Jüdisches Denken: Theologie - Philosophie - Mystik (eBook)

Band 5: Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert
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2019 | 1. Auflage
857 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44224-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jüdisches Denken: Theologie - Philosophie - Mystik -  Karl Erich Grözinger
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Meinungsvielfalt im Judentum ist sprichwörtlich. Dass sich diese aber in Konfessionen und Parteiungen niederschlägt, ist eine Erscheinung, die erst mit der Emanzipation einsetzte. Denominationen haben sich vor allem in Nordamerika etabliert. In Israel wird um das Verhältnis von Religion und Staat gerungen; dort versucht man, mit Religion oder Traditionselementen Politik zu machen. Meinungen treten nun als Verlautbarungen und Parteiprogramme auf, die miteinander rivalisieren. Ein völlig neues Phänomen ist auch ein vielgestaltiger, innovativer Feminismus. Aber auch die altbewährte Philosophie hat sich zu einem in vielen Farben schillernden Gruppenphänomen entwickelt. Selbst der dezidierte Atheismus und antizionistisches linkes Judentum schöpfen aus dem Traditionsarsenal. So ist das vernichtete europäische Judentum bis in die Gegenwart auf Schritt und Tritt spürbar. Band 5 bildet den Abschluss der Reihe »Jüdisches Denken«, deren Bände schon heute als Standardwerke gelten.

Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.

Karl Erich Grözinger ist Professor emeritus für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Er ist Vorsitzender der Ephraim Veitel Stiftung, der ältesten und von ihm seit 2007 wiederbelebten jüdischen Stiftung in Deutschland.

VORWORT 25
EINFÜHRUNG 27
1. Einheit und Disparatheit – in Geschichte und Gegenwart 27
2. Geographische Neuverortung des europäischen Erbes 30
3. Die Aufspaltung des Judentums – Denominationen 32
4. »Systematische Theologie« als neues Merkmal jüdischen Denkens 35
5. Die Autoren und Autorinnen 38
TEIL I – EIN LETZTES VERMÄCHTNIS DES ALTEN DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN JUDENTUMS – DIALOGISCHER EXISTENTIALISMUS VOM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS
I. EINE EPISTEMISCH-EXISTENTIELLE HEILSKONZEPTION DES DOPPELTEN WEGES AUS JUDENTUM UND CHRISTENTUM – FRANZ ROSENZWEIG (1886–1929) 47
1. Biographisches 47
2. Der Stern der Erlösung 48
2.1 Das Anliegen 48
2.1.1 Das persönlich-soziale Anliegen 48
2.1.2 Das philosophische Anliegen 50
2.2 Der philosophische Hintergrund – Schelling 58
2.3 Die Architektur des Stern der Erlösung und deren Aussage 61
2.3.1 Die Struktur 62
2.3.2 Die bildlich symbolische Darstellung der epistemischen Weltzeitalter 66
2.4 »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« – Die Begründung und Herleitung der drei Grundelemente des Wissens mit Hilfe einer neuen Logik der Sprache 68
2.4.1 Die drei Grundelemente der Welt: Gott, Welt und Mensch – der Weg vom Nichtwissen zum Wissen 69
2.5 Die Sprach-Logik als Mittel der Wissensgenerierung 71
2.5.1 Die Sprache 73
2.5.2 Die Explikation der drei Urelemente mithilfe der vorweltlichen sprachlichen Urwörter 77
2.6 »Gott und sein Sein oder Metaphysik« 78
2.7 »Die Welt und ihr Sinn oder Metalogik« 80
2.8 »Der Mensch und sein Selbst oder Metaethik« 82
2.9 Die Bahn – oder die allzeit erneuerte Welt – das Wunder der Offenbarung 84
2.9.1 Wie kann das Wunder der Offenbarung erlebt werden? – »Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele« 87
2.9.2 Offenbarung als Dialog 92
2.10 Die neue Sicht der drei Urelemente Gott, Welt und Mensch dank der Offenbarung 93
2.10.1 Das Sinnbild der Sprache 93
