Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (eBook)

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2019 | 2. Auflage
348 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-5152-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter -  Christian Klicpera,  Barbara Gasteiger-Klicpera,  Edvina Besic
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Von Angststörungen über Depression oder Hyperaktivität bis hin zu Essstörungen oder Substanzmissbrauch - die Bandbreite psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter ist groß. In diesem Werk in 2., vollständig überarbeiteter Auflage erfolgt eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Störungsbilder, ihrer Klassifikations- und Diagnosekriterien sowie ihrer Verlaufsformen. Es wird aufgezeigt, wie Alter, Geschlecht oder verschiedene Risiko- und Belastungsfaktoren die Entstehung von psychischen Störungen beeinflussen können. Des Weiteren werden Präventions- und Interventionsansätze im Hinblick auf ihre Ziele, theoretische Fundierung und Wirksamkeit in der Praxis hin beleuchtet. Das Buch bietet einen fundierten Überblick zu Formen, Ursachen und zur Behandlung von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen.

Christian Klicpera war Psychiater und Klin. Psychologe, spezialisiert auf Entwicklungsneuropsychologie, und lehrte an den Universitäten Wien und Graz.

Vorwort zur 2. Auflage 5
Vorwort 7
1 Klassifikation psychischer Störungen im Kindes und Jugendalter 13
1.1 Grundprinzipien bei der Identifizierung charakteristischer Formen von psychischen Störungen 13
1.2 Neuere Geschichte der Klassifikation psychischer Störungen 15
1.3 Gefahren der Klassifikation 21
2 Angststörungen 25
2.1 Die Rolle von Furcht und Angst in der Entwicklung von Kindern 25
2.2 Bedingungsgefüge bei Angststörungen 28
2.3 Allgemeines zur Behandlung und Prävention31
2.4 Einteilung der Angststörungen32
2.5 Trennungsangst 33
2.6 Generalisierte Angststörung bzw. übermäßige Ängstlichkeit und Besorgtheit bei Kindern 33
2.7 Panikstörung 35
2.8 Sozialphobie 36
2.9 Spezifische Phobien 38
2.10 Prävention40
2.11 Therapie 41
3 Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen 48
3.1 Diagnostische Kriterien 48
3.2 Symptomatik 49
3.3 Epidemiologie 50
3.4 Untergruppen 51
3.5 Komorbidität und Differenzialdiagnose 51
3.6 Verlauf 52
3.7 Ursachen 52
3.8 Behandlung und Prognose 55
4 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) 61
4.1 Diagnostische Kriterien der PTBS (nach DSM-5) 62
4.2 Symptome der PTBS bei Kindern unter sechs Jahren 63
4.3 Häufigkeit 64
4.4 Verlauf 64
4.5 Komorbidität 65
4.6 Diagnostik 66
4.7 Behandlung 66
5 Depressive Störungen 75
5.1 Symptome der Depression bei Kindern und Jugendlichen 75
5.2 Klassifikation 78
5.3 Diagnostik und diagnostische Instrumente 83
5.4 Häufigkeit, Risikofaktoren 84
5.5 Komorbidität 85
5.6 Verlauf 86
5.7 Ursachen der Depression 87
5.8 Therapie der Depression 96
6 Suizide und Suizidversuche 109
6.1 Definition und Klassifikation 109
6.2 Epidemiologie 110
6.3 Klinisch-psychologische Störungen bei Suizid und Suizidversuchen 115
6.4 Ursachen 118
6.5 Prognose und Verlauf 121
6.6 Prävention 121
6.7 Therapie 122
7 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung 131
7.1 Diagnostische Kriterien und Klassifikation 131
7.2 Prävalenz 136
7.3 Komorbidität 137
7.4 Symptomatik 137
7.5 Soziale Anpassungsschwierigkeiten hyperaktiver Kinder 144
7.6 Verlauf der Hyperaktivität 150
7.7 Die Frage nach den zugrunde liegenden Mechanismen 152
7.8 Ursachen der Hyperaktivität 152
7.9 Interventionen 155
8 Störungen des Sozialverhaltens (dissoziale Störungen) 172
8.1 Definition 172
8.2 Diagnostik 181
8.3 Häufigkeit 182
8.4 Verlauf 184
8.5 Erklärungsansätze 185
8.6 Prävention und Intervention 192
9 Alkoholkonsumstörung 212
9.1 Definition 212
9.2 Epidemiologie 214
9.3 Klinisches Bild 216
9.4 Ätiologie und Genese 218
9.5 Untergruppen 222
9.6 Prävention 223
9.7 Verlauf und Prognose 224
9.8 Therapie 224
10 Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen 229
10.1 Definition 230
10.2 Auswirkungen des Drogengebrauchs: die häufigsten Substanzen 230
10.3 Prävalenz 238
10.4 Verlauf 241
10.5 Komorbidität 243
10.6 Ursachen 243
10.7 Therapie 249
11 Essstörungen im Kleinkindalter 259
11.1 Häufigkeit von Ernährungsstörungen 260
11.2 Behandlung 264
11.3 Nichtorganische Gedeihstörung (NOFTT/„Non-Organic Failure to Thrive“) 265
12 Essstörungen im Jugendalter 270
12.1 Anorexia nervosa 272
12.2 Bulimia nervosa 289
12.3 Binge-Eating-Störung (BES) 295
13 Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexueller Missbrauch 303
13.1 Definition 304
13.2 Epidemiologie 305
13.3 Kindesvernachlässigung 306
13.4 Körperliche Misshandlung 308
13.5 Sexueller Missbrauch 320
Fragenkatalog 337
Stichwortverzeichnis 343

