Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand (eBook)

Texte aus der chinesischen Wirklichkeit

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
144 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491080-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand -  Liao Yiwu
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Bis heute wirken die Folgen des Massakers vom 4. Juni 1989 am Platz des Himmlischen Friedens in der chinesischen Wirklichkeit nach. Liao Yiwu versammelt dazu bislang unveröffentlichte Texte. Er schreibt über den bisher nicht identifizierten Mann, der sich allein, mit Einkaufstüten in den Händen, einem Konvoi von Panzern der Volksbefreiungsarmee in den Weg gestellt hat und damit zur Ikone des Widerstands wurde. Er erzählt von dem Leben seiner Knastbrüder und veröffentlicht erstmals Briefe, die er damals aus dem Gefängnis an seine Frau schrieb, ohne sie je abgeschickt zu haben.

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin. Hans Peter Hoffmann, Professor für Sinologie, freier Autor und Übersetzer, lehrt und schreibt in Tübingen und Taipeh.

Hier wird nichts dick aufgetragen – und das ist auch gar nicht nötig. Die Spucke bleibt einem bei dieser Innenansicht des autokratischen Chinas auch so weg.

Xu Wanping


(Gründung einer konterrevolutionären Organisation, dreimalige Verurteilung, insgesamt 23 Jahre)

Xu Wanping, aus dem Distrikt Dadukou von Chongqing, kleine, zarte Statur, geschwungene Augen, eingesunkener Mund, eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem lächelnden Fuchs. Er war noch völlig naturbelassen[6] und eigensinnig.

Xu war ursprünglich in einer staatlichen Druckerei ein gewissenhafter Arbeiter, seit drei Generationen, wie man in der Kulturrevolution sagte, »mit guten Wurzeln und roten Keimen«[7], typischer Proletarier. Wider Erwarten spielte der Himmel sein Spiel mit ihm und er geriet während der Studentenbewegung 1989 mit den Massen in die Politik der Straße, demonstrierte, rief Parolen und sang mit den anderen die »Internationale«: »Schon wallt das Blut heiß in den Adern, wir wollen kämpfen für Gerechtigkeit!«[8] Außerdem hatte er einen schwarzen Button an der Brust, auf dem stand: »Ich bin der Hurensohn Li Peng«, so stand er da, ließ sich von den anderen begaffen und einer gespielten Kampfkritik unterziehen. In seiner angespannten Haltung war er wie ein Fuchs, der mit scharlachroten Wangen Aktionskunst macht.

Der linke Dichter Liu Shahe erinnert sich, schon Ende Mai 1989 in seinem Haus in Chengdu vom Fenster aus die hitzigen Szenen auf den Straßen verfolgt zu haben, er fühlte sich in eine andere Welt versetzt, so plötzlich verschmolz die Szenerie mit den gewaltigen Massendemonstrationen des Sommers von 1948: »Es ging gegen eine andere Regierung, aber die Parolen und Plakate waren kaum anders, es drehte sich alles um den Kampf für Freiheit und Menschenrechte, Bestrafung von bürokratischen Machenschaften und Korruption«, seufzte er, »Geschichte und Wirklichkeit drehen sich wie ein Rad, nach ein paar Jahrzehnten ist alles wieder da.«

Xu war allerdings noch nicht halb so alt wie Liu Shahe und hatte noch viel weniger Erfahrung, weshalb er die patriotische Aufwallung unbedingt in eine Tat umsetzen musste. So wie das in Romanen beschrieben wird, nutzte er die Konfusion des Augenblicks und gründete die »Chinesische Aktionspartei«, wurde keine vierzehn Tage später verhaftet und bald darauf wegen Bildung einer konterrevolutionären Organisation und konterrevolutionärer Umtriebe zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Damals war das Massaker in Beijing bereits ein nicht mehr anzufechtendes Faktum, Blutgeruch lag in der Luft, die Märkte waren still, Hunderttausende begeisterter Massen waren wie die Vögel auseinandergestoben.

