Risiko Kindheit (eBook)

Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
368 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11551-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Risiko Kindheit -  Nicole Strüber
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Warum sind die ersten Lebensjahre so entscheidend für die Entwicklung unseres Gehirns? Warum fällt es manchen Menschen im späteren Leben schwer, Stress zu bewältigen und die Impulse im Griff zu halten? Dieses Buch erklärt, wie Risikokindheiten unsere Persönlichkeit und Psyche beeinflussen, wie man diese Risiken vermeiden und die entstandenen Defizite im Erwachsenenleben beheben kann. Armut, traumatisierte oder depressive Eltern, Scheidung, Flucht, emotionale Vernachlässigung, überfüllte Kitas und viele weitere in der frühen Kindheit auftretende Risiken können die Entwicklung des kindlichen Gehirns und die Reifung von Persönlichkeit und Psyche negativ beeinflussen. Und dies über Generationen hinweg! In verständlicher Sprache verknüpft Nicole Strüber aktuelle internationale Forschungsergebnisse. Sie zeigt auf, warum diese Risiken das Auftreten psychischer Probleme begünstigen und erklärt das Phänomen der Resilienz. Der Leser erfährt, ob und wie man einer negativen Entwicklung vorbeugen kann, und worauf es ankommt, wenn er sich später, als Erwachsener, noch ändern möchte.

Dr. Nicole Strüber ist Neurobiologin. Sie ist als Wissenschaftsautorin und Referentin im Rahmen von Vorträgen und Seminaren tätig. Zusammen mit Gerhard Roth veröffentlichte sie das erfolgreiche Sachbuch »Wie das Gehirn die Seele macht«. 2016 erschien ihr Buch »Die erste Bindung«, 2019 ihr Buch »Risiko Kindheit«. Die erfahrene Rednerin zu Themen aus der Hirnforschung ist einem breiten Publikum bekannt. Online findet man sie unter: nicolestrueber.de

Dr. Nicole Strüber ist Neurobiologin. Sie ist als Wissenschaftsautorin und Referentin im Rahmen von Vorträgen und Seminaren tätig. Zusammen mit Gerhard Roth veröffentlichte sie das erfolgreiche Sachbuch »Wie das Gehirn die Seele macht«. 2016 erschien ihr Buch »Die erste Bindung«, 2019 ihr Buch »Risiko Kindheit«. Die erfahrene Rednerin zu Themen aus der Hirnforschung ist einem breiten Publikum bekannt. Online findet man sie unter: nicolestrueber.de

2 Unser Gehirn verstehen: Psyche und Persönlichkeit


Das Gehirn. Unzählige miteinander verbundene und sich austauschende Zellen, Nervenzellen, Gliazellen, durchzogen von Blutgefäßen. Man mag sich kaum vorstellen, dass ein solch ungeordnet anmutendes bräunlich-rosafarbenes Geflecht Gefühle und Verhalten, ja sogar Persönlichkeit und ein bewusstes Ich hervorbringen kann.

Das Gehirn ist kompliziert. Deshalb ist auch dieses Kapitel etwas schwieriger als die übrigen Teile des Buches. Es ist aber für das Verständnis der späteren Kapitel nicht zwingend nötig, dieses Kapitel vollständig durchzuarbeiten. Dem einen oder anderen Leser mag es gar reichen, sich zunächst auf die »TAKE HOME«-Botschaften zu konzentrieren.

86 Milliarden Nervenzellen, alles kommuniziert miteinander, über elektrische Signale und über chemische Moleküle. Natürlich ist Nervenzelle nicht gleich Nervenzelle. Es gibt Nervenzellen, die auf das Sehen oder Hören spezialisiert sind, solche, die auf Bewegungen ansprechen, und wiederum andere, deren Aktivität Gefühle in uns auslöst. Man weiß, dass Nervenzellen mit ähnlichen Aufgaben zusammengruppiert sind. Deshalb kann man den verschiedenen Hirnbereichen Funktionen zuweisen, auch wenn es immer mehrere Bereiche sind, die zusammenarbeiten, wenn wir wahrnehmen, uns bewegen und auf unsere Umwelt reagieren.