2 Angststörungen


Fast jedes Kind durchlebt im Lauf seiner Entwicklung Phasen besonderer Angst, da Ängste bei Kindern relativ weit verbreitet sind. Die spezifische Art der Ängste hängt mit der Entwicklungsphase zusammen, in der sich die Kinder gerade befinden. Daher ist der Entwicklungshintergrund stets mitzubeachten, wenn man die Entstehung von Angst bei Kindern verstehen möchte. Am frühesten im Kindesalter tritt die Trennungsangst auf, die dadurch hervorgerufen wird, dass sich die Kinder um jene, die ihnen nahestehen, Sorgen machen und Angst haben, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Im Kindesalter werden neben der Trennungsangst auch die generalisierte Angststörung, die Panikstörung und die Sozialphobie unterschieden. Relativ häufig werden zudem spezifische Phobien beobachtet.

Für die Definition ist es wichtig, Angst von Furcht und Phobie zu unterscheiden. Furcht bezieht sich immer auf ein konkretes Objekt und meint ein negatives Gefühl der Gefahr oder Bedrohung durch dieses Objekt. Personen haben also immer Furcht vor etwas. Angst hingegen ist ein allgemeines, grundlegendes Gefühl mit negativer Tönung. Angst ist ein oft unbestimmtes, aber überlebensnotwendiges Warnsignal in bedrohlichen Situationen. Schließlich ist eine Phobie eine intensive, überwältigende, aber übertriebene Furcht vor konkreten Objekten oder Situationen, z. B. vor Spinnen, Schlangen oder vor sozialen Situationen.

Angststörungen sind mit einer Prävalenz von über 10 % die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern (Wagner et al., 2017; Ihle & Esser, 2002; Merikangas et al., 2010; Costello, Mustillo, Erkanli, Keeler, & Angold, 2003). Sie neigen dazu zu persistieren und häufig entwickeln Kinder mit Angststörungen später auch andere klinische Schwierigkeiten. Es ist daher von großer Bedeutung zu differenzieren, ab wann die Angst klinisch auffällig ist und einer besonderen therapeutischen Intervention bedarf.