2.11 »Schöpfung oder der immerwährende Grund der Dinge« 95
2.12 »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« 97
2.13 Die Gestalt oder die ewige Überwelt 102
2.14 »Über die Möglichkeit das Reich zu erbeten« 104
2.15 Judentum und Christentum – ihre Rolle im Erlösungswerk 108
2.15.1 Das Judentum – Das Feuer oder das ewige Leben 108
2.15.2 Die Theologie der jüdischen Heimatlosigkeit – der negative Mythos 108
2.15.3 Die Theologie der jüdischen Liturgie im Wochen- und Jahreszyklus – der positive Mythos 112
2.15.4 Das Christentum – Die Strahlen oder der ewige Weg 114
2.15.5 Die bleibende Differenz zwischen Judentum und Christentum und deren Nutzen im Heilsplan 119
2.16 Gottes Wahrheit muss des Menschen eigene Wahrheit sein 122
II. MYSTIK DES DIALOGS – MARTIN BUBER (1878–1965) 126
1. Biographisches 126
2. Grundzüge des Denkens 127
2.1 Das vielgefächerte Denken 127
2.2 Das »offizielle Scheinjudentum«
und das »unterirdische Urjudentum« 129
2.3 Dualität und Einheit – eine konstante Denkstruktur Bubers 132
2.3.1 Dualität im Judentum als »Religion« und als »Nation« 132
2.3.1.1 Judentum als Religion oder Religiosität 133
2.3.1.2 Judentum als Nation: Gesellschaftszwänge oder persönliche Blutsverbundenheit 136
2.3.2 Dualität als universelle »Urzweiheit« 139
2.3.2.1 Die »Urzweiheit« individual- und völkerpsychologisch 139
2.3.2.2 Dualität der Weltwahrnehmung: Orientierung oder Verwirklichung 141
3. »Ich und Du« – Bubers Dialog-Mystik 148
3.1 Ist Bubers Dialogik eine Form der Mystik? 148
3.2 Überblick über die drei Teile des Buches 150
3.3 Bubers Verhältnis zu Ferdinand Ebner 152
3.4 Die zwiespältige Haltung des Menschen zur Welt: Beziehung oder Erfahrung 153
3.5 Wesensmerkmale der Beziehung 157
3.6 »Geist« – das Kontinuum der momentanen Beziehungen 161
3.7 Das ewige Du als Grundlage des Kontinuums der Beziehung 163
3.8 Beziehung als Offenbarung 166
III. DIE HERAUSFORDERUNG DURCH DAS »GESICHT« DES ANDERN – EMMANUEL LÉVINAS (1905/6–1995) 168
1. Biographisches 168
2. Grundzüge des Denkens 168
3.

VORWORT Das Jüdische Denken ist nach fünfzehn Jahren an seinem Ziel, der Gegenwart, angelangt. Die jüngsten hier zu Wort kommenden Denker und Denkerinnen - ja zum ersten Mal auch Frauen - sind unsere Zeitgenossen und prägen das jüdische Denken der Gegenwart. Das heißt allerdings nicht, dass das Thema nun wirklich erschöpft sei. Ganz im Gegenteil! Je näher man an die jüngere und jüngste Zeit herankommt, desto schwerer fällt die Auswahl der aufzunehmenden Personen und Themen, und manche Leserin oder Leser wird das Fehlen des einen oder anderen beklagen. Als Autor ist man sich der Unvollständigkeit einer solchen Arbeit schmerzlich bewusst. Dennoch glaube ich sagen zu können, dass die in den fünf Bänden des Jüdischen Denkens behandelten Themen und Autoren repräsentativ für das jüdische Denken sind. Man kann dies unschwer an den zahlreichen internen Querverweisen, Auf¬nahmen und Zitierungen erkennen, die ein engmaschiges Netz der Bezugnahmen geflochten haben. Bis herein in die jüngsten Texte greifen die Autoren auf Traditionen zurück, die der Leser in den jeweils vorangehenden Bänden des Jüdischen Denkens finden kann. Insgesamt ist ein vielgliedriges Bauwerk entstanden, in dessen Hallen Antworten auf die wichtigsten Fragen zum jüdischen Geistesleben gegeben werden. Die hier vorgestellten jüdischen Bücher sind nicht nur die schlechthin unverzichtbare und reiche Quelle für den Historiker. Sie sind und waren seit Anbeginn Ausdruck der Kraft dieser Jahrtausende alten Kultur. Sie dienten als Hilfe in der Not und der täglichen Begleitung, sie schenkten Erbauung, Freude und Erfrischung, sie gaben