Grob unterscheiden kann man die Spezialisierungen der ummantelnden Hirnrinde und der tiefer gelegenen Hirnstrukturen. Die Hirnrinde ist in der Lage, Inhalte detailgetreu zu verarbeiten und gelegentlich wird dies von Bewusstsein begleitet. Im Vergleich dazu ist die Aktivität der tief im Gehirn gelegenen Bereiche ungenauer, automatischer und immer unbewusst, dafür aber umso wichtiger. Denn dort sind nicht nur unsere Gewohnheiten gespeichert, sondern werden auch Bewertungen vorgenommen und Gefühle ausgelöst. In jeder erdenklichen Situation des Lebens wird hier alles blitzschnell und unbewusst bewertet. Das, was unser Gehirn als wichtig und neu einstuft, wird – häufig bewusst – weiterverarbeitet. Gäbe es eine solche unbewusste Vorsortierung nicht, würden wir jeden Bordstein, jeden Grashalm, jeden Teppich, auf den wir unseren Fuß setzen, systematisch begutachten. Wir würden die Kleidung der im Bus vor uns sitzenden älteren Dame hinsichtlich Material, Farbe und Qualität sorgfältig analysieren und dies für jeden Busreisenden und jeden draußen an uns vorbeirauschenden Menschen wiederholen. Unser Bewusstsein wäre völlig eingenommen von den zahllosen Informationen in unserer Welt. Deshalb wird unbewusst vorsortiert. Wichtig sind solche Dinge oder Geschehnisse, die in irgendeiner Weise mit Folgen für uns verbunden sein könnten. Herannahende Autos etwa, eine rote Ampel oder ein potentiell giftiger Käfer im Salat. Die tief gelegenen Strukturen leiten unser Verhalten unbewusst an: Wir nehmen unser Kind an die Hand, bleiben an der Ampel stehen und ziehen erschrocken die Gabel zurück.

Insbesondere dann, wenn die Situation ein bisschen mehr Aufmerksamkeit erfordert, werden bewusste Gefühle in uns ausgelöst. Wir spüren sie deutlich, die Angst vor dem Verkehr oder den Ekel vor dem Käfer. Unerbittlich lenken die Gefühle unseren Aufmerksamkeitsfokus auf das Geschehen. Wir können gar nicht anders, als es bewusst und unter Einbezug der detailbegabten Hirnrinde zu beachten und zu analysieren. Die Hirnrinde bildet nun den Käfer, den der Ekel in den Fokus gesetzt hat, in hoher Auflösung ab. Wir können das Bild genau prüfen und stellen fest, dass es sich lediglich um einen schwarz gerösteten Pinienkern handelt.

Unsere Gefühle sind deshalb mitnichten schmückendes oder lästiges Beiwerk, das uns von der Erledigung unserer Pflichten abhält. Gefühle sind in das Denken eingebunden und leiten es an. Sie »markieren bestimmte Aspekte einer Situation oder bestimmte Ergebnisse möglicher Handlungen« (Damasio 2015, S. V). All unsere alltäglichen Tätigkeiten, all die kleinen Entscheidungen, die wir rational zu treffen meinen, stehen unter der Fuchtel unserer Gefühle. Furcht, Wut, Ekel, Verachtung, Traurigkeit, Scham, Überraschung, Stolz und Freude – unsere Gefühle leiten uns an. Sie informieren uns darüber, dass in unserer Umwelt oder unserem Körper gerade etwas Wichtiges passiert und wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken müssen. Sie leiten uns an, damit wir uns positiven, belohnenden Reizen zuwenden und von möglicherweise schädlichen Reizen Abstand nehmen.

Gleichzeitig kommunizieren wir unseren Zustand unbewusst über unseren Gesichtsausdruck und unsere Haltung. Beim Anblick des Käfers in unserem Salat schrecken wir zurück und rümpfen die Nase – so wissen auch andere, was mit uns und der gemeinsamen Umwelt los ist. Die anderen können uns daraufhin helfen, beraten oder Trost spenden und wissen nun selbst ein kleines bisschen besser über die gemeinsame Umwelt Bescheid, über herannahende Autos beispielsweise, oder darüber, dass auch ihr eigener Salat möglicherweise käferhaltig ist.

