Leib (eBook)

Die Natur, die wir selbst sind
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
196 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75971-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leib -  Gernot Böhme
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Gernot Böhmes neues Buch führt die Natur, die wir selbst sind, in den aktuellen Diskurs über die Natur ein. Mit »Leib« wird weder der Körper des Menschen als Organismus noch seine Natur im Sinne eines Wesens bezeichnet. Der Leib ist dem Menschen gegeben durch die Regungen und Bedürfnisse, die in ihm aufsteigen; er kann ihn aufsuchen durch leibliches Hin-Spüren. Dieses Konzept von Natur hat Konsequenzen für Ethik und Ästhetik: Ein Mensch kann mündige Entscheidungen nur treffen, wenn er qua Leib in sich gefestigt ist, und die ökologische Ästhetik ist keine Fortsetzung der traditionellen Naturästhetik, weil die Umwelt weder ein Objekt noch ein Anblick ist, sondern das, worin wir sind.



<p>Gernot B&ouml;hme, geboren 1937, war Professor em. f&uuml;r Philosophie an der Technischen Universit&auml;t Darmstadt, Direktor des Instituts f&uuml;r Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmst&auml;dter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: <em>Ethik leiblicher Existenz</em> (stw 1880) und <em>&Auml;sthetischer Kapitalismus</em> (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers <em>Atmosph&auml;re. Essays zur neuen &Auml;sthetik</em> (es 2664). Gernot B&ouml;hme verstarb am 20.01.2022.</p>

Gernot Böhme ist Professor em. für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Ethik leiblicher Existenz (stw 1880) und Ästhetischer Kapitalismus (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (es 2664).

9Natur im Diskurs


Wenn im Titel dieses Buches Leib als die Natur, die wir selbst sind, bezeichnet wird, so mag dies anstößig wirken. In jedem Fall enthält es ein Paradox: Es wird hier zusammengebracht, was eigentlich auf die zwei Seiten einer Dichotomie zu verteilen ist, nämlich der Dichotomie zwischen dem Aktiven und dem Pathischen. Wir sind uns selbst als Natur gegeben, Natursein geschieht uns. Der Begriff des Selbstseins dagegen suggeriert eine Aktivität, unterstellt, dass, worum es dabei geht, von einem Selbst gestaltet, wenn nicht gar zu verantworten ist. Dieses Paradox besteht darin, dass wir in unser bewusstes Verhalten zu uns selbst unser Natursein aufnehmen, also etwas, über das wir nicht verfügen können. Dieses Paradox beschreibt aber sehr gut unsere Situation, die existentielle Seinweise. Sie ist als solche in der philosophischen Anthropologie durchaus anerkannt. Etwa bei Helmuth Plessner mit der Exzentrizität unseres Daseins; bei Sartre mit der Formel, dass wir sind, was wir nicht sind, und nicht sind, was wir sind; bei mir in meiner ersten Arbeit zur Anthropologie[1] mit dem Begriff des Risses im Sein. Man könnte sogar sagen, dass in der uralten, auf Aristoteles zurückgehenden Definition des Menschen als zoon logon echon oder lateinisch als animal rationale ebenfalls eine paradoxe Definition des Menschseins gegeben wurde. Ich stelle mich mit meiner Definition des Leibes durchaus in diese Tradition. Es liegt mir nur daran herauszuarbeiten, dass wir, indem wir uns selbst gegeben sind, mit uns qua Natur zu tun haben – um damit in gewisser Weise die bisher existierende Leibphilosophie zu korrigieren oder wenigstens doch zu ergänzen. Ebenso gilt es, den heute aktuellen Diskurs über Natur zu korrigieren beziehungsweise zu ergänzen – nämlich dahingehend, dass wir in unserer Leiberfahrung mit uns selbst qua Natur zu tun haben, und das heißt für den Naturdiskurs: dass wir Natur keineswegs bloß als etwas Äußerliches kennen, sondern sie vielmehr auch quasi von innen, nämlich in unserer Selbsterfahrung, kennenlernen.

10Durch die Formulierung kennenlernen deute ich bereits an, dass durch die Definition Leib: die Natur, die wir selbst sind sehr wohl Leib bestimmt ist, aber keineswegs als Faktum, sondern vielmehr als Aufgabe. Sowohl das Natur-selbst-Sein versteht sich nicht von selbst, ebenso nicht, Natur quasi von innen beziehungsweise in Selbsterfahrung kennenzulernen. Zwar sind wir von gewissen leiblichen Regungen wie dem Schmerz unausweichlich betroffen, und wir erfahren diese Regungen als aus einem Grunde stammend, den wir zunächst und zumeist nicht selbst sind, und doch sind wir eben unausweichlich betroffen, weil solche Regungen, insbesondere der Schmerz, uns gerade anzeigen, dass, was uns da trifft – so fremd und lästig es gerade sein mag, eben zu uns gehört, uns zu eigen ist.

Es geht also im Folgenden einerseits um den Leib als Naturerfahrung und andererseits um die Einführung des Leibbegriffs in den Diskurs über die Natur. Zunächst zu Ersterem.

