Die Ostdeutschen (eBook)

Kunde von einem verlorenen Land

(Autor)

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2019 | 1. Auflage, Erweiterte Ausgabe
368 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1745-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ostdeutschen - Wolfgang Engler
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Endlich wieder lieferbar - das Standardwerk zur Mentalitätsgeschichte der Ostdeutschen. Lebendig und präzise schildert Wolfgang Engler, wie die ostdeutsche Gesellschaft in vierzig Jahren DDR das, was von oben in sie eingepflanzt wurde, verarbeitete und umdeutete. Er ergründet, wie die Menschen ihre Würde im Umgang mit der Macht verteidigten und was sie unter Reichtum, Glück und Freiheit verstanden. 'Englers Kunde von einem verlorenen Land ist lesenswert.' Deutsche Welle. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe.

Wolfgang Engler, geboren 1952 in Dresden, Soziologe, Dozent an der Schauspielhochschule »Ernst Busch« in Berlin, von 2005 bis 2017 dort Rektor. Langjähriger Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Bei Aufbau erschienen »Unerhörte Freiheit. Arbeit und Bildung in Zukunft«, »Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus«, »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land«, »Die Ostdeutschen als Avantgarde« und »Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft«. Zuletzt, zusammen mit Jana Hensel, 'Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein'.

Aufbau und Aufstand


Wie die Ostdeutschen in neue Häuser und Städte zogen und über deren richtigen Gebrauch mit ihrer Führung stritten

Der Setzling wird ein Baum.

Der Grundstein wird ein Haus.

Und haben wir erst Haus und Baum

Wird Stadt und Garten draus.

Und weil uns unsere Mütter

Nicht für das Leid geborn

Haben wir alle gemeinsam

Glücklich zu leben geschworn.

Bertolt Brecht

Ziemlich genau zwanzig Jahre, nachdem die Prenzlauer-Berger Schüler ihre Aufsätze geschrieben haben, verlässt eine Ostberliner Lehrerin ihre Arbeitsstelle. Sie durchschreitet in elegantem Kostüm und Absatzschuhen die lichtdurchfluteten Gänge, begibt sich zur freitragenden Treppe und von dort zum Ausgang, einem Portal aus Glas. Draußen besteigt sie den Bus, mit dem sie schließlich, von der Schillingstraße kommend, die Karl-Marx-Allee erreicht. Dort steigt sie aus, wendet sich einem der Neubauten aus den frühen sechziger Jahren zu und verschwindet darin. Das Treppenhaus wiederholt in verkleinertem Maßstab das der Schule, aus der sie kommt, und schlingt sich luftig-filigran nach oben.

In ihrer Wohnung angelangt, betritt die Frau, die kaum älter als dreißig Jahre sein dürfte, zunächst das Wohnzimmer. Das Licht, das durch die großen Fenster dringt, erhellt den weitläufigen Raum und mit ihm die geschmackvolle Einrichtung. Man erkennt einen der Küche zugewandten Essplatz für die Familie, eine freistehende Liege, ein Bücherregal aus dem Baukasten, das sich leicht montieren und verändern lässt, sowie eine Sitzecke mit Kaffeetisch und schlanken Sesseln. Alles ist mit sicherer Hand arrangiert und wirkt dennoch offen, fast provisorisch. Man meint, die Gegenstände könnten jederzeit, wie bei einer Theaterprobe, in Bewegung geraten, die Orte wechseln, um sich der jeweiligen Situation anzupassen.

Gerade weil es in Fluss bleibt, spendet das Leben mit solchen Dingen Freude und Zufriedenheit. Sie dienen nicht der Anschauung oder gar der Repräsentation, sondern dem Gebrauch. Brauchbar zu sein, gebraucht zu werden ist ihre ganze Bedeutung, ihr ganzer Zweck.

Kinderzimmer, Küche, Flur und Bad zeigen denselben funktionalen Zuschnitt. Nichts ist dem Zufall überlassen, und nichts muss so bleiben, wie es ist.

