Sexualität und Wahrheit (eBook)
400 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76441-1 (ISBN)
Es ist eine Sensation und »ein postumes Wunder« (L'Express): Dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Tod des Autors erscheint der vierte und letzte Band von Sexualität und Wahrheit - Michel Foucaults großangelegter Geschichte der Sexualität und Meilenstein philosophischer Forschung im 20. Jahrhundert. Die Geständnisse des Fleisches, von Foucault noch auf dem Sterbebett vollendet, schließt an die legendären Vorgängerbände an und zeugt einmal mehr von der Ausnahmestellung dieses Denkers.
Im Mittelpunkt stehen die ethischen Diskussionen der Kirchenväter über das Geschlechtsleben in den ersten frühchristlichen Jahrhunderten. Foucault liest die Predigten und Abhandlungen von Clemens von Alexandria, Gregor von Nyssa, Johannes Chrysostomos, Johannes Cassianus oder Augustinus von Hippo als Dokumente einer Sorge um das Seelenheil - als Zeugnisse der Herausbildung einer neuen Moral und Selbsterfahrung, die das Abendland fortan prägen sollten. Insbesondere die Jungfräulichkeit und die Ehe stehen dabei im Fokus der Auseinandersetzungen, die bei Augustinus in eine bis in unsere Gegenwart wirkende Ökonomie der Begierde münden: in eine konstitutive Pflicht des Subjekts zur stetigen Problematisierung des Verhältnisses von Freiheit und Natur, von Vernunft und Begehren.
<p>Paul-Michel Foucault wurde am 15. Oktober 1926 in Poitiers als Sohn einer angesehenen Arztfamilie geboren und starb am 25. Juni 1984 an den Folgen einer HIV-Infektion. Nach seiner Schulzeit in Poitiers studierte er Philosophie und Psychologie in Paris. 1952 begann seine berufliche Laufbahn als Assistent für Psychologie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät in Lille. 1955 war er als Lektor an der Universität Uppsala (Schweden) tätig. Nach Direktorenstellen an Instituten in Warschau und Hamburg (1958/1959) kehrte er 1960 nach Frankreich zurück, wo er bis 1966 als Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Clermont-Ferrand arbeitete. In diesem Zeitraum erschien 1961 seine Dissertationsschrift <em>Folie et déraison. Histoire de la folie à l&#39;âge classique</em> (dt.: <em>Wahnsinn und Gesellschaft</em>). Er thematisierte darin die Geschichte des Wahnsinns und das Zustandekommen einer Abgrenzung von geistiger Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden sozialen Mechanismen. 1965 und 1966 war er Mitglied der Fouchet-Kommission, die von der Regierung für die Reform des (Hoch-)Schulwesens eingesetzt wurde. 1966 wurde <em>Les mots et les choses – Une archéologie des sciences humaines </em>(dt.: <em>Die Ordnung der Dinge</em>) veröffentlicht, worin er mit seiner diskursanalytischen Methode die Wissenschaftsgeschichte von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert untersuchte. Nach einem Auslandsaufenthalt als Gastprofessor in Tunis (1965-1968) war er an der Reform-Universität von Vincennes tätig (1968-1970). 1970 wurde er als Professor für Geschichte der Denksysteme an das renommierte Collège de France berufen. Gleichzeitig machte er durch sein vielfältiges politisches Engagement auf sich aufmerksam. In diesem Kontext entstand die Studie <em>Surveiller et punir </em>(dt.:<em> Überwachen und Strafen</em>). 1975-1982 unternahm er Reisen nach Berkeley und Japan sowie in den Iran und nach Polen.</p>
7Vorwort
1976 veröffentlicht Michel Foucault – unter dem Titel Der Wille zum Wissen1 – den ersten Band von Sexualität und Wahrheit,2 dessen Umschlagrückseite weitere fünf Bände ankündigt, die folgende Titel tragen: 2. Das Fleisch und der Körper; 3. Der Kinderkreuzzug; 4. Die Frau, die Mutter und die Hysterische; 5. Die Perversen; 6. Bevölkerung und Rassen. Keines dieser Werke wird je realisiert werden. Dank des Foucault-Archivs,3 das sich in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France befindet, weiß man jedoch, dass zumindest zwei Titel (Das Fleisch und der Körper4 und Der Kinderkreuzzug5) bereits Gegenstand einer umfangreichen ersten Fassung waren.
