Von Netzwerken zu Märkten (eBook)

Die Entstehung eines globalen Getreidemarktes
eBook Download: PDF
2019 | 1. Auflage
350 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43975-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von Netzwerken zu Märkten -  Martin Bühler
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Globale Märkte werden von den einen gelobt, von den anderen verteufelt. Doch wie sind sie entstanden und wie lassen sie sich soziologisch untersuchen? Dieses Buch zeigt sowohl an modernen als auch an vormodernen Getreidemärkten, wie sich eine Konkurrenz verschiedener Angebote einstellen konnte. Vergleichspraktiken und Publikumsimaginationen haben sich historisch derart verändert, dass während des 19. Jahrhunderts Handelsnetzwerke von globalen Beobachtungshorizonten überlagert wurden und die Kaufleute zunehmend mit einem globalen Markt rechnen mussten.

Martin Bühler, Dr. phil., ist Visiting Scholar am Department of Sociology der London School of Economics and Political Science.

Martin Bühler, Dr. phil., ist Visiting Scholar am Department of Sociology der London School of Economics and Political Science.

Inhalt
1.Einleitung 7
2.Eine historische Soziologie globaler Märkte15
2.1Märkte: Von der Vermeidung und Entstehung von Konkurrenz16
2.2Globalität: Von weltweiter Verteilung und globaler Beobachtung31
2.3Geschichte: Von evolutionären Voraussetzungen und diskontinuierlichen Phänomenen36
3.Die lokalen Getreidemärkte um 180045
3.1Sensorische Urteile, Herkunft und Naturalgewichte52
3.2Preiskuranten und Korrespondenznetzwerke65
3.3Der Markt als Interaktion und die lokale Öffentlichkeit79
3.4Die Globalisierungsschwellen von Getreidemärkten91
4.Der globale Getreidemarkt um 1900103
4.1Der Vergleich der Getreideangebote um 1900107
4.2Kaufmannshandbücher, Telegraphie und Zeitschriften119
4.3Der Markt als Vergleichshorizont und die weltweite Öffentlichkeit133
4.4Die überwundenen Globalisierungsschwellen147
5.Fazit: Von Handelsnetzwerken zu globalen Märkten155
Abbildungen173
Literatur175
Dank195

