Die Gründerzeit (eBook)

Wie die Industrialisierung Deutschland veränderte - Ein SPIEGEL-Buch - Mit zahlreichen Abbildungen
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2019 | 1. Auflage
224 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-24392-0 (ISBN)

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Die Gründerzeit -
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Wie wir zur Wirtschaftsnation wurden
In Deutschland setzte die Industrialisierung spät ein - und verlief dafür umso rasanter. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden aus überschaubaren Manufakturen riesige Fabriken, Weltmarken wie AEG, BASF, Bosch, Krupp oder Siemens entstehen. Unternehmer werden so wichtig wie Politiker, Arbeiterführer zu mächtigen Männern. Die Bevölkerung wächst, der Lebensstandard auch, es gibt mehr Reiche, aber auch ein Millionenheer von Armen, und in der Mittelschicht bildet sich eine bürgerliche Kultur mit eigener Literatur und Architektur heraus. SPIEGEL-Autoren und Historiker zeigen im vorliegenden Buch, wie grundlegend sich Deutschland in der Gründerzeit wandelte - und wie wir dabei zu einer der erfolgreichsten Wirtschaftsnationen der Welt wurden.

Mensch oder Maschine?

Innerhalb weniger Jahrzehnte verwandelte sich Deutschland von einem Agrarland in einen Industriestaat. Nun gab die Technik den Takt vor.

Von Christoph Gunkel

Was für eine Idylle! Viel hatte Hermann Fürst von Pückler-Muskau auf seinen Europareisen schon gesehen. Doch in das Ruhrgebiet verliebte sich der adelige Schriftsteller sofort. Berauscht schrieb er 1826, diese Gegend sei »gemacht« für alle, die sich »vom Getümmel des Lebens in heitere Einsamkeit« zurückziehen wollten.

»Nicht sattsehen konnte ich mich an der saftig frischen Vegetation, den prachtvollen Eich- und Buchen-Wäldern. … Jedes Dorf umgibt ein Hain schön belaubter Bäume, und nichts übertrifft die Üppigkeit der Wiesen, durch welche sich die Ruhr in den seltsamsten Krümmungen schlängelt.« Ja, hier könne man auf angenehme Weise sterben.

Einige Jahrzehnte später war dieses Paradies fast verschwunden, nachdem die Industrialisierung von 1830 an auch die deutschen Staaten gepackt hatte. Hunderte Kilometer Eisenbahnschienen durchschnitten nun das Ruhrgebiet, das Pückler-Muskau noch beschaulich mit der Kutsche bereist hatte.

Kleine Orte hatten sich in lärmende Städte verwandelt, mit verdreckten Mietskasernen und hastig erbauten Werkssiedlungen für das wachsende Heer an Fabrik- und Zechenarbeitern. Ratternde Züge zerrissen die Stille und transportierten Berge von Kohle zu den qualmenden Hochöfen, in denen unaufhörlich Eisen hergestellt wurde – für noch mehr Schienen und Waggons.

Der Hunger nach Roheisen schien derart unersättlich, erinnerte sich später der Großindustrielle Leopold Hoesch, dass man in Dortmund »ein halbes Jahr ernsthaft diskutiert« habe, »ob überhaupt in der Welt genug Kohle und Koks vorhanden seien«.

Das Ruhrgebiet war zum Motor und Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland geworden. So jedenfalls sahen es die Optimisten, die glaubten, endlich sei man auf dem Weg zu dauerhaftem Wohlstand und Wachstum. Für andere hingegen war das Ruhrgebiet ein Menetekel der Verwerfungen einer ungezähmten Industrie.

»Hier ist der Mensch und seine Wohnung dem Wahn des Mehrverdienstes geopfert«, klagte etwa Schriftsteller Wilhelm Schäfer, als er in den 1880er-Jahren Oberhausen besuchte. »In trauriger Öde, zwischen Fabriken und Zechen eingeengt, ziehen die schwarzen Straßen zwischen schwarzen Häusern dahin. Der elende Ziegelbau mit rußig angelaufenem Zement scheint hier die einzige Bauart. Überall Schienen! Man kann es nicht begreifen, was all die Bahnen sollen.« Schäfer resümierte deprimiert: eine »Höllengegend«.