Nicht immer merken wir, dass es die Gefühle sind, die unser Verhalten steuern. Schreibe ich noch eine komplizierte Email oder läute ich den Feierabend ein? Auch wenn ich meine, rational und vernunftgesteuert das Für und Wider abzuwägen, sind es doch die Gefühle, denen die Entscheidungsgewalt obliegt. Die Furcht vor der Reaktion des Adressaten auf eine ausbleibende Email, die vorweggenommene Freude darüber, so viel erledigt zu haben – all diese Gefühle können den Feierabend verzögern. Fühlen und Denken gehen auch dann Hand in Hand, wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.

Was Experten beschäftigt: Benötigen Roboter Gefühle? Wenn unsere Gefühle so wichtig sind, was ist dann mit intelligenten Robotern? Müssen auch sie Gefühle haben, um differenzierte Entscheidungen zu treffen? Oder gehört gerade die rein kognitive Analyse des Sachverhalts zu ihren großen Stärken? Heutzutage wird angenommen, dass kognitive und emotionale Prozesse in der allgemeinen Informationsverarbeitung verflochten sind. Intelligente Verhaltensweisen wie Aufmerksamkeit, Problemlösung und Planung, die üblicherweise als kognitiv bezeichnet werden, beinhalten immer auch emotionale Komponenten. Auch ein Roboter muss die emotionale Bedeutung von Informationen kennen: Sind bestimmte Entscheidungen an positive Folgen gekoppelt? Können andere negative Auswirkungen haben? In der Folge muss auch der Roboter die in dieser Weise relevant gewordenen Informationen mit Priorität verarbeiten und deren potentielle Folgen berücksichtigen. Das, was beim Menschen oft bewusst als Gefühl wahrgenommen wird und eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit mit sich bringt, muss beim Roboter nicht von Bewusstsein, d.h. von einem erlebten Gefühl, und auch nicht von Herzrasen begleitet werden, und vermutlich analysiert der Roboter die Situation auch schneller und wird nicht durch geröstete Pinienkerne fehlgeleitet – dennoch ist die Bewertung als Grundlage für Verhaltensentscheidungen streng genommen ein emotionaler Prozess (Pessoa 2017). Moralische Dilemmata, die sich aus dieser emotionalen Bewertung ergeben und die Menschen etwa im Hinblick auf das Trolley-Problem erfahren (würden Sie sich entscheiden, einen Menschen aktiv zu töten, um fünf weitere zu retten?), würden Roboter entsprechend der Vorgaben der sie programmierenden Menschen lösen (s.a. Walker 2015).

2.1 Wie unser Gehirn Fühlen und Denken hervorbringt


Richten wir unsere Augen nach innen, erleben wir uns als fühlendes und denkendes Wesen. Verschiedene Hirnzentren bringen diese Gefühle und Gedanken hervor. Früher hieß es oft, die Hirnrinde sei vor allem für kognitive Funktionen zuständig, also für das Denken, das Schlussfolgern und das Entscheiden, während unsere Gefühle tief drinnen, im sogenannten limbischen System entstehen. Heutzutage weiß man, dass es so einfach nicht ist, dass auch die Hirnrinde wesentlich an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt ist, dass also auch Teile der Hirnrinde zum limbischen System gehören. Um das Wirken der Hirnzentren besser begreifen zu können, kann man sie verschiedenen Ebenen zuordnen, und zwar drei limbischen Ebenen sowie einer kognitiv-sprachlichen Ebene, die diesen gegenübergestellt ist (Roth und Strüber 2018).1

Da ist zum einen die untere limbische Ebene. Den ihr angehörenden Strukturen geht es um das Überleben und um die Fortpflanzung. Sie arbeiten unbewusst und kümmern sich nicht nur um Atmung, Kreislauf, Schlaf-Wach-Rhythmus, Nahrungsaufnahme und Temperatur, sondern steuern auch unbewusste und automatische ...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2019
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte Baby • Bindung • Bindungsbeziehung • Cortisol • Eltern • Eltern-Kind-Bindung • Entwicklung • erste Lebensjahre • Gehirn • Gehirnforschung • Kinderbetreuung • Kindheit • Kita • Kita-Betreuung • Kleinkind • Krippe • Mutter-Kind-Bindung • Neurobiologie • Neurowissenschaften • Persönlichkeitsentwicklung • Psychologie • Resilienz • Säugling • Schwangerschaft • Soziale Kompetenz • Stress
ISBN-10 3-608-11551-X / 360811551X
ISBN-13 978-3-608-11551-2 / 9783608115512
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