Übers Sterben reden (eBook)

Wie Kommunikation in schwierigen Situationen gelingt
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491153-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Übers Sterben reden -  Sven Gottschling,  Katja Welsch
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Über das Unaussprechliche reden Angesichts des bevorstehenden Todes fehlen vielen Menschen die Worte. Dabei gibt es oft noch so viel zu sagen. Wie aber der Sprachlosigkeit und der eigenen Hilflosigkeit am Sterbebett eines nahen Menschen begegnen? Der Palliativmediziner Sven Gottschling gibt gemeinsam mit der Psychotherapeutin Katja Welsch praktische Hilfestellung in dieser extrem belastenden Situation. Wie bereite ich mich auf das Gespräch vor? Als Angehöriger, als Betroffener? Wie viel Wahrheit verträgt ein Mensch? Wie kann ich Trost spenden? Was kann ich machen, wenn Sprechen nicht mehr möglich ist? Wie spreche ich mit den Ärzten und dem Pflegepersonal? Welche Dinge muss ich regeln? Sven Gottschling und Katja Welsch lassen keine Frage offen, nehmen Ängste und begleiten den letzten Weg zu einem guten Ende.

Sven Gottschling (Jahrgang 1971) ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums des Saarlandes und hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, kranken Menschen ihre Schmerzen zu nehmen und ihnen mehr Lebensqualität zu geben. Sein Bücher 'Leben bis zuletzt - Was wir für ein gutes Sterben tun können' und 'Schmerzlos werden. Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft' wurden auf Anhieb zu SPIEGEL Bestsellern.  

Sven Gottschling (Jahrgang 1971) ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums des Saarlandes. Aus seiner langjährigen Erfahrung im Umgang mit schwerstkranken Patienten, weiß er, wie überaus wichtig Gespräche über das Sterben sind, aber auch wie schwierig es manchmal sein kann, diese frühzeitig anzustoßen. Die Diplom-Psychologin Katja Welsch (Jahrgang 1985) arbeitet am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar als therapeutische Teamleitung sowie Leiterin des Forschungsbereichs dieser Abteilung. Dort begleitet sie Patienten und deren Angehörige, die mit einer lebensverkürzenden Erkrankung konfrontiert sind. Daher weiß sie, wie viel Angst und Unsicherheit Gespräche über das Sterben bei den Betroffenen auslösen.

nachvollziehbar und anschaulich

wertvolle Handreichungen für Patienten wie auch für Angehörige, um für das Arztgespräch gut gerüstet zu sein.

Weder Tag noch Stunde


»Damit muss ich mich jetzt noch nicht befassen, dafür habe ich später noch Zeit.« Viele von uns, die gesund sind oder zumindest glauben, es zu sein, wiegen sich in einer Sicherheit, die es nicht gibt, und schieben den Tod weit von sich weg. Aber letztlich weiß niemand, wann es so weit sein wird. Jeden Tag kann es aus den verschiedensten Gründen dazu kommen, dass unser Leben auf den Kopf gestellt wird: Durch eine niederschmetternde Diagnose oder einen tragischen Unfall, wie uns die Plakate an der Autobahn so drastisch vor Augen führen, die ein zersplittertes Handydisplay zeigen, auf dem eine junge Frau und ihre kleine Tochter zu sehen sind – daneben ein großes Kreuz, unter dem steht: »Marie (38), abgelenkt durch eine SMS«. Natürlich sollen Sie jetzt nicht jeden Tag mit dem Gedanken aufwachen, dass es morgen sowieso schon vorbei sein kann. Aber gerade im Fall eines Unfalls oder einer plötzlich auftretenden Krankheit kann es für Ihre Angehörigen, die wahrscheinlich noch den Schock, den diese Nachricht in ihnen ausgelöst hat, verdauen müssen, sehr entlastend sein, wenn Sie Vorkehrungen getroffen und über Ihre Wünsche im Fall Ihres plötzlichen Versterbens gesprochen haben.

Giovanni Rossi erleidet mit 50 Jahren aus dem Nichts heraus einen Herzinfarkt mit Kreislaufstillstand. Eine Reanimation rettet zwar sein Leben, aber er hat massive Hirnschäden davongetragen und wird für immer ein Pflegefall bleiben. Seine Ehefrau – völlig überwältigt von dem Ereignis – hatte nie mit ihrem Mann über Krankheit, Sterben und Tod gesprochen. Weder hat er eine Patientenverfügung noch eine Vorsorgevollmacht . Trotzdem müssen nun Entscheidungen getroffen werden, wie es mit Herrn Rossi weitergehen soll. Es ist für seine Frau eine massive zusätzliche Belastung, nicht zu wissen, was ihr Mann sich in einer solchen Situation gewünscht hätte. Denn bei allem, was jetzt kommt, hat sie das Gefühl, auf einmal über Wohl und Weh, Leben und Tod ihres Mannes entscheiden zu müssen.

