[6] Zu groß war die beiderseitige Unsicherheit, wie man mit den Ausreiseversuchen und den Berichten darüber umgehen solle. Schließlich waren selbst einfache Schilderungen mögliche Inspirationsquellen für weitere Übersiedlungswünsche. Bereits das bloße Thematisieren von Migration schien die zwischenstaatlichen Beziehungen zu gefährden, da die Frage der Freizügigkeit den neuralgischen Punkt der eingemauerten, aber instabilen DDR berührte.
Anfang 1984 in Hamburg arbeitete sich die Redaktion des Spiegel routiniert und sicherlich etwas bemüht an den Themen der Woche ab. Nach wilden Jahren voller Regierungskrisen, Neuwahlen, Aufrüstungsdebatten und Staatsaffären fehlten nun die Kracher. Das Magazin titelte mit zweitrangigen Skandalen: Horrorfilme als jugendgefährdende Schreckgespenster oder die Geschäfte der Bhagwan-Sekte. Doch im Frühjahr 1984 zeichnete sich etwas Unerhörtes ab. Ohne Ankündigung wanderten Zehntausende Ostdeutsche legal in die Bundesrepublik aus. Zwar war den Redakteuren bewusst, dass hinter der Mauer infolge der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki zahlreiche Ausreiseanträge gestellt und durchgesetzt worden waren, doch im Gegensatz zu den sensationellen Grenzdurchbrüchen Anfang der 1960er Jahre waren diese »Mühen der Ebenen« nicht titelträchtig.[7] Nun aber herrschte Verwunderung, was erstens den 12SED-Staat zur schlagartigen Entlassung Zehntausender Staatsbürger bewegt haben mochte, wie zweitens diese Personen dies erreicht hatten – und vor allem drittens: was das für die Bundesgesellschaft bedeutete. Das Thema Ausreise brachte die DDR und ihre Bewohner auf das Cover des einflussreichen deutschen Wochenjournals. Auf dem Titelbild des Spiegel vom 2. April 1984 prangte flächendeckend ein Vorhang mit dem Emblem der Flagge der DDR: Mittig eingeschnitten, lüftete sich eine Ecke und durch diese strebten Ausreisende mit Leiterwagen gen Westen. Das Cover rekurrierte auf im kollektiven Gedächtnis eingebrannte Bilder von Heimatvertriebenen. Auch die Titelzeile rüttelte an den gerade verdrängten Erinnerungen und verwies verfremdet auf die Urangst des Kalten Krieges schlechthin: »Die Deutschen kommen«. Den nachfolgenden ausführlichen Bericht überschrieb die Redaktion, wie bei Migrationsthemen oft üblich, mit einem zitierten Angstausdruck: »Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg!«
Auf den ersten Blick mögen diese drei Episoden nicht viel miteinander gemein haben. Aber die Szenen der weihnachtlichen Eintracht im Kreise der Familie, des zähen diplomatischen Ringens zwischen Vertretern zweier deutscher Staaten und der öffentlichen Thematisierung der deutsch-deutschen Migration durch eine führende Nachrichtenredaktion im Westen bilden den Rahmen eines für die gesamtdeutsche Nachkriegszeit prägenden Spannungsfeldes: Dem unbedingten Wunsch nach grenzüberschreitender Mobilität stand die Gewöhnung an unterschiedliche Rechte für Deutsche aus Ost oder West, verschiedenen Alters oder verschiedener Funktionen und teilweise sogar der Wille zur Abgrenzung gegenüber. Der Historiker Jürgen Kuczynski war nicht der Einzige, der den Bau der Mauer »[a]ls ein Glück« empfand, als »die einzige Möglichkeit der Weiterexistenz der DDR unter diesem Verhältnis«.[8] In der Tat stabilisierte die Mauer eine fragile Situation, indem sie die Abwanderung stoppte. Doch zugleich erhöhte sie den Abwanderungsdruck.
Im Schatten der Mauer gingen Politiker, die über die jeweils andere Seite triumphieren wollten, aufeinander zu – und sorgten sich vor einer öffentlichen Debatte über Ausreise und Freizügigkeit. Die Folgen dieser Annäherung schlugen sich auch medial nieder: Nach 13der Anfangsaufregung akzeptierten zahlreiche tonangebende bundesdeutsche Medien die gemauerte Teilung...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | DDR • deutsch-deutsche Geschichte • Mauer • Mauerfall • STW 2297 • STW2297 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2297 |
ISBN-10 | 3-518-76366-0 / 3518763660 |
ISBN-13 | 978-3-518-76366-7 / 9783518763667 |
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