 

Im Winter 1992 wurde der verurteilte Lao Wei vom 2. Gefängnis der Provinz Sichuan in Chongqing nach Norden in das 3. Gefängnis im Kreis Dazhu verlegt, wo er über zwanzig Konterrevolutionäre des 4. Juni traf, unter denen Xu Wanping von der Statur her der kleinste war. Der frühere Universitätslehrer Hou Duoshu war ihm nicht unähnlich, aber seine Haut war dunkel und robust, ein offensichtlicher Kontrast zu dem körperlich eher schwächlichen Xu.

Dem war Sparsamkeit zur zweiten Natur geworden, oft hielt er einen großen Teebottich voll Zuckerwasser in Händen und fütterte sich selbst, in aller Seelenruhe, Löffel für Löffel, und mit erkennbarem Genuss. Da er gerade Gedichte und Prosa schreiben lernte, stand er mit Lao Wei auf gutem Fuß und lud ihn zu seinem Festmahl ein. Und obwohl Lao Wei Literat war, nannte er eine robuste Körperlichkeit und einen großen Magen sein Eigen und griff sich umstandslos den Bottich, hob ihn zum Himmel und gluckgluckgluck, er strich ein paar heruntergefallene Perlen des Zuckerwassers mit einer heroischen Geste beiseite und das Ding war leer. Xu hatte respektvoll und mit einem Lächeln abgewartet, bis er sagte: »Aber Bruder Wei, langsam, verschluck dich nicht!«

Dieser Schnappschuss brachte erst heute, so viele Jahre später, Lao Wei ein wenig Geschmack in den Mund. Bei den Xus war man arm wie die Kirchenmäuse, der Vater früh verstorben, der Mutter in Rente reichte der Lohn gerade so fürs Überleben. Per Zufall erreichten ihn zwanzig, dreißig Yuan Kleingeld im Gefängnis und beruhigten ein wenig das hungrige Grummeln im Bauch des pietätlosen Sohns.

Xu war von einem starken revolutionären Geist erfüllt, im Gefängnis beteiligte er sich an Arbeits- und Hungerstreiks und ähnlichen illegalen Aktivitäten, wurde vielfach bestraft und in eine Zelle gesperrt, die klein war wie eine Hundehütte. Außerdem ging er als Vertreter der konterrevolutionären Gemeinde ins Büro im ersten Stock, hatte noch kein Wort gesagt, als er sich schon auf dem Boden wiederfand, zusammengebunden zu einem Fleischklumpen, aus dem sein Fuchsgesicht hervorblühte. Da nun die Zunge seine einzige Waffe war, machte er klar, dass er die Mütter und Großmütter der Verwaltungsleute ficken werde, woraus man ersehen kann, dass seine Kampfkunst in diesem Bereich kein besonders hohes Niveau erreicht hatte.

1997 hatte Xu seine Strafe verbüßt und wurde freigelassen, er lebte ohne festen Halt, mit Gedichten und Texten unter dem Arm suchte er Schutz bei Lao Wei, der nur ein paar hundert Meilen weg wohnte und vollkommen pleite war, quartierte sich für den Rest des Monats im Teehaus von Weis Mutter ein und war, was vor allem die älteren Gäste sehr zu schätzen wussten, ausgesprochen aufmerksam und hilfsbereit. Doch die Einkünfte aus dem Teehaus waren mager, Xu verdiente nicht genug zum Essen und seine Mahlzeiten wurden von Tag zu Tag karger. Dennoch arbeitete sich Xu in dieser Zeit durch einen Berg von Büchern, lud von überall her Freunde ein, ließ sein literarisches Talent sehen, sprudelte vor Ideen, und Erfolg und Ruhm schwellten sein unterernährtes Gesicht.

Im folgenden Herbst, es war das Jahr 1998, wurde Xu zum Aktivisten der »Demokratischen Partei Chinas« und fuhr in der aufgeheizten Stimmung zum zweiten Mal ein, die Anklage lautete auf »Umsturz«. Dieses Mal schien der Polizei von Chongqing das ganze juristische Verfahren zu umständlich und man schickte ihn ohne weitere Fisimatenten direkt zur Umerziehung durch Arbeit für drei Jahre in das Lager von Xishanping. Am Abend eines Herbsttages im Jahr 2001 bekam Lao Wei einen Anruf von Xu, sein Atem war schwach und von Husten unterbrochen. Er sagte, Xishanping sei der schlimmste Ort auf Gottes Erde und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre da nicht wieder lebendig herausgekommen. Lao Wei betrübte das so sehr, dass er vergaß, etwas zu sagen. Xu erzählte weiter, dort säße verdorbenes Volk: Betrüger und Diebe und außerdem Falun-Gong-Anhänger, und da mittendrin er, nicht einen einzigen Kampfgenossen habe er gehabt.