Anlass zum Grübeln, zum Forschen und zum Weiterdenken - dieses niedergeschriebene Vermächtnis verbürgte Bestand und Kreativität in der Vergangenheit wie in der Gegenwart und wird es ebenso in der Zukunft tun. Das sollte uns Modernen, denen die Bücher abhanden zu kommen drohen, Zeichen und Mahnung sein, diese Säule jeglicher Zivilisation und intellektuellen Lebens hoch zu halten. Für mich waren die fünfzehn Jahre des Schreibens an diesem Buch eine überaus anregende Reise durch ein reiches und vielfältiges jüdisches Wissen, die stets neue Überraschungen bereithielt, Metamorphosen und wieder längst Vertrautes, Freudiges wie auch zutiefst Bedrückendes, kurz ein Spiegel der ganzen Breite jüdischen Lebens wie es im Nachsinnen und in Worten erschlossen wurde. Und ich kann nur hoffen, dass die Leser, die mir auf diesem Gang folgen, dieselben Erfahrungen machen werden. Wie schnell diese Jahre verflossen sind, wurde mir erst wirklich bewusst angesichts der Tatsache, dass beim Erscheinen des ersten Bandes mein Enkel, Noah Ben, geboren wurde und im hebräischen Jahr 5780, der Auslieferung des letzten, nun auch sein Bruder, Liam David, Bar Mizwa wird - ihm ein herzliches ??? ???. Ich hoffe nur, dass jeder von den beiden in diesem reichen Angebot seine eigene Gedanken-Nische finden wird. Meine Arbeit an dieser Geschichte des jüdischen Denkens wäre ohne die Hilfe der Bibliothekare und Bibliothekarinnen der UB der Freien Universität Berlin nicht möglich gewesen. Einen bedeutsamen Anteil daran hatten die Damen der Fernleihstelle, die mir alle meine Wünsche, seien sie auch noch so esoterisch gewesen, immer gewissenhaft und schnell erfüllten. Ohne die Arbeit solcher Bibliotheken, die heute ihre Schätze auch über das Internet zugänglich machen, kann keine Kultur und noch weniger die Wissenschaft bestehen - pflegen wir sie! Danken möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich Frau Dr. Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag, die mir im Namen des Verlags nicht nur genügend Zeit, sondern noch mehr, viel Raum zur Verfü¬gung stellte, wohl wissend, dass etwas so Mächtiges sich nicht auf wenige Tage und Seiten komprimieren lässt. Danken will ich auch Frau Julia Flechtner für Ihre stete technische Hilfe bei der Erstellung der Druckmanuskripte. Mein Dank gilt schließlich all jenen Kolleginnen und Kollegen, allen Institutionen, die mich auf diesem langen Weg begleitet haben. Besonders dankbar bin ich, dass ich das häusliche Lektorat wieder in die erfahrenen Hände meiner Frau Elvira legen durfte, wiewohl auch sie im politischen Kampf gegen den sich wieder erhebenden Antisemitismus und dessen wohlfeile, sich moralisch gebende wie geschichtsvergessene »Israelkritik« wahrlich genug Zeit und Kraft verbraucht. Berlin im Juni 2019 EINFÜHRUNG 1. Einheit und Disparatheit - in Geschichte und Gegenwart Das herausragende Merkmal der jüdischen Gegenwart ist - außer den traumatischen und grundstürzenden Veränderungen durch die Schoah und die Gründung eines jüdischen Staates im alten Heimatland, denen der vierte Band des Jüdischen Denkens gewidmet war - die Zersplitterung und das allseitige Ringen um Einheit. Natürlich hat es in der langen Geschichte des jüdischen Denkens, welche dieses Buch abgeschritten hat, immer Meinungsverschiedenheiten und auch Parteiungen gegeben, die sich heftig bekämpften. Man denke an die innerbiblischen Auseinandersetzungen zwischen Thron und Prophetie, das Ringen zwischen Polytheismus und dem Glauben an nur einen Gott, Elija auf dem Karmel und die Ba?als-Priester, die sozialen Auseinandersetzungen, von denen die Prophetenbücher berichten. Nach dem babylonischen