Ihrem Alter nach könnte die Frau, der wir noch einmal begegnen werden, selbst auf den Schulbänken von 1946 gesessen und einen der erwähnten Aufsätze geschrieben haben. Erwachsen und Lehrerin geworden, lebt sie mit ihren Schülern in einer anderen, weitaus erfreulicheren Welt. Sie lebt nicht nur in ihr – sie preist sie auch. Ihre ganze Erscheinung, ihr gesamter Gang vom Schulhaus bis zur eigenen Wohnung verkünden das Ende der alten Zeit und darüber hinaus den Anbruch der Moderne.

Egon Günthers Film Lots Weib aus dem Jahre 1965, dem dieser Auftritt mit lauter Ausrufungszeichen entstammt, ist ein besonders aussagefähiges, jedoch keineswegs isoliertes Dokument des neuen Lebensgefühls. Der Nachkrieg, das zeigen die Bilder, war nun doch zu Ende gegangen, die Vergangenheit zwar nicht vergessen, doch auf Abstand gebracht. Nun, da man sich irgendwie angekommen wähnte, nicht mehr nur unterwegs, überblickte man auch die Stationen, Anläufe, Versuche besser, vom Gestern ins Heute zu gelangen.

Nur ein paar hundert Meter östlich der neuen Karl-Marx-Allee hatte das vormals Neue seine sichtbarsten Spuren hinterlassen – gebautes Unbehagen an der durchgreifenden Modernisierung der Lebensverhältnisse, wie man nun befand; tastender, noch halbblinder Aufbruch; marmorner Stolperstein der städtischen Moderne.

Wer sich selbst auf den Weg macht, vom Frankfurter Tor dem Alexanderplatz entgegen und von dort in Richtung Palast der Republik, wird diese Kritik verstehen, aber auch einordnen können. Er gewinnt darüber hinaus eine geraffte raumzeitliche Vorstellung der einander ablösenden Stadt- und Gesellschaftsvisionen des ostdeutschen Staatswesens.

Am Anfang war die Stalinallee; ein kontroverser Anfang, der Streit für die Zukunft verhieß. Hans Scharoun, der renommierte Werkbundmann, stieg als erster in den Ring. Sein Bebauungsplan aus dem Jahre 1949, »Wohnzelle Friedrichshain«, folgte dem dezentralen, demokratischen Leitbild der klassischen Moderne. Durch niedrige Bebauung, Laubengangfassaden, Abkehr von der Hauptverkehrsachse sollten Stadt und Landschaft miteinander versöhnt und zudem überall derselbe »Wohnreiz« geschaffen werden. Das Projekt stand im Einklang mit den Gedanken zur neuen Gestalt der Stadt, die Scharoun ein Jahr zuvor in der Monatszeitschrift bildende kunst veröffentlicht hatte. »Die der Stadt zukommende Form«, hieß es darin kurz und bündig, »ist die Stadtlandschaft. Die formvollendete Durchdringung natürlicher Gegebenheiten und der Baumittel stellt sich in den schwach und stark besiedelten Stadtteilen gleich überzeugend dar.«

So wie Scharoun dachte auch die Friedrichshainer Bezirksfraktion der SPD und befürwortete in gut sozialdemokratischer Bautradition (für die die Wiener Höfe das noch immer imposanteste Beispiel geben) die Errichtung eines »Stadtdorfes« mit Marktplatz, Gemeinschaftsbauten, Kulturstätten, kommunalen Einrichtungen sowie angegliederten »Gärtnerhöfen und Gärtnerdörfern«, die den notwendigsten Nahrungsbedarf für die Stadtbewohner sichern sollten.

Mitten im Aushub der Baugruben fielen diese Konzepte einem städtebaulichen Paradigmenwechsel zum Opfer, der seinerseits Ergebnis einer sechswöchigen Reise war, die eine Abordnung maßgeblicher ostdeutscher Architekten und Baufunktionäre nach Moskau, Kiew und Stalingrad geführt hatte. Ihre unmittelbare Frucht waren die berühmten Sechzehn Grundsätze des Städtebaus, die der DDR-Ministerrat nebst einem davon inspirierten »Aufbaugesetz« im September 1950 erließ.

