Phänomenologische Schriften (eBook)

1981-1988

(Autor)

Nicola Zambon (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
550 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75935-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Phänomenologische Schriften -  Hans Blumenberg
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Am 27. April 1988, dem 50. Todestag Edmund Husserls, notiert Hans Blumenberg: »Das nun überhastet zu Ende gehende Jahrhundert wird im Rückblick von Philosophiehistorikern als ?Jahrhundert? der Phänomenologie bezeichnet werden.« Diese Prognose ist auch ein Hinweis auf das eigene philosophische Vermächtnis: eine phänomenologische Anthropologie, wie sie Blumenberg in lebenslanger Auseinandersetzung mit der Philosophie Husserls entwickelt hat. Eine höchst produktive Phase dieser Auseinandersetzung setzt Anfang der 1980er Jahre ein, nachdem Blumenberg seine großen Studien zu Metaphern und Mythen zum Abschluss gebracht hat und beginnt, sich intensiv anthropologischen Fragen zu widmen.

Die Schriften in diesem Band, die allesamt zum ersten Mal publiziert werden, dokumentieren diese Phase in umfassender Weise. Zwei große Themen lassen sich erkennen: zum einen Blumenbergs stetige Verfeinerung von Husserls Methode, zum anderen die Entwicklung einer phänomenologisch grundierten Beschreibung des Menschen, die, wie wir heute wissen, in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht.



<p>Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ?Halbjude?. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation <em>Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie</em> an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie <em>Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls</em>. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.</p>

Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ›Halbjude‹. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«. Nicola Zambon, geboren 1983, hat über Hans Blumenberg promoviert und ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin.

II

15Das Bewußtsein als Selbstreparaturbetrieb


I.


Eine der berüchtigtsten Examensfragen über Kant — zugleich eine der brauchbarsten, um Kenntnisse erkennen zu lassen — ist die, wer denn in der »Kritik der reinen Vernunft« eigentlich wen kritisiere. Die Antwort darf auf die Doppeldeutigkeit des Genetivs gestützt sein, sich aber nicht darin erschöpfen. Denn diese beim Wort genommene Selbstspaltung der Vernunft, zum Objekt und Subjekt der Kritik, steigert eher den destruktiven Anschein des ganzen Unternehmens, eine subtile Paradoxie zu sein, die die Vernunft genau das tun läßt, was sich zu verbieten geradezu ihr Wesen ausmachen sollte.

Die Kritik der Vernunft an der Vernunft ist nicht nur ein diagnostisches Unternehmen, nicht nur eine prophylaktische Verwarnung wegen Grenzüberschreitung und vor weiteren solchen — sie ist auch von therapeutischem Pathos: Selbstheilung der Vernunft. Die allzu kurz geratene ›Methodenlehre‹ der ersten Kritik wirkt wie ein pflichtschuldiger Appendix und darf es doch nicht sein. Sie arbeitet mit der Suggestivität quantitativer Mißverhältnisse auf jene Verkennung der dem Asklepios geweihten Gesinnung des Werkes hin, eher die Unerbittlichkeit der Vernunft weiter zu erhärten, als ihr Wesen in ihrer Regenerationsfähigkeit sehen zu lassen. Kritik der Vernunft heißt, sie reif und kräftig zur Selbstreparatur ihrer Selbstdepravation zu machen. 

Die Vernunft ist nach ihrer schulgerechten Bestimmung das Vermögen der Widerspruchsfreiheit. Als solche legt sie ihr Regelwerk in der Disziplin der Logik auseinander und ordnet es. Vermögen der Widerspruchsfreiheit bleibt die Vernunft auch in ihrer Kritik im Doppelsinn. Sie wird es sogar in potenzierter Weise: Die Widersprüche, mit deren Vermeidung sie es als ›kritische‹ zu tun hat, sind die von ihr selbst hergestellten — und zwar nicht faktisch irrend hergestellten, sondern kraft der ›Vernünftigkeit‹ ihrer letzten Ansprüche unvermiedenen, wenn nicht unvermeidlichen.

16Die Dialektik der reinen Vernunft ist die Disziplin ihrer ›wesensgemäßen‹ Irrtümer, die sich ihr anzeigen mit dem einzigen Indikator, den sie gelten läßt und ernst zu nehmen hat: mit dem Widerspruch. Er ist als Verstoß der Vernunft gegen die von ihr geschuldete Qualität ihrer Resultate nichts Geringeres als Selbstzerstörung. Mit schönster Konsequenz erzwingt dann die Kritik der Vernunft an der Vernunft, anhand der Indikationen ihrer Dialektik, nichts Geringeres als ihre Selbsterhaltung. Der Weg von jener Drohung zu dieser Medikation ist Anwendung von Reparaturmitteln der äußersten Ökonomie, der minimalen Nebenfolgen, der erleidbarsten Verluste an Besitztümern, die vorerst noch unentbehrlich erscheinen, ein anderes Mal aber zum Preis der wahren Freiheit werden.

Eine der Amputationen am ehrwürdigsten Besitzstand des Erkenntnisideals ist das Zugeständnis, daß es der Verstand bei den Gegenständen der Erfahrung, mit der ganzen ›Natur‹ also, nur mit ›Erscheinungen‹ zu tun habe. Jede Gegenwehr gegen diesen chirurgischen Eingriff birgt die tödliche Gefahr in sich, in die Antinomien eines Weltbegriffes zu geraten, der die Welt das ›Ding an sich‹ sein zu lassen verlangt.