Exil regte sich ein neues Laienelement, die Schriftgelehrten, später Rabbinen genannt, die im Laufe der Zeit des Zweiten Tempels in Konkurrenz zur Priesterschaft traten und diese nach der Zerstörung im Jahre siebzig der Zeitrechnung völlig entmachtete und ihr nur noch eine symbolische Rolle und eine Reihe von Standesbeschränkungen übrigließ. Es war die Zeit der Hellenisierung und der Aufspaltung in viele Richtungen, die Sadduzäer, die Pharisäer, die Essener oder Qumran-Leute und schließlich die Zeloten. All dies beförderte die schon in der Makkabäerzeit aufgetretene Spaltung zwischen den ?asidim, Sadduzäern, Qumran-Frommen und Hellenisten - Letztere insbesondere in der Diaspora. Diese Epoche der Zerklüftung endete mit der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Wiedereinsammlung unter den Rabbinen. Diese Epoche kreierte ihre neuen, der Zeit angemessenen Wertvorstellungen und Weltanschauungen, die von den biblischen erheblich abwichen. Dies war die das Judentum bis heute prägende rabbinische Zeit, in deren Mitte neben der Synagoge das Lehrhaus mit seiner reichen literarischen Produktion florierte, die aber über aller Kontroverse, der »Auseinandersetzungen um des Himmels Willen« zwischen einzelnen Gelehrten und ganzen Schulen, Hillel und Schammaj, den kollektiven Rahmen der beiden Talmudim und der zahlreichen Midraschim spannte, um die divergierenden Kräfte zusammenzuhalten. Im Mittelalter hat die voranschreitende Individualisierung und vor allem das Hereindringen der griechisch-arabischen Philosophie auch diese Klammer zerbrochen und zu einer Vielzahl individueller theologisch-philosophischer und halachischer Entwürfe geführt, die zwar aus dem rabbinischen Establishment hervorwuchsen, dieses aber alsbald durch ihre eigenen rationalistischen Erkenntnistheorien gefährdeten, dessen überkommene »Theologie« und Rechtstheorie. Teile der Halacha, die bisher als die feste soziale und rechtliche Klammer dienten, wurden in Frage gestellt. Eine extreme Folge war das Entstehen des Karäertums, welches die rabbinische Tradition rundherum ablehnte und zu einer neuen religiösen-Volksgruppe wurde. Gegen diese Auflösungstendenzen stellten sich Gruppen eines esoterischen Judentums, welche sich in vielfältigen Entwürfen der Gotteslehre, der Kosmologie und vor allem der Neuverortung des halachischen Rechts mit seinen Geboten, diesen rationalistischen Tendenzen entgegenstemmten. Aus der Mitte dieser Kabbalisten kam schließlich auch die Formel, welche das Zerbrechen des Judentums verhinderte, nämlich die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, welche der Quadratur des Kreises glich. Mithilfe dieser Formel wurden die disparaten und sich im Grunde widersprechenden Denkrichtungen als vier für die Religion unabdingbare Denkweisen zur Verpflichtung erhoben. Mit der mystischen Formel PaRDeS, die für Pschat (Wortsinn), Remes (philosophischer Sinn), Drasch (ethisch-homiletischer Sinn) und Sod (kabbalistischer Sinn) stand, wurde das vielfältige Deuten der Tradition als mystisches Heilsmedium verkündet. Dieser Gedanke setze sich durch bis hinein in die Gebetbücher der Synagoge, in denen nunmehr biblische Texte und Vorstellungen friedlich vereint neben den antiken rabbinischen, den rationalistisch-philosophischen und den esoterisch-mystischen der Kabbalisten standen und noch stehen. Auch die großen rabbinischen Talmudisten unterteilten fortan ihr Lernpensum nach diesen Themen. In der neue Umbrüche bringenden Neuzeit, in welcher neben die mittelalterlichen Bruchlinien, die Erkenntnisse der empirischen und historischen Wissenschaften traten, war es wiederum ein solcher Geniestreich, der