Körperführung (eBook)

Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport

Stefan Scholl (Herausgeber)

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2018 | 1. Auflage
335 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43882-5 (ISBN)

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Körperführung -
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Sport und körperliche Bewegung sind heute tief in die Lebensführung einzelner Menschen wie auch ganzer Bevölkerungsgruppen integriert. Das Streben nach Fitness ist ein Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaften, das Identifikationsraster bereitstellt und Inklusionswie auch Exklusionseffekte zeitigt. Der vorliegende Band geht diesen Phänomenen in historischer Perspektive nach. Erstmals wird dazu das von Michel Foucault geprägte Paradigma der Biopolitik - eine 'moderne' Machtform, in der die Regulierung des individuellen wie kollektiven 'Lebens' ins Zentrum politischer Strategien rückt - systematisch auf sporthistorische Untersuchungsgegenstände bezogen.

Stefan Scholl, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Siegen.

Stefan Scholl, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Siegen.

Inhalt
Einleitung: Biopolitik und Sport in historischer Perspektive 7
Stefan Scholl
Sich in Form bringen: Historische Aspekte der körperlichen (Selbst-)Verbesserung im und durch Sport seit 1900 41
Rudolf Müllner
"The Great Question of the Day": Die Gesundheit der Bevölkerung und das Aufkommen der Zuschauersportarten in Großbritannien um 1900 71
Angela Schwarz
"A man of your years shouldn't expect to be able to do those things" - Älter werden in Bernarr Macfaddens Physical Culture-Welt 99
Olaf Stieglitz
Therapie der Minderleistung: Sport und Anlagepflege in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 131
Michael Hau
"Turne!" Bewegungsdiskurse in Werkszeitschriften während des Nationalsozialismus 153
Diana Wendland
Zwischen Gesundheitsprävention und Doping - Sportmedizin als biopolitische Interventionstechnik in der DDR 177
Lukas Rehmann
Sport in der Bio-Macht - eine Analyse unterschiedlicher Elemente
des Sports in der DDR im Lichte der Theorien Michel Foucaults 209
Kai Reinhart
Europäische Biopolitik? Das Sport-für-alle-Paradigma des Europarats in den 1960er und 1970er Jahren 243
Stefan Scholl
Zwischen Gesundheit und Schönheit: Fitness als biopolitische Praktik zur Modellierung des Körpers in bundesrepublikanischen Gesundheitspublikationen der 1970er und 1980er Jahre 265
Pierre Pfütsch
"Go for the burn!" - Jane Fondas Aerobic-Videos und die Entstehung des aerobic body 291
Melanie Woitas
Dopingpolitik und Biomacht 313
Sandra Günter
Autorinnen und Autoren 334

Einleitung: Biopolitik und Sport in historischer Perspektive Stefan Scholl Regelmäßiges Sporttreiben gehört für eine immer weiter steigende Zahl von Menschen fest zum alltäglichen Leben. Dabei werden die traditionellen Sportverbände - die mitgliederstärksten sind der Deutsche Fußballbund (etwas über 7 Millionen Mitglieder im Jahr 2017) und der Deutsche Turnerbund (knapp 5 Millionen Mitglieder im Jahr 2017) - mittlerweile von den kommerziellen Fitnessstudios überholt, in denen Ende 2016 knapp über 10 Millionen Menschen angemeldet waren. Neue Trends weisen einerseits in Richtung sogenannter Mikrostudios, die auf kleiner Fläche eine enge Trainingsbetreuung garantieren, andererseits in Richtung digitaler Selbstkontrolle des eigenen, individuellen Sporttreibens. Für die eigene Initiative, sich körperlich-sportlich zu betätigen, wird auch kräftig geworben: Neben die auflagenstarken Fitness- und Lifestyle-Magazine wie Women's Health, Men's Health, Shape oder Fit for fun sind zahlreiche Profile und Kanäle in den digitalen sozialen Medien getreten, die ein Millionenpublikum erreichen. Doch nicht nur einzelne Fitnessstars und kommerzielle Anbieter versprechen durch ihre Programme und Angebote flache Bäuche, Muskelberge oder ein gesteigertes körperliches und geistiges Wohlbefinden. Auch viele Krankenkassen regen durch ein Prämiensystem zur Wahrnehmung von Sportangeboten an. Im Jahr 2008 starteten das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (damals noch mit dem Zusatz Verbraucherschutz) und das Bundesministerium für Gesundheit die Kampagne 'InForm. Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung'. Ein seitdem laufender 'Nationaler Aktionsplan' formuliert das Ziel, 'dass Kinder gesünder aufwachsen, Erwachsene gesünder leben und dass Alle von einer höheren Lebensqualität und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit profitieren. [...] Es werden Strategien und Maßnahmen entwickelt, die das individuelle Verhalten einbeziehen und die regionale und nationale Ebene berücksichtigen. Es werden Strukturen geschaffen, die es Menschen ermöglichen, einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu führen.' Teil der Maßnahmen ist unter anderem ein 'Rezept für Bewegung', das vom Deutschen Olympischen Sportbund in Zusammenarbeit mit der Deutschen Ärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin erarbeitet wurde und mit dem Ärztinnen und Ärzte ihren Patientinnen und Patienten gesundheitsorientierte Sport- und Bewegungsangebote empfehlen können. Auch auf europäischer Ebene lassen sich in jüngerer Zeit vermehrt Aktivitäten zur Propagierung des individuellen oder im Verein stattfindenden Sporttreibens beobachten. Seit 2015 etwa fördert die Europäische Kommission unter dem Slogan '#BeActive' einmal jährlich die 'Europäische Woche des Sports'. Wie von einigen jüngeren sportsoziologischen und -historischen Beiträgen hervorgehoben, enthält der gegenwärtige Sport- und Fitnessboom zugleich erweiterte Handlungsspielräume für individuelles oder kollektives Sporttreiben wie auch ein Anforderungs-, ja mithin Disziplinierungsregime, in dessen