Der phänomenologische Leser der »Kritik der reinen Vernunft« teilt in einer Hinsicht Kants operativen Eingriff: Daß das uns Gegebene ›Erscheinung‹ ist, erspart auch ihm eine lange Wegstrecke erkenntnistheoretischer Verwicklungen, von denen er sicher ist, daß sie in einer Sackgasse enden. Doch macht der Phänomenologe, seinem Namen gerecht werdend, nicht mit, daß dem Heilmittel der ›Erscheinungen‹ das Wörtchen ›nur‹ vorangesetzt wird. Was sollten sie sonst sein? Was sonst, wenn schon das Cogito, jene unmittelbarste und schlechthin evidente Selbstgegebenheit und der Maßstab aller anderen, klar und deutlich ein ›Phänomen‹ ist. Beweis: Es ist beschreibbar wie jedes andere, obwohl unfehlbarer als jedes andere. Daraus folgt, was auch Kant mit dem ›nur‹ versehen gesagt hatte: das Subjekt ist sich selbst als ›Erscheinung‹ gegeben — Kant: die innere Erfahrung hat nicht andere Erscheinungen zu ihrem Gegenstand als die äußere. Auch sie kann sich so wenig wie die äußere mit den Antinomien ihrer kosmologischen Exekution die Widersprüche aus der Hypostasierung ihres Gegenstandes leisten, die in der Dialektik als ›Paralogismen‹ rubriziert sind.

Was für den Phänomenologen bei seiner Kantlektüre Verdacht erregt, 17ist die eigentümliche Tatsache, daß die Vernunft als unkritisierte sich bis auf Kant doch all das ›geleistet‹ hat, was sie sich nicht hätte leisten dürfen, ohne sich selbst zu zerstören, am Widerspruch zu scheitern. Die ›Kritik‹ der Vernunft an der Vernunft ist ein geschichtliches Faktum. Anders gesagt: Ohne den Glücksfall Kant hätte sie ausbleiben können (womit nicht gesagt sein darf, daß nicht auch ein anderer die Bereinigung hätte vornehmen können). Dieser verblüffende Sachverhalt der nicht nur ›wild‹, sondern in philosophischer Manier und Zucht überlebenden Vernunft bei ständiger impliziter Produktion der ihr höchst eigentümlichen Dialektik — also des Ferments ihrer Selbstzerstörung —, dieser Sachverhalt findet implizite schon im Titel der ersten ›Kritik‹ und seinem Doppelsinn eine ungesuchte, obgleich ›mitgelieferte‹ Erklärung. Bedroht von toxischer Eigenproduktion an Antinomien und Paralogismen ist die kritisierte Vernunft, nicht die kritisierende. Diese ist eine sich im Zuge der Aufklärung — vermutungsweise: des entdeckten Cogito — erhebende, selbstdefinierte, selbstkonstituierte Instanz: das Subjekt der Kritik, die Vernunft als dieses. Alles, was fatal hätte werden können, das Potential der Selbstzerstörung, liegt nun ›unter ihr‹, ist der Wildwuchs der Vernunft als ihres Objekts. Die Vernunft als nunmehr kritisch gewordenes Subjekt sieht sich selbst als dem, was sie schon immer unkritisch gewesen ist, zu und gibt ihr eine neue heilsame Disziplin, die es ihr gestatten soll und gestatten wird, sich in Preisgabe des Doppelsinns im Genetiv ›Kritik der Vernunft‹ wieder mit der disziplinierten, also endgültig ›vernünftig gewordenen‹ Vernunft zu vereinigen, obwohl die Kritik klarstellt, daß Ideale der reinen Vernunft dann definitiv unerreichbar, obwohl als solche fortbestehend, inhärent bleiben.

Da liegt die Differenz, die sich der Phänomenologe nicht ersparen kann. Indem sie an der Strenge des Evidenzideals festhält, überträgt sie es auf ihre ›Erscheinungen‹ und macht die Differenz von Subjekt und Objekt in der Vernunft selbst unmöglich (obwohl das reflektierende Subjekt dem reflektierten in gefährlicher Ähnlichkeit zugeordnet ist). Anders ausgedrückt: In der Phänomenologie gibt es keine Dialektik der Vernunft. Was in Widersprüche führt, liegt außerhalb jeder Selbstinduktion der Vernunft als des Subjekts; es dürfte auch gar nicht in diesem liegen, weil nun jeder Bruch im Selbstvollzug des Subjekts strikt letal 18wäre — also auch vor jeder Kritik, vor jeder Philosophie, in aller Geschichte, bei jeder Gattung von Subjekten, immer schon und überall tödlich gewesen wäre. Die Gnadenfrist der Geschichte vor der Phänomenologie gibt es nicht.

Dann aber folgt, daß die Vernunft, soweit sie von Zerstörung bedroht ist, immer schon und wesentlich die Apotropaia gegen jene schon enthält, vielleicht nichts anderes ist als deren Inbegriff. Immanent ist der Vernunft also nicht der Vollständigkeits- und Erklärungszwang ihrer Dialektik, wie bei Kant, sondern das Instrumentarium zur Reparatur des Unvermiedenen. Die zwar nicht harmlose, aber doch bei Unterwerfung auskömmliche Symbiose von kritischer und kritisierter Vernunft bei Kant ist phänomenologisch durch Ausschluß des Duals gar nicht das Problem; wäre es jedoch ...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Anthropologie • Husserl • Philosophie
ISBN-10 3-518-75935-3 / 3518759353
ISBN-13 978-3-518-75935-6 / 9783518759356
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