1. Einleitung Im noch jungen 20. Jahrhundert blickten John Hubback und George Broomhall, zwei prominente Getreidehändler aus Liverpool, auf ihre langen Händlerkarrieren zurück und konstatierten, dass sich die Getreidemärkte in einem Zeitraum von wenigen Jahrzehnten entscheidend verändert hätten: »Within the period of one lifetime the grain trade of Britain has undergone such vital changes that our predecessors would be quite at a loss if it were possible for them to revisit Brunswick Street« (Broomhall/Hubback 1930: i). Ihre unmittelbaren Vorgänger, so führten sie weiter aus, könnten höchstens noch als Zuschauer und in oberflächlicher Weise die neuen Entwicklungen registrieren, eine Teilnahme am Markt sei jedoch ausgeschlossen. Denn die modernen Bedingungen des Handels würden nicht mehr zu jenen passen, die in ihrer Zeit erfolgreich gewesen seien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts habe der Markt noch auf einem Platz vor dem Stadthaus stattgefunden, und das Getreide sei offen ausliegend angeboten worden. Broomhall und Hubback betonen darüber hinaus, dass damals noch keine der unzähligen Handelsnachrichten, Statistiken oder Ernteberichte angeschlagen wurden, die in ihrer Gegenwart die Wände des ?News Rooms? zu füllen und die Aufmerksamkeit der Händler auf sich zu ziehen begannen (ebd.: 1-15). Diese Veränderungen wurden jedoch nicht nur in England bemerkt, sondern zur selben Zeit auch an anderen Orten registriert. Ein amerikanischer Staatssekretär hielt 1903 erstaunt fest, dass auf dem Marktplatz von Nikolaev im Russischen Reich sogar einfache Getreidebauern den telegraphisch übermittelten Preis aus Amerika zur Basis ihrer Angebote nehmen würden - etwas, das vor wenigen Jahren noch kaum denkbar gewesen sei (siehe Goodwin/Grennes 1998: 408). Otto Jöhlinger (1910: 317), ein ehemaliger Getreidehändler, beobachtete Ähnliches bei den Händlern in Berlin. Diese würden den Preis aus Chicago sogar dann zur Grundlage nehmen, auch wenn sie kaum Getreide aus den Vereinigten Staaten importierten. Der Müllerfachmann Emerich Pekár (1882: 260) beobachtete die Transformation der Getreidemärkte von Budapest aus. Auch er betonte die enorme Geschwindigkeit, mit der aktuelle Preise aus Übersee eintrafen, doch sei ebenso die telegraphische Übermittlung der Getreidegattung für die neuen Verhältnisse mitentscheidend. Denn nun könne, so Max Roscher, ein weiterer Beobachter der neuen Verhältnisse, »die persönliche Anwesenheit beim Abschluss von Tauschgeschäften allgemeiner und unbedenklicher als bisher fortfallen« (Roscher 1911: 157f.). Kurt Wiedenfeld, ein weiterer Zeitgenosse dieser Umbrüche, brachte die Beobachtungen auf den Punkt: Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hätte sich auf globalem Niveau eine Situation eingestellt, wie sie ehemals auf dem lokalen Marktplatz herrschte: »Infolgedessen steht - ähnlich wie auf dem städtischen Wochenmarkt stets die eine Ecke weiß, unter welchen Bedingungen in der gegenüberliegenden Ecke gehandelt wird - der moderne Getreidehandel an jeder einzelnen Stelle unter dem Einfluss von Faktoren, die an ganz anderer Stelle entsprungen sind [...]. Der Welthandel«, so fasste der Nationalökonom Wiedenfeld diese Transformation zusammen, »hat sich zum Weltmarkt verdichtet« (Wiedenfeld 1929: 310). Fragestellung und analytische Perspektiven Diese historischen Szenen und die zunächst tautologisch anmutende These von Kurt Wiedenfeld nehme ich zum Ausgangspunkt dieser soziologischen Studie. Ich stelle die Frage ins Zentrum, welche Veränderungen dazu geführt haben, dass ein globaler Markt entstehen konnte. Diesen makrosoziologischen Transformationsprozess nehme ich aus einer mikrohistorischen Perspektive in den Blick und analysiere ihn anhand einer Fallstudie zu Getreidemärkten im Zeitraum des späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dabei soll der Schwerpunkt darauf liegen, wie die Veränderung von Evaluationspraktiken und die Einschätzung von medial vermittelter Marktinformation im Laufe des 19. Jahrhunderts zu veränderten Erwartungen darüber geführt hatten, wer als Marktteilnehmerin oder -teilnehmer und damit als mögliche Konkurrentin oder Konkurrent berücksichtigt werden musste. Es ist aufzuzeigen, wie auf der Basis der verfügbaren Marktpraktiken, der damals herrschenden medialen Situation und der darauf aufbauenden Interpretation der Akteure neue Vorstellungen darüber entstanden sind, wo die räumlichen Grenzen von Märkten liegen. Während auf den Getreidemarktplätzen des 18. Jahrhunderts noch hauptsächlich die anderen Anwesenden als Konkurrentinnen und Konkurrenten betrachtet wurden, schien man seit dem späten 19. Jahrhundert plausibel davon auszugehen, dass der Kreis der Marktteilnehmerinnen und -teilnehmer eine weltweite Ausdehnung angenommen hatte. Die Marktöffentlichkeit hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts demnach über die Grenzen des lokalen