es vermochte, die divergierenden Kräfte zusammenzuhalten. Dies war die Lehre von den drei verschiedenen Wahrheiten, die nebeneinander bestehen konnten, ohne der anderen Seite ihren Raum streitig zu machen. Alleine die empirische wissenschaftliche Erkenntnis sollte einen Primat haben, der zwar weltanschaulich höchst gefährlich sein konnte, aber für das halachisch-religiöse Leben und die esoterische Theologie eher neutral war. Die Philosophie hingegen, die mit ihren Auffassungen dem Recht höchst gefährlich geworden war, wurde entthront und zu einer mit dem Glauben höchstens gleichberechtigten Erkenntnis herabgerückt und deshalb nicht mehr in die Religion dreinreden durfte. Die nächste Bedrohung kam mit der Aufklärung, welche, angezeigt schon bei Moses Mendelssohn, die für das Judentum bis dato unbestrittene Einheit von Religion und Staat, und damit auch von jüdischer Religion und jüdisch-rechtlicher, staatsähnlicher Autonomie in Frage stellte. Die Emanzipation versetzte dieser nur philosophisch vorbereiteten Trennung den entscheidenden Stoß und entzog dem Judentum sämtliche öffentliche Rechtsfunktionen und beschränkte es auf ein Dasein als Religion oder »Kirche«. Die ideologischen Auseinandersetzungen, die es bis zu dieser Zeit immer gegeben hatte, wurden ihrer rechtlich-soziologischen Klammer, der Halacha, als Bestimmungsmacht des Alltags, beraubt. Die innerjüdischen Auseinandersetzungen mutierten nun zu religiösen, »theologischen« Streitigkeiten und Auseinandersetzungen, die in bürgerrechtlicher Hinsicht keine Bedeutung und Konsequenzen mehr hatten. Die ideologischen Trennungen konnten sich jetzt in religionssoziologischen Separierungen, als Konfessionen oder Denominationen manifestieren und verfestigen. Diese vor allem im Deutschland des neunzehnten Jahrhundert einsetzende innerjüdische konfessionelle Aufspaltung hat nach der Vernichtung des europäischen Judentums in den Vereinigten Staaten von Amerika ihre vollen Blüten getrieben und zu organisatorisch deutlich voneinander separierten jüdischen Denominationen geführt. In Osteuropa hatte sich während der westlichen Aufklärung und Emanzipation mit der Entstehung des ?asidismus eine in geradezu umgekehrter Richtung verlaufende sehr heftig bekämpfte Absonderung ereignet, die sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts angesichts des gemeinsamen Feindes von Aufklärung und Emanzipation in der Agudat Jisrael mit der Orthodoxie aussöhnte. Zuvor hatten schon der zunächst weitgehend säkulare Zionismus und die Arbeiterbewegung des Bund für weitere Friktionen gesorgt. Die Gründung des Staates Israel hat die emanzipatorische Auflösung der staatsähnlichen jüdischen Autonomie gleichsam konterkariert, weil mit diesem Staat dem israelischen Judentum der verlorengegangene staatlich rechtliche Rahmen zurückgegeben wurde, erweitert durch staatsrechtliche und politische Elemente, die es seit zweitausend Jahren nicht mehr kannte und darum auch denkerisch in den Hintergrund treten ließ. Mit dieser kurzen Skizze ist die Problemlage umrissen, die bis in die Gegenwart hereinreicht und auch den vorliegenden fünften Band des Jüdischen Denkens nachhaltig prägt, nachdem schon im Band vier die die Lager weit aufspaltenden zionistische Ideen vorgestellt wurden, wie dies auch die kaum verkraftbaren Zweifel und Verzweiflungen im Gefolge der Schoah taten. Die jüdische Gegenwart ist als Folge der eingetretenen Umbrüche in zunächst zwei sich grundlegend unterscheidende Situationen aufgespalten. Da ist auf der einen Seite die Diaspora, die nach der Staatsgründung in der Regel nicht mehr Galut (Exil) zu nennen ist, in der die nachemanzipatorische