1984, kurz vor Michel Foucaults Tod, erscheinen die Bände 2 und 36 dieser acht Jahre zuvor7 begonnenen Unter8suchung von Sexualität und Wahrheit, deren Inhalt vom ursprünglichen Projekt allerdings sehr weit entfernt ist, wie sowohl das Kapitel »Modifizierungen« von Der Gebrauch der Lüste (»Diese Untersuchungen erscheinen später als vorgesehen und in einer ganz anderen Form …«8) als auch der bei ihrem Erscheinen in die Bände eingelegte »Waschzettel« ankündigen. Der Plan, das biopolitische Dispositiv der Sexualität der Moderne (16.-19. Jahrhundert) zu untersuchen – welches teilweise in den Vorlesungen am Collège de France behandelt wird –, wurde aufgegeben, um einer Problematisierung – meist in Form einer Relektüre der Philosophen, Mediziner, Redner etc. der griechisch-römischen Antike – der sexuellen Lust aus der historischen Perspektive einer Genealogie des Subjekts des Begehrens innerhalb des begrifflichen Horizonts der Lebenskünste Platz zu machen. Band 4, der der Problematisierung des Fleisches durch die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte (von Justin bis zum heiligen Augustinus) gewidmet ist, ist Teil der Fortsetzung dieser neuen Histoire de la sexualité, die gegenüber dem ursprünglichen Vorhaben um gut zehn Jahrhunderte verschoben wurde und ihren Gravitationspunkt in der Konstituierung einer Ethik des Subjekts hat. Der »Waschzettel« von 1984 schließt wie folgt:
9Daher letztlich eine generelle Neuausrichtung dieser umfangreichen Studie zur Genealogie des Begehrensmenschen von der klassischen Antike bis zu den ersten Jahrhunderten des Christentums. Und ihre Aufteilung in drei Bände, die eine Einheit bilden:
– Der Gebrauch der Lüste untersucht die Art und Weise, wie im klassischen griechischen Denken das Sexualverhalten reflektiert wurde […]. Auch wie das medizinische und philosophische Denken den »Gebrauch der Lüste« – chresis aphrodision – ausgearbeitet und einige Gegenstände der Austerität formuliert hat, die auf vier großen Achsen der Erfahrung ständig wiederholt wurden: der Beziehung zum Körper, der Beziehung zur Ehefrau, der Beziehung zu Knaben und der Beziehung zur Wahrheit.
– Die Sorge um sich analysiert diese Problematisierung in den griechischen und lateinischen Texten der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung und die Veränderung, die sie in einer Lebenskunst erfährt, die von der Beschäftigung mit sich selbst beherrscht ist.
– Die Geständnisse der Fleisches schließlich werden die Erfahrung des Fleisches in den ersten christlichen Jahrhunderten behandeln und die Rolle, die die Hermeneutik und reinigende Entschlüsselung des Begehrens dabei spielen.