Marktplatzes hinaus ins Globale ausgedehnt. Dabei wurde der Raum jedoch nicht obsolet oder irrelevant, ganz im Gegenteil: Angebote wurden nach wie vor an konkreten, lokalisierbaren Orten unterbreitet, Informationen mussten noch immer Distanzen überbrücken, und die anderen - mitunter auch imaginierten - Konkurrenten befanden sich an bestimmten Marktplätzen, weshalb man gut daran zu tun schien, sich über die weltweiten Geschäftsgänge auf dem Laufenden zu halten. Globale wirtschaftliche Zusammenhänge sind etablierte Gegenstände der soziologischen wie auch der historischen Forschung. Die soziologische Analyse, wie globale Märkte entstehen, scheint jedoch im Vergleich zur Prominenz des Gegenstandes vernachlässigt. Indem in dieser Studie einerseits nach der Entstehung von Märkten und andererseits nach der Herausbildung von globalen Zusammenhängen gefragt wird, verbinde ich eine zentrale Fragestellung aus der Wirtschaftssoziologie mit dem Erkenntnisinteresse der soziologischen Globalisierungsforschung. Das vorliegende Buch nimmt aktuelle Einsichten dieser soziologischen Forschungsrichtungen zum Ausgangspunkt und entwickelt am historischen Fallbeispiel der Getreidemärkte eine neue Perspektive auf das Entstehen von globalen Märkten. Es soll deshalb sowohl einen Beitrag zur Wirtschaftssoziologie wie auch zur soziologischen Globalisierungsforschung darstellen und Anregungen für historisch interessierte Leserinnen und Leser bereithalten. Stärker, als dies in der Marktsoziologie bisher getan wurde, beschreibe ich Märkte konsequent als auskristallisierte Konkurrenzsituationen. Komplementär zu etablierten Forschungsrichtungen der Wirtschaftssoziologie richte ich deshalb das Augenmerk nicht in erster Linie darauf, wie Konkurrenz durch sozio-kulturelle Maßnahmen vermieden werden kann, sondern darauf, wie Konkurrenz erst entsteht. Dazu soll an die von Georg Simmel vorgeschlagene und in der aktuellen Marktsoziologie wieder aufgenommene Unterscheidung von Handel und Markt beziehungsweise von Transaktion und Konkurrenz angeschlossen werden. Nach dieser Vorstellung entstehen Konkurrenzsituationen dann, wenn auf der Seite der Anbieter oder der Abnehmer mindestens zwei Parteien um die Tauschchance mit der anderen Seite wetteifern (siehe dazu Kapitel 2.1 des vorliegenden Buches). Diese wirtschaftssoziologische Perspektive wird mit Überlegungen aus der soziologischen Beschäftigung mit Vergleichsmechanismen und deren Beitrag zu Globalisierungsprozessen kombiniert. Die Entstehung von weltweiten Strukturen lässt sich nicht hinreichend als Steigerung von kommunikations- und transporttechnologischer Vernetzung beschreiben, sondern es sollten auch kulturelle Deutungs- und Aneignungsprozesse bei deren Analyse berücksichtigt werden. In der vorliegenden Studie schließe ich deshalb an die These an, dass das Entstehen weltweiter Beobachtungs- und Vergleichszusammenhänge eigenständige Globalisierungsmechanismen darstellen (siehe dazu Kapitel 2.2). Am Fall der Getreidemärkte wird in einer mikrohistorischen Perspektive gezeigt, wie translokale Beobachtung und der überregionale Vergleich von wirtschaftlichen Angeboten möglich wurden und wie die Marktteilnehmer zunehmend mit einer weltweiten Marktöffentlichkeit und mit Bedingungen von globaler Konkurrenz rechnen mussten (Kapitel 3 und 4). Aus der Diskussion dieser beiden Forschungsstränge gewinne ich drei analytische Teilfragen, die die historische Fallstudie organisieren: Erstens wird dabei gefragt, wie Angebote als vergleichbar betrachtet wurden und wie die Marktteilnehmer diese Angebote miteinander vergleichen konnten. Durch den Vergleich werden Getreideangebote zueinander in Beziehung gesetzt und dadurch als konkurrierende Angebote erkennbar. Zweitens ist der Frage nachzuspüren, wie die Getreidenagebote mitgeteilt beziehungsweise wie potentielle Abnehmer erreicht werden konnten und welche weiteren Marktnachrichten den Marktteilnehmerinnen und -teilnehmern zur Beurteilung der Angebote zur Verfügung standen. Drittens frage ich nach der Konstitution einer Marktöffentlichkeit, die gleichzeitig Vorstellungen darüber hervorbringt, wer als Marktteilnehmerin oder -teilnehmer in Betracht gezogen werden muss. Diese Frage verdichtet sich zur zentralen These, nach der globale Märkte dann entstehen, wenn die beteiligten Marktakteure davon ausgehen, dass sich ein weltweites Marktpublikum für konkurrierende Angebote herausgebildet hat (siehe dazu Kapitel 2.3).

Erscheint lt. Verlag 15.5.2019
Reihe/Serie Studien zur Weltgesellschaft/World Society Studies
Studien zur Weltgesellschaft/World Society Studies
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte Getreide • Globale Märkte • Globalgeschichte • Handel • Märkte • Martgeschichte • open access • Weltgesellschaft • Wirtschaftssoziologie
ISBN-10 3-593-43975-1 / 3593439751
ISBN-13 978-3-593-43975-4 / 9783593439754
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