 

Ähnlich ergeht es den Eltern der 19-jährigen Lea Kurtz, die beim Schwimmen im Freibad verunglückt ist und bei der nur noch der Hirntod festgestellt werden kann. Grundsätzlich kommt hier eine Organspende in Betracht. Der zuständige Arzt befragt die Eltern, ob Lea einen Organspendeausweis besitzt oder sich jemals zu dem Thema geäußert hat. Die Eltern haben mit ihrer Tochter nie darüber gesprochen. Für sie ist es extrem schwer, in dieser Situation eine Entscheidung zu treffen, und sie haben zudem Angst, die falsche zu treffen, die nicht im Sinne von Lea wäre. Herr und Frau Kurtz entscheiden sich gegen eine Organspende. Doch damit ist es nicht getan – anschließend stehen weitere Entscheidungen an: Feuer- oder Erdbestattung? Friedhof oder Friedwald? Auch bei diesen Fragen sind die Eltern überfordert.

 

Dierk Bläuer ist selbständiger Dachdeckermeister, und sein Betrieb ist sein Lebenswerk, auf das er sehr stolz ist. Beide Söhne sind ebenfalls Dachdeckermeister, arbeiten als Angestellte in unterschiedlichen Firmen. Dierk Bläuer war es immer wichtig, dass sein Betrieb nach seinem Tod weitergeführt wird und in Familienbesitz bleibt. Er hat sich jedoch nie Gedanken darüber gemacht, wie dies konkret umgesetzt werden soll, und sich jedem Gespräch darüber mit dem Argument, das hätte ja noch ein bisschen Zeit, verweigert. Auf einer Baustelle verunglückt Dierk Bläuer schwer und verstirbt auf der Intensivstation. Nach seinem Tod zerstreiten sich seine Söhne, weil es keine Absprachen über die Geschäftsnachfolge gibt. Der Betrieb muss verkauft werden und geht in einem Großunternehmen auf.

Die Beispiele zeigen, welche Folgen es haben kann, wenn man nicht rechtzeitig über die letzten Dinge im Leben gesprochen hat und entsprechende Vorkehrungen getroffen wurden. Das ist spätestens dann unumgänglich, wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt. Aber es sollte auch ohne aktuellen Anlass erfolgen, vor allem, wenn Sie Verantwortung für andere tragen. Stellen Sie sich nur vor, Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin haben kleine Kinder. Endlich wollen Sie sich wieder etwas Zeit zu zweit gönnen. Sie haben einen Tisch in Ihrem Lieblingsrestaurant reserviert und einen Babysitter organisiert. Sie verbringen einen wunderschönen Abend, doch auf dem Heimweg nimmt Ihnen jemand die Vorfahrt, und bei dem folgenden schweren Unfall sterben Sie und Ihr Partner bzw. Ihre Partnerin. Was soll aus Ihren Kindern werden? Bei wem sollen sie aufwachsen? Deshalb:

Merke

Suchen Sie das Gespräch mit Ihren Angehörigen. Sagen Sie, dass Ihnen das Thema wichtig ist. Fragen Sie sie auch danach, was sie sich vorstellen. Halten Sie Ihre Wünsche schriftlich fest. Welche Dokumente dafür wichtig sind, erfahren Sie in diesem Buch. Wichtig ist, dass Sie in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob die von Ihnen getroffenen und kommunizierten Entscheidungen noch zutreffen.

Der Umgang mit dem Tod ist schwer genug. Wenn durch Sie nichts geregelt wurde und Ihre Angehörigen Entscheidungen treffen müssen, ohne zu wissen, was in Ihrem Sinne ist, stellt dies eine zusätzliche Belastung dar, der Sie vorbauen können.

Ein Bekannter erzählte uns vor einiger Zeit völlig entrüstet von einem Aufklärungsgespräch, das er mit einem Chirurgen anlässlich eines geplanten kleinen Eingriffs an einem Leistenbruch führte. Dieser hätte ihn doch allen Ernstes gefragt, ob er eine Patientenverfügung habe. Prinzipiell darf man sich die Frage stellen, ob das bei einem Routineeingriff bei einem kerngesunden 50-Jährigen eine vertrauensbildende Maßnahme war. Andererseits schwingt bei jeder Behandlung, auch bei jedem Routineeingriff, ein gewisses, nicht einzuschätzendes Risiko mit. Nicht nur bei einer Krebserkrankung besteht die Gefahr zu sterben, auch bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) zum Beispiel, unter der Millionen Deutsche leiden. Trotz intensivster medizinischer Behandlung führt COPD in der Regel zu einem verfrühten Tod. Dies geschieht oft im Rahmen eines plötzlich aufgetretenen Infektes der Luftwege, das heißt durch ein Bakterium in der Lunge oder durch ein Grippevirus. Aus einer leidlich stabilen Lage wird plötzlich eine lebensbedrohliche Situation.