Nichts bewegte und spaltete die Deutschen zwischen 1830 und 1900 derart wie die radikalen Umbrüche der Industrialisierung und ihre dramatischen Folgen. Ganz nebenbei mussten die Deutschen in dieser Zeit noch Agrarkrisen und Hungersnöte überstehen, die Folgen der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848 verarbeiten und in drei Kriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich zur nationalen Einheit finden, die 1871 im Kaiserreich mündete.

Die Veränderungen durchzogen sämtliche Lebensbereiche, kaum etwas blieb, wie es war. Alte Sicherheiten gingen beinahe über Nacht verloren. Ebenso atemberaubend schnell öffneten sich neue Chancen für steile Karrieren. Verlierer und Gewinner des Wandels organisierten sich; die einen strömten in die wachsenden Arbeiterbewegungen, die anderen in Lobbyvereine der Unternehmer, um die Industrialisierung weiter anzufachen. Technikbegeisterte und Kulturpessimisten entwarfen völlig gegensätzliche Visionen, wie die Zukunft zu gestalten sei.

Da war etwa diese schier unbändige Kraft der Dampfmaschine, allen voran der Dampflok, die Zeitgenossen ebenso ängstigte wie faszinierte. Ein »Herkules in der Wiege« sei die Eisenbahn, jubelte 1838 Friedrich List, einer der glühendsten Bahnpioniere. Einmal entfesselt, werde diese Technik »Völker erlösen« – und zwar »von der Plage des Krieges, der Teuerung und Hungersnot«.

Und da waren die neuen, knallhart auf Effizienz getrimmten Fabriken. Sie bedrohten und vernichteten Handwerk und heimisches Kleingewerbe, lockten Bauern von den Feldern in die boomenden Städte, lösten eine Binnenwanderung von Millionen Menschen aus. Einer von ihnen war Carl Fischer: Als Tagelöhner irrte er seit den 1860er-Jahren durch das Land und hatte dennoch nie genug Geld. Irgendwann, in einem Moment der Schwäche, schlief er sogar betrunken ein auf einer der verhassten Bahnschienen, für die er sich kaputt geschunden hatte. Der Fortschritt drohte ihn zu zermalmen. Doch bevor der Zug ihn erfasste, wachte er auf.

Hinter den gegensätzlichen Biografien von List und Fischer standen die Schicksale von Millionen. Bevölkerungswachstum, Automatisierung, die ersehnte nationale Einheit – all das entwickelte eine gewaltige Kraft, die das Land wie in einem Strudel mitriss. »Die industrielle Revolution«, so brachte es der italienische Wirtschaftshistoriker Carlo Cipolla in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine kurze Formel, »verwandelte die Menschen von Bauern und Schafhirten in Betätiger von Maschinen, welche mit lebloser Energie angetrieben werden.«

Der Arbeiter wirkt winzig neben dem riesigen Maschinenteil (dem Ständer eines Drehstromgenerators). Die Aufnahme aus der Turbinenfabrik der AEG in Berlin-Moabit ist sinnbildlich für die neue Epoche (Foto um 1910).

Georg Büxenstein und Co./bpk

Diese leblose Energie steckte im Wasserdampf. 1769 hatte der schottische Tüftler James Watt die längst erfundene Dampfmaschine derart verbessert, dass sie deutlich energiesparender und günstiger arbeitete. Wie im 20. Jahrhundert die Digitalisierung Computer und Internet zu alles verändernder Leistungsfähigkeit brachte, wurde Watts Dampfmaschine zum Treibsatz des Wandels.

Dampf trieb fortan Maschinen, Schiffe und Loks an, förderte Kohle aus der Tiefe und ließ die Produktion in ungekannte Höhen schnellen. Allein zwischen 1850 und 1880 versechzigfachte sich der Bahngüterverkehr. Stellten die Baumwollspinnereien im Deutschen Bund 1845 etwa 13 000 Tonnen her, waren es 1870 schon 65 000 Tonnen. Im selben Zeitraum stieg die Produktion von Roheisen von 194 000 Tonnen auf 1,4 Millionen Tonnen.