Sie hielten dem sozial unbezüglichen Modernismus »das Prinzip des Organischen und die Berücksichtigung der historisch entstandenen Struktur der Stadt« entgegen, der azentrischen Stadt mit überall gleicher Wohnqualität die funktional geordnete Stadt: »Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt.«

Die Grundsätze dekretierten jedoch auch, dass der Verkehr der Stadt und ihrer Bevölkerung zu dienen haben, jene nicht zerreißen und dieser nicht hinderlich sein dürfe. Die aus Gruppen von Häuservierteln bestehenden »Wohnkomplexe« sollten mit Gärten und reichlich Grün sowie mit Kindergärten, Schulen und dezentralen Versorgungseinrichtungen versehen werden. Insgesamt sollten die städtische Öffentlichkeit nicht vom Kommerz bestimmt, Händler und Touristen nicht ihre Leitgestalten sein.

Im Entscheidenden gab es jedoch keinen Kompromiss:

»Der Grundsatz ist nicht umzustoßen: in der Stadt lebt man städtischer; am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher.« Und: »Die Architektur muss dem Inhalt nach demokratisch und der Form nach national sein.«

Das war das Ende für Scharoun und seine Pläne. Zwar hatte er sich noch seine eigenen Gedanken über die Grundsätze gemacht und selber welche formuliert. Doch die verschärften den Bruch nur, wie eine kleine Auswahl zeigt:

»Die Stadt gibt Wohnung für den Menschen, für die ihm lieben und nützlichen Tiere und die ihm notwendigen Naturkräfte.

Die Wohngegend steht in einem gewissen Gegensatz zum Erwerbsgebiet, auf dem der Mensch im Kampf steht um seines Wachstums willen, um der Vermehrung der Menschen willen, zum Preise des Guten.

Das Wohngebiet ist exterritorial, ist friedlich, und dort gilt das Wort ›Stadtluft macht frei‹.«

Genau dies wollte der Auftraggeber nicht, nicht mehr. Das Stadtdorf nicht und erst recht nicht die der Konkurrenzgesellschaft innewohnende Polemik von Wohn- und Arbeitswelt, hier Kampf, dort trügerischer Frieden. Scharoun ging und verwirklichte seine Ideen bald darauf im Westberliner Hansaviertel. Der Stalinallee hatte er die beiden Laubenganghäuser zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor vermacht, die als gleichsam erratische Blöcke in den veränderten Kontext hineinragten.

Nun kam die Reihe an den 1905 geborenen Hermann Henselmann. Der hatte sich schon zeitig als Moderner ausgewiesen, war 1934 aus rassischen Gründen aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen worden und bis zu seiner Desertion aus einer der SS unterstellten Bauabteilung im Jahre 1945 als Namenloser im Industrie- und Rüstungsbau untergekommen. In den ersten vier Nachkriegsjahren Direktor der Weimarer Hochschule für Baukunst und Bildende Kunst und entschiedener Fürsprecher des Formenkanons der modernen Architektur, war er nun höchstamtlich zum Chefarchitekten und damit zum Widerruf bestellt.

Er widerrief mit dem ihm eigenen Selbstbewusstsein und entwickelte den sophistischen Ehrgeiz, die schlechtere Sache zur besseren zu machen, das Unabwendbare mit Glanz zu absolvieren, besser, als jeder andere an seiner Stelle es vermocht hätte. Was sein Entwurf einer »Wohnstatt Friedrichshain« von 1950 versprach, erfüllte das Hochhaus an der Weberwiese paradigmatisch, die Grenzen des Mach- und Bezahlbaren dienstfertig-boshaft auslotend. Trotz der erwartbaren Abstriche, besonders hochgeschraubte Material- und Präzisionsanforderungen betreffend, statuierte das Haus mit...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte DDR • DDR Vergangenheit • Die Ostdeutschen • Jana Hensel • Mentalität • Mentalitätsgeschichte • ostdeutsch • Ostdeutsche Gesellschaft • Ostdeutschland • Ost und West • Wer wir sind • Wolfgang Engler
ISBN-10 3-8412-1745-1 / 3841217451
ISBN-13 978-3-8412-1745-5 / 9783841217455
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