Du musst deine Erlebnisse festhalten, unterbrach ihn Lao Wei schließlich.

Sie haben mich gebrochen, keuchte Xu. Wenn ich einen Stift in die Hand nehme, fängt mir der Kopf an zu brummen.

 

Sein Leben war wie ein Messer in der Brust, mit den Menschenrechten hatte er nicht das Brot über Nacht. Dem schlimm zugerichteten Xu blieb nichts anderes übrig, er musste seine Prinzipien aufgeben und sich einordnen in den mächtigen Strom der Mehrzahl der Chinesen, die sich das Geld für ihren mageren Lebensunterhalt zusammenverdienen. Er war fliegender Händler, er war Standwache und auf seiner Karte trug er den Titel: »Business Manager«. Am Vorabend der SARS-Epidemie hatte er schließlich mit den 500 Dollar von Liu Qings »Human Rights China« mit einem Leidensgenossen namens Jiang Shihua einen Nudelladen aufgemacht. Dem Vernehmen nach hatte sich sein ehemals trostloses Leben sehr verbessert und er fasste allmählich wieder Vertrauen.

Als Lao Wei das hörte, schlug er sich vor Freude an die Stirn. Da kam aus heiterem Himmel SARS, wütete wie ein wildes Tier und zwang die Menschen in ausweglose Situationen, es herrschte eine irre Hitze und die Straßen waren voller Mundschutze. Die Restaurationsbetriebe machten herbe Verluste, von heute auf morgen wurden auf Anordnung der Regierung Xus Nudelladen und die Nudelläden von Zhang, Wang und wie sie alle hießen geschlossen.

Xu verlor sein Familienvermögen und seine gesamten Investitionen. In einem Augenblick der Verzweiflung ging er zur Polizei, um zu protestieren und auf sein Existenzrecht zu pochen, aber ohne Erfolg. Er führte ein R-Gespräch mit Übersee, verfluchte ohne ersichtlichen Grund irgendwen, mit dem Blut der Demokratiebewegung getränkte Dampfbrötchen zu fressen, was nichts anderes bedeutete, als dass er endgültig alle Brücken hinter sich abbrach. Eines Abends dann telefonierte Xu mit Lao Wei und erzählte ihm, er komme in ein paar Minuten am Beimen-Bahnhof in Chengdu an. Nachdem Lao Wei ihm den Weg genau beschrieben hatte, legte er auf und wartete bis spät in die Nacht, aber es geschah nichts mehr.

Der verrückte Hund hat sich doch hoffentlich nicht von den Bullen erwischen lassen? Lao Wei lag auf dem Bett, konnte sich darauf aber keine Antwort geben und glitt vage ins Land der Träume ab.

 

Auf diese Weise schlug sich Xu mehr schlecht als recht bis zum 15. Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens durch und, ein wirklich himmelgroßes Wunder, hat schließlich sogar geheiratet. Auf jeden Fall war er in stabilen Verhältnissen, was Lao Wei mit tiefer Bewegung hörte. Er meinte sich vage zu erinnern, dass auch die Braut eine freigesetzte, also arbeitslose Arbeiterin war – und beide in vollem Maß die besonderen Merkmale eines proletarischen Haushalts, wie Marx sie zusammengefasst hatte, in sich vereinten.

Sporadisch erschienen im Internet...

Erscheint lt. Verlag 22.5.2019
Übersetzer Hans Peter Hoffmann
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Briefe • China • Gedichte • Gefängnis • Jahrestag • Knastbrüder • Liu Xia • Liu Xiaobo • Massaker • Platz des Himmlischen Friedens • Tank Man • Tian'anmen-Platz • Unknown Rebell • Volksbefreiungs-Armee • Wang Weilin
ISBN-10 3-10-491080-4 / 3104910804
ISBN-13 978-3-10-491080-2 / 9783104910802
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