Trennung von Religion und Staat und damit das Konfessionsverständnis des Judentums die Normalität darstellt - selbst wenn es hier auch ethnisch-nationale Rückbesinnungen gab und gibt. Im Staat Israel hingegen besteht diese Trennung von Religion und Staat nicht mehr - wiewohl sie von vielen Seiten vehement gefordert wird -, so dass die Religion selbst für Atheisten wieder zu einem ihr Leben bestimmenden Rechtsfaktor wurde. Beide so unterschiedliche Situationen sind die kaum vereinbaren denkerischen Grundlagen für die beiden Judentümer. Die von rechtlichen Vorgaben - wie in Israel - ungehinderte, religiöse Separierungsmöglichkeit in der Diaspora schreitet insbesondere in den USA voran und versucht dieses Recht gegen erhebliche Widerstände auch in dem Staat durchzusetzen, der als Staat für das gesamte jüdische Volk gegründet wurde. In diesem Staat hingegen stehen Probleme im Vordergrund, welche die Diaspora so nicht kennt und kennen kann. Diese sind innenpolitisch, Standes- und öffentlichkeitsrechtlich, sicherheitspolitisch und betreffen vor allem die Frage des Verhältnisses von Staat und Religion, welches nach der Aufklärung und Emanzipation nicht einfach auf den status quo ante zurückgestellt werden konnte und in ständiger Spannung gehalten wird. In der Diaspora wurde inzwischen dank der »kirchenrechtlich« unbehinderten Möglichkeiten eine neue »Front« eröffnet, welche tiefgreifende Zerwürfnisse offenbarte und nun auf die Tagesordnung setzte, nämlich der jüdische Feminismus, der in bis dahin ungekannter Weise an den Grundlagen des rabbinischen Judentums rüttelte und dies vor allem in Standes- und religiösen Funktionsfragen, die dann natürlich auch ihre philosophischen und theologischen Weiterungen nach sich zogen. In all dieser Unübersichtlichkeit wurde die »geniale« Formel zur Verklammerung der Zentrifugalkräfte noch nicht gefunden. Darum ist die Frage der jüdischen Identität, die Frage dessen, was die zum Teil so unterschiedlichen Judentümer noch zusammenhält, so prominent und prägt auch diesen Band des Jüdischen Denkens in einer bis dato nicht vorhandenen Intensität. Dies geht so weit, dass man sich einerseits gegenseitig die Legitimität seines Judentums bestreiten kann, und andrerseits nach Formeln einer neuen Einheit sucht, wobei die Grunddualität von »Mutterland« und Diaspora auf beiden Seiten eher an Gewicht gewinnt, selbst wenn der neu aufflackernde Antisemitismus manche zu optimistische Positionen wieder ins Wanken bringen mag. Das gegenwärtige Judentum befindet sich demnach wieder in einer Phase der starken Fliehkräfte, in welcher intensiv nach den möglichen Binde- und Einheitskräften gesucht wird, die aber in einer globalen Offenheit und angesichts der Individualisierung der Gesellschaften weit weniger einfach zu finden sein werden als dies in den skizzierten vorangegangenen Krisensituationen der Fall war. All diese Ungewissheiten und diese Disparatheit prägen das Angesicht dieses fünften und letzten Bandes des Jüdischen Denkens, der sich eher als ein offenes Tor in eine ungewisse Zukunft, denn als beruhigender Abschluss darstellt - wovon die folgende Zusammenfassung einen ersten Eindruck vermitteln soll.

Erscheint lt. Verlag 9.10.2019
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Antizionismus • Atheismus • Feminismus • Franz Rosenzweig • Judentum • Jüdische Geschichte • Jüdische Religion • Jüdisches Denken • Liberales Judentum • Martin Buber • Neoorthodoxie • Philosophie • Progressive-Judaism • Reform Judaism • Schoah • Shoah
ISBN-10 3-593-44224-8 / 3593442248
ISBN-13 978-3-593-44224-2 / 9783593442242
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