2.1 Die Rolle von Furcht und Angst in der Entwicklung von Kindern


Das Angsterleben von Kindern in verschiedenen Entwicklungsphasen spiegelt die Art und Weise ihrer Erfahrung und Vorstellung der Welt wider. Sehr früh, schon von Geburt an, lösen Schmerz sowie laute, rasch ansteigende Geräusche eine Disstress-Reaktion aus, die aus Schreien, Weinen, einer muskulären Anspannung und diffusen Bewegungen besteht. Negative Reaktionen auf visuelle Reize treten ein wenig später in der Entwicklung auf. Diese Reaktionen beziehen sich in erster Linie auf neue Reize, wobei v. a. fremde Personen Furcht auslösen. Die Entwicklung dieser Reaktionen erfolgt allmählich: Zuerst nimmt das Anlächeln ab, schließlich gewinnt ein Ausdruck der Besorgnis die Oberhand. Von dieser Besorgnis lässt sich die Furchtreaktion im engeren Sinn abgrenzen, die durch intensivere Emotionalität, aber auch dadurch gekennzeichnet ist, dass nach einer solchen Reaktion kaum mehr ein Zugehen auf den Fremden erfolgt, während dies nach dem Ausdruck von Besorgnis noch möglich ist.

Etwa ab dem 6. bis 8. Lebensmonat löst eine Trennung von der Mutter bzw. der zentralen Bezugsperson des Kindes eine intensive emotionale Reaktion aus, die durch Weinen, Unruhe, Versuche, der Mutter zu folgen, und wiederholtes Rufen gekennzeichnet ist. Die Intensität dieser Reaktion ist von verschiedenen Faktoren abhängig: der Gegenwart anderer vertrauter Personen, der Fremdheit der Situation, dem Verhalten des Fremden etc. Sie nimmt in den Monaten nach ihrem ersten Auftreten zu, um etwa mit dem 18. Lebensmonat ihren Höhepunkt zu erreichen. Die Abnahme dieser Reaktion erfolgt nur langsam.

Von Beginn an bestehen große interindividuelle Unterschiede darin, wie wahrscheinlich es ist, dass durch eine kurze Abwesenheit der Mutter eine emotionale Reaktion beim Kleinkind hervorgerufen wird. Diese Unterschiede hängen einerseits von der Sicherheit der Bindung zwischen Mutter und Kind ab (Ainsworth, Blehar, Waters, & Wall, 1978), andererseits vom Stand der kognitiven Entwicklung der Kinder. Dieser Entwicklungsstand bedingt ein unterschiedliches Verständnis dafür, dass die Abwesenheit der Mutter nur vorübergehend ist. Für die Intensität der emotionalen Reaktionen lässt sich zudem bereits frühzeitig ein Einfluss des Temperaments der Kinder nachweisen.

Furcht ist in früher Kindheit oft auf aktuelle Ereignisse in der unmittelbaren Umgebung (z. B. spezielle Gegenstände, Geräusche oder die Angst, zu fallen) bezogen. Solche spezifischen Ängste sind bei Kindern häufig. Die Eltern können meist mehrere Gegenstände oder Situationen benennen, vor welchen ihre Kinder Angst haben (Jersild & Holmes, 1935; Lapouse & Monk, 1959). Kinder zeigen auch relativ häufig stärkere Angstreaktionen. Die meisten spezifischen Ängste sind jedoch nur von kurzer Dauer und geringer Intensität. Die Entstehung spezifischer Ängste vor relativ harmlosen Gegenständen steht möglicherweise in Zusammenhang mit der Tendenz von Kindern zu Anthropomorphismus. Das bedeutet, dass sie auch in unbelebten, sich bewegenden Gegenständen und Tieren Absichten und Gefühle sehen (Bauer, 1980). Es könnte sich darin auch eine Tendenz zu stärkerer Externalisation von inneren Erlebnissen ausdrücken.

Einige Ängste zeigen einen klaren Alterstrend. So werden Ängste vor Tieren kaum bei jüngeren Kindern angetroffen, nehmen aber dann deutlich zu und erreichen ihre größte Häufigkeit mit etwa drei Jahren. Nach Bowlby (1973) sind diese Ängste deshalb so häufig, weil Tiere verschiedene Merkmale aufweisen, die für Kinder beängstigend sind: Sie können sich rasch auf die Kinder zubewegen, nähern sich oft unerwartet und plötzlich. Zudem sind sie den Kindern relativ fremd und weisen auch bestimmte visuelle und taktile Merkmale auf – wie etwa windende Bewegungen oder eine pelzige Oberfläche –, die leicht Angst auslösen.

Etwas später, mit zirka vier Jahren, erreichen Ängste vor der Dunkelheit ihr Maximum. Zu diesen Ängsten trägt bei, dass visuelle Reize in der Dunkelheit schwer interpretierbar sind, die Situation für die Kinder fremdartig wirkt und die Kinder dabei meist allein sind.