Es ist erstaunlich, dass in der mittlerweile ausgearbeiteten und wirkungsvollen Phänomenologie menschlicher Leiblichkeit das Natursein des Menschen nicht thematisiert wurde. Das mag, wie bei Hermann Schmitz, ein bewusstes Ausweichen sein – er wollte nicht, dass seine Anthropologie in die Dichotomie von Natur und Geist zurückfiele. Es mag aber auch daran liegen, dass die Phänomenologie sich generell im Gegenzug zur Naturwissenschaft versteht und damit einer Thematisierung des menschlichen Leibes als Natur misstraut, weil damit die Gefahr gegeben wäre, ihn doch wieder als Gegenstand der Naturwissenschaft, nämlich als Organismus, zu behandeln. Folge dieser Vermeidung des Naturbegriffs in der Leibphilosophie ist die erstaunliche Tatsache, dass die Geschlechtlichkeit in dieser Philosophie praktisch keine Rolle spielt. Insofern ist die Arbeit von Ute Gahlings über die Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen[2] ein ganz wesentliches Korrektiv.

Wenn ich sagte praktisch keine Rolle spielt, so weil es in Merleau-Pontys Buch Phänomenologie der Wahrnehmung das Kapitel V »Der Leib als geschlechtliches Sein« gibt und es ja gerade als eine der wesentlichen Errungenschaften Merleau-Pontys gilt, von der Inkarnation des Ich beziehungsweise des Subjekts Kenntnis zu neh11men.[3] Diese Inkarnation hat unter dem Titel embodiment geradezu einen Siegeszug um die ganze Welt vollbracht und vertritt oder besser gesagt: verdrängt dadurch die Thematisierung des Leibes als solchen.[4] Der Grund dafür, dass Merleau-Ponty den Leib in der einseitigen und damit unzureichenden Weise der Inkarnation des Ich entdeckt, liegt in der – für einen französischen Philosophen typischen – vorausgesetzten Selbstsicherheit des Ich, des Ich-denke, das heißt in seinem Kartesianismus – oder allgemeiner gesehen: in dem Vorrang, den man dem Handeln bis dato – oder sagen wir besser bis zu Hermann Schmitz:[5] in der philosophischen Anthropologie zuschrieb. Geschlechtlichkeit wird deshalb von Merleau-Ponty vom Bewusstsein her verstanden, und Bewusstsein ist für ihn mit Edmund Husserl immer Bewusstsein von etwas, also intentional. Embodiment ist damit eine Weise, wie Bewusstsein sich sinnlich in die Welt der Gegenständlichkeit ausstreckt. Das ist die Inkarnation: »Der Begierde aber eignet ein Verstehen, das ›blindlings‹ Körper mit Körper verbindet. So ist selbst die Geschlechtlichkeit, die man doch lange genug als typisches Beispiel einer bloßen Körperfunktion betrachtet hat, keineswegs ein peripherer Automatismus, sondern Intentionalität, die der Bewegung der Existenz selbst folgt […].«[6] Geschlechtlichkeit wird also von Merleau-Ponty durchweg von der Begierde her verstanden, das heißt einem aktiven Zugriff auf den Anderen. Es entgeht ihm dabei die Selbsterfahrung im leiblichen Spüren, also das Pathische. Der Leib als solcher taucht dabei gar nicht auf, allenfalls noch bei der Behandlung der Exhibition, in der man quasi seine eigene Subjekthaftigkeit zurückstellt, um den anderen Menschen zu faszinieren. Auch hier geht es ihm um eine Strategie, also noch um verdecktes Handeln, bei dem man durch Verführung sich »dem anderen Menschen widerstandslos ausliefern [will], so daß es der Andere sein wird, der ihm zum Sklaven verfällt«.[7] 12Wie Sartre in Das Sein und das Nichts[8] interpretiert er die Situation hegelsch als Herr/Knecht-Dialektik, als Auseinandersetzung zweier Subjekte.

Man entgeht dieser Dialektik und damit der Verdeckung der Leiblichkeit durch die Strategie der Inkarnation nur, wenn man in der Analyse nicht das Subjekt, das Ich, den Willen schlicht voraussetzt, sondern vielmehr umgekehrt, die Etablierung einer Ich-Instanz als Ausdifferenzierung aus einer ursprünglichen Selbstgegebenheit, nämlich der Selbstgegebenheit qua Leib herleitet.[9] Der Leib ist die Natur, die uns im leiblichen Spüren gegeben ist. Dieses Spüren ist die Erfahrung von Natur, nämlich von etwas, das mir gegeben ist und das als etwas, was von selbst da ist (die Griechen kannten das automaton als Kennzeichen der Natur), das aber – wie das Beispiel Schmerz zeigt – trotz seines fremden und befremdlichen Charakters seine Mir-Zugehörigkeit signalisiert. Die eigene Natur wird also in betroffener Selbstgegebenheit erfahren. Und allerdings, was da erfahren wird, ist durchaus mein Organismus, aber nicht, wie ich ihn in gegenständlicher Kenntnis konstatieren kann, sondern wie er sich mir in leiblichen Regungen aufdrängt.

Auch bei Hermann Schmitz, dessen Leibphänomenologie wohl im weltweiten Vergleich ausgeführt ist wie keine andere, hat zwar die Analyse von Vorgängen, die eindeutig zu uns als Lebewesen gehören, ihren Platz. Gleichwohl wird sie keineswegs so...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ästhetik • Ethik • Naturästhetik • Philosophie • STW 2270 • STW2270 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2270
ISBN-10 3-518-75971-X / 351875971X
ISBN-13 978-3-518-75971-4 / 9783518759714
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Wechselwirkungen zwischen Technologie und Komposition

von Carsten Brocker

eBook Download (2023)
edition text + kritik (Verlag)
58,99
Kleine Schriften. Band 3

von Martin Heidegger

eBook Download (2022)
Klett-Cotta (Verlag)
31,99