Dampf machte aber auch den Menschen zum tumben Gehilfen. Die Arbeitsschritte wurden kleinteiliger. Nicht mehr Jahreszeiten und der Wechsel von Sonnenaufgang und -untergang, sondern allein die Maschinen gaben nun Arbeitsrhythmus und Tempo vor. »Die starke Arbeitsbeschleunigung passte eben den Leuten nicht«, notierte ein Meister in einer Siemens-Fabrik. Es habe ewig gedauert, bis sich ehemalige Handwerker damit abgefunden hätten, plötzlich zwei bis drei Maschinen zu bedienen.

Bald spaltete sich die Gesellschaft in jene, die Maschinen besaßen, und jene, die sie bedienten. Letztere seien lediglich »bloßes Zubehör der Maschine«, schrieben Karl Marx und Friedrich Engels 1848, da von ihnen »nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt« werde. Die Arbeit habe jeden selbstständigen Charakter und damit Reiz verloren.

Diese Entwertung der Arbeit war der Preis für rapide steigendes Wachstum und Wohlstand. Besonders die Schwerindustrie setzte immense Mengen an Kapital frei. Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat berechnet, dass allein zwischen 1871 und 1873 insgesamt 2,8 Milliarden Mark investiert wurden – und damit kaum weniger als in dem halben Jahrhundert zuvor. Hunderte neue Aktiengesellschaften entstanden. Auch die Zahl der Banken explodierte; 105 Geldhäuser gab es 1872 allein in Berlin.

Verwundert schrieb in diesem Jahr der rheinische Wirtschaftsmagnat Gustav Mevissen, es scheine so, als wollte sich »das Erwerbsleben des ganzen großen Deutschen Reichs … in eine riesenhafte AG verwandeln«. Der Schwager von Alfred Krupp ahnte bereits: Dieser »enorme Gründungsschwindel« müsse in einer »allgemeinen Geschäftskrisis« münden. Die Prognose sollte sich bewahrheiten: 1873 kam es zu einem internationalen Börsencrash, der Hunderte Unternehmen und Banken in den Abgrund riss und Milliarden Mark vernichtete.

Bis dahin aber erlebten die Deutschen einen derartigen Aufbruch, dass Historiker die Ära zwischen 1848 und 1873 später als »Gründerzeit« bezeichneten und die Boomjahre von 1871 bis 1873 als »Gründerjahre«. Denn neben all den Start-ups erlebten damals auch Kunst, Kultur und Architektur eine enorme Blüte: Prachtvolle Villen, Theater, Opern entstanden, kathedralenähnliche Bahnhöfe wurden entworfen.

Die neue Lebenswelt der Menschen wurde die Stadt. Während 1871 nur 4,8 Prozent der Menschen in Großstädten gelebt hatten, waren es 1900 in Deutschland bereits 16,2 Prozent; Berlin etwa explodierte zwischen 1800 und 1900 von 172 000 auf 1,9 Millionen Einwohner. In den urbanen Zentren gelang dem liberalen Bürgertum der soziale Aufstieg. Stolz ahmten manche Neureiche nun den Lebensstil des Adels nach.

Angst vor Veränderung auf der einen, ein fiebriger Enthusiasmus auf der anderen Seite: Das alles erinnert auch an die Umbrüche in unserer globalisierten, digitalisierten Welt. Die Hoffnungen und Sorgen der Menschen klingen frappierend ähnlich. Denn bei allem Jubel über die riesigen Chancen der Digitalisierung wächst auch heute das Unbehagen. Schon 1995 prophezeite der US-Ökonom Jeremy Rifkin das »Ende der Arbeit«; Computer und Roboter würden die Menschen verdrängen und die meisten Jobs in der Industrie vernichten.

Aktuelle, wenn auch umstrittene Studien scheinen das zu bestätigen: Die Beraterfirma PricewaterhouseCoopers etwa sagt bis 2030 den Wegfall von 35 Prozent...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2019
Zusatzinfo mit Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Arbeiterbewegung • Bismarck • eBooks • Eisenbahn • Geschichte • Gründerkrise • Kaiserreich • Karl Marx • Krupp • SPD • Stahlbarone • Wirtschaftsmacht
ISBN-10 3-641-24392-0 / 3641243920
ISBN-13 978-3-641-24392-0 / 9783641243920
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