Mit dem Alter nehmen diese Ängste ab, es kommt stattdessen zur Angst vor Fantasiegestalten, vor der Dunkelheit, vor dem Alleinsein und Verlassenwerden. Die Ängste vor Geistern, Monstern und Fantasiegestalten werden manchmal als Ausdruck einer Verunsicherung durch den Tod und durch die Möglichkeit eines Verlustes vertrauter Personen und Gegenstände interpretiert (Bauer, 1980).

In der mittleren Kindheit ist auch eine Abnahme der Ängste um die persönliche Sicherheit sowie vor Tieren festzustellen. Mit dem Schuleintritt kommt es zu Ängsten, die auf die Schule bezogen sind und im Zusammenhang mit sozialen Beziehungen stehen. Diese werden nach einem erstmaligen Anstieg im ersten Schuljahr schließlich v. a. im Alter von 9 bis 12 Jahren beobachtet. Auch Sorgen wegen Geldangelegenheiten und vage Ängste um die eigene Identität (etwa ob die Kinder adoptiert wurden) sind ab diesem Alter häufiger zu beobachten.

Bamber (1979) fasste Untersuchungen über Ängste in der Adoleszenz zusammen und stellte eine Persistenz der Ängste vor körperlichen Verletzungen, um persönliche Sicherheit sowie einen Anstieg der Ängste um Sozialkontakte fest. Eine Abnahme würde es hingegen bei den Ängsten vor Tieren, vor der Dunkelheit sowie vor Wasser und Feuer geben. Auch Angstträume würden seltener werden, ebenso die Angst vor Aggression.

Bezüglich der Entstehung von Ängsten bei Kindern gibt es verschiedene Auffassungen:

Die psychoanalytische Theorie von Freud sah darin eine Externalisation innerer Konflikte; andere Akzente setzte dagegen Bowlby, der Angst im Zusammenhang mit Trennungserfahrungen interpretierte.

In der Lerntheorie wurde die Konditionierung der Ängste betont.

Die existenzialistische Tradition fokussierte auf die Verwurzelung der Ängste in der gesamten Lebenserfahrung des Menschen.

Von anderen (z. B. Lang, 1979) wurde hervorgehoben, dass sich Ängste aus mehreren Reaktionskomponenten (physiologisch, kognitiv, emotional) zusammensetzen und sich klinisch bedeutsame Angst nur quantitativ von normaler Angst unterscheidet. Über die Reaktionskomponenten, v. a. physiologische Reaktionen, gibt es nur wenige Untersuchungen an Kindern.

Die Entwicklung ängstlichen Verhaltens bei Kindern wird durch die parallel auftretende Fähigkeit, diese emotionalen Reaktionen zu kontrollieren, modifiziert. Die Kinder sind über lange Zeit auf die Beziehung zu den Eltern angewiesen, um Sicherheit zu finden. In den ersten Wochen zeigen Kinder eine fast obligatorische Aufmerksamkeit gegenüber neuen Reizen, unabhängig von deren Gehalt, und sind dadurch wie gefangen. Bald jedoch können sie eine gewisse Kontrolle über die durch äußere Reize erzeugte Angst und Erregung ausüben, indem sie den Blick von diesen Reizen abwenden, den Kontakt unterbrechen und sich zurückziehen. Die sich entwickelnde Fähigkeit zur inneren Repräsentation von Erfahrungen und der Erwerb von Sprache ermöglichen eine...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2019
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte angstzustände • Aufmerksamkeitsstörung • Depression • Entwicklung • Entwicklungspsychologie • Entwicklungsstörung • Essstörung • Familie • Familien • Hyperaktivität • Intervention • Kindes- und Jugendalter • Lehrbuch • Lehrer • Neurosen • Panikstörung • Prävention • Prüfungsangst • Psychotherapie • Schulverweigerung • Selbstverletzendes Verhalten • Sexueller Missbrauch • Substanzmissbrauch • suizidales Verhalten • UTB
ISBN-10 3-8463-5152-0 / 3846351520
ISBN-13 978-3-8463-5152-9 / 9783846351529
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