Die Entstehung dieses letzten Werkes ist komplex. Man muss daran erinnern, dass in der »ersten Form« von Sexualität und Wahrheit die christlichen Praktiken und Lehren des Bekenntnisses des Fleisches in einem Band mit dem Titel Das Fleisch und der Körper Gegenstand einer historischen Untersuchung sein sollten.9 Damals ging es darum, »die Entwicklung der katholischen Pastoral und des Bußsakraments nach dem Konzil von Trient« zu studieren.10 Einen 10ersten Einblick in diese Untersuchungen gewährte die Vorlesung am Collège de France vom 19. Februar 1975.11 Sehr schnell entscheidet sich Foucault jedoch, in der Zeitachse weiter zurückzugehen, um in der Geschichte des Christentums den Ausgangspunkt, den Entstehungsmoment der ritualisierten Wahrheitspflicht, der Aufforderung zur Verbalisierung eines Wahr-Sprechens über sich selbst durch das Subjekt, zu erfassen. So sammelt er in den Jahren 1976-1977 eine Reihe von Notizen zur Lektüre von Tertullian, Cassian etc.12 Daniel Defert schreibt über den August 1977: »Foucault ist in Vendeuvre. Er schreibt über die Kirchenväter und beginnt, seine Geschichte der Sexualität um einige Jahrhunderte zu verschieben.«13 Im Rahmen einer Untersuchung der »Gouvernementalitäten« am Collège de France (Vorlesungen vom 15. und 22. Februar 1978)14 nutzt er diese ersten Lektüren der Kirchenväter, um das christliche Moment der »pastoralen Gouvernementalität«15 zu beschreiben: »Wahrheitsakte« (über sich selbst die Wahrheit sagen), die mit Gehorsamspraktiken verbunden sind. Die Ergebnisse werden im Oktober 1979 wieder aufgegriffen und zusammengefasst, um damit die ersten beiden Vorlesungen im Rahmen der Tanner Lectures an der Universität Stanford zu bestreiten.16
11Das Jahr 1980 stellt bei der Fortsetzung der Recherchen, die zur Abfassung des Manuskripts der Geständnisse führen, einen entscheidenden Moment dar. Michel Foucault präsentiert am Collège de France, in den Monaten Februar und März 1980 – ohne jemals darauf hinzuweisen, dass sie in eine Geschichte der Sexualität Eingang finden –, eine Reihe von präzisen historischen Untersuchungen und Dokumenten, die sich auf die Vorbereitung der Taufe, die Bußriten und die klösterliche Führung zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung beziehen.17 Im Herbst desselben Jahres hält er in den Vereinigten Staaten, an der Universität von Kalifornien (Berkeley) und am Dartmouth College, zwei Vorlesungen, die dieselben Themen in einer großen begrifflichen Allgemeinheit darlegen,18 und vor allem präsentiert er im Rahmen eines Seminars mit Richard Sennett in New York, wenn auch in einer noch schematischeren Form, vieles von dem, was zu den Geständnissen des Fleisches werden wird.19 In der Tat findet man in diesem Seminar Ausführungen über die Ehelehre des Clemens von 12Alexandrien, die christliche Kunst der Jungfräulichkeit (ihre Entwicklung vom heiligen Cyprian über Methodius von Olympus bis zu Basilius von Ankyra) sowie eine Untersuchung der elementaren Bedeutung, die der Begriff der libido – nach dem Sündenfall und in der Ehe – mit dem heiligen Augustinus für unsere Kultur gewonnen hat.20 Man kann somit sagen, dass Foucault seit Ende 1980 nicht nur eine feste Vorstellung von der Architektur und den Hauptthesen der Geständnisse des Fleisches hat, sondern dass er auch bereits eine bedeutende Recherchearbeit zu den Quellen geleistet hat, zumindest hinsichtlich des Studiums der Bußrituale und der klösterlichen Führung.
Die Zeit der endgültigen Abfassung des Texts der Geständnisse kann man auf die Jahre 1981 und 1982 datieren. Für eine Ausgabe der Zeitschrift Communications21 legt Foucault im Mai 1982 etwas vor, das er als »Teil des dritten Bandes der Geschichte der Sexualität« präsentiert.22 Parallel dazu vollzieht er in seinen Vorlesungen am Collège de 13France jedoch immer massiver seine antike »Wende«. Das griechisch-lateinische Moment wurde bis dahin zwar nicht völlig außer Acht gelassen, doch wurde es, von 1978-1980, auf die Rolle eines Kontrapunkts reduziert, der vor allem wichtig war, um zu bestimmen, in welchen Punkten die christlichen Praktiken der Veridiktion und Gouvernementalität irreduzibel sind (die Unterschiede zwischen: der Regierung [gouvernement] der Stadt und der pastoralen Gouvernementalität [gouvernementalité], der Lebensführung bei den griechisch-römischen...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2019 |
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Übersetzer | Andrea Hemminger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Histoire de la sexualité IV. Les aveux de la chair |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Histoire de la sexualité IV. Les aveux de la chair deutsch • Moral • Philosophie • posthum • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Selbstsorge |
ISBN-10 | 3-518-76441-1 / 3518764411 |
ISBN-13 | 978-3-518-76441-1 / 9783518764411 |
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