Es ist wirklich nie zu früh, sich darüber Gedanken zu machen, was man sich am Lebensende für sich selbst wünscht. Auch die Entscheidung, sich nicht mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, ist eine Entscheidung. Denn in krankheitsbedingten Notfallsituationen wird immer das gesamte Feuerwerk an Diagnostik und Therapie abgebrannt. Dann kann es passieren, dass die Angehörigen auf der Intensivstation am Bett stehen, während man selbst über einen Luftröhrenschnitt künstlich beatmet wird, an der Dialyse hängt und durch verschiedene kreislaufunterstützende Medikamente am Sterben gehindert wird. Und in genau dieser Situation wird man diesen Menschen, die Angst haben und überfordert sind, die folgende Frage stellen: Was hätte sich der Patient für sich gewünscht?

Versuchen Sie sich einmal in die Rolle jener Angehörigen hineinzuversetzen, und Sie werden uns beipflichten, dass sich das nicht wirklich gut anfühlt. Wenn Sie es bislang als vielleicht gesunder Mensch nicht geschafft haben, sich mit dem Thema Vorausverfügungen im Krankheitsfall zu beschäftigen, dann sollten Sie das schleunigst ändern.

Eines können wir Ihnen versprechen: Wenn Sie sich Ihre Gedanken dazu gemacht und sie in mehr oder minder ausführlicher Form zu Papier gebracht haben und mit Ihren engsten Vertrauten über Ihre Wünsche und Vorstellungen in bestimmten Krankheitssituationen gesprochen haben, werden Sie merken, wie groß das Gefühl der Entlastung ist. Dann nämlich müssen Sie sich nicht mehr mit diesen Themen beschäftigen. Zum einen haben Sie für sich die Klarheit gefunden, und zum anderen haben Sie die Menschen, die Ihnen am wichtigsten sind, für den Ernstfall entlastet. Und bedenken Sie auch: Je geringer das eigene Krankheitsgefühl, je geringer die Einschränkungen, desto weniger bedrohlich ist auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Vorsorgevollmacht, denn wenn es mir gutgeht, fühle ich mich ja nicht akut von einer künstlichen Beatmung bedroht.

Wir wissen von vielen Patienten, die wir über die Jahre betreut haben und betreuen, dass es gerade bei weit vorangeschrittenen Erkrankungen, wie zum Beispiel metastasierten Krebserkrankungen, sehr schwer ist, im Angesicht eines vielleicht nicht mehr allzu weit entfernten Sterbens diese Themen anzugehen. Auch reagieren viele Angehörige unserer Patienten immer wieder überrascht, wenn wir sie in Gesprächen dazu ermutigen, diesen Zeitpunkt zu nutzen, um sich Gedanken über eigene Wünsche und Vorstellungen zu machen und diese zu Papier zu bringen. Je länger die Themen wie Vollmacht oder Patientenverfügung auf die lange Bank geschoben werden, desto mehr wächst der Druck und desto stärker wird das Unwohlsein. Es ist ein bisschen wie mit der Steuererklärung: Je näher der Abgabetermin rückt, desto unbequemer wird es. Erkrankte, die die Vorsorge für sich ignorieren, schieben diesen Schwarzen Peter ihren Angehörigen zu.

Besonders dramatisch ist es in den Fällen, bei denen die Hinterbliebenen minderjährige Kinder sind. »Ja, aber es gibt doch die Taufpaten«, mögen Sie jetzt einwerfen. Das können zwar Ihnen nahestehende Menschen sein, die Ihnen glaubhaft versprochen haben, sich im Notfall um Ihre Kinder zu kümmern, familienrechtlich relevant ist eine solche Taufpatenschaft aber keineswegs.

Bei Patienten mit schwerwiegenden, aber prinzipiell heilbaren...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2019
Zusatzinfo 3 s/w-Abbildungen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeines / Lexika
Schlagworte aktive Sterbehilfe • Angehörige • Angst vor dem Sterben • Arzt • Assistierter Suizid • Erschöpfung • Ersticken • Experte • Hilflosigkeit • Homburg • Katja Welsch • Kommunikation • krank • Leid • Medizin • Morphin • Palliativ • Palliativ-Experte • Palliativ-Medizin • Passive Sterbehilfe • Patienten • Patienten-Verfügung • Ratgeber • Sachbuch • Schmerzen • Schmerzmittel • schwierige Situation • Sterbehilfe • Sterben • Sven Gottschling • Tabu-Thema • Töten auf Verlangen • Trost • Unterstützung • Weltkrebstag
ISBN-10 3-10-491153-3 / 3104911533
ISBN-13 978-3-10-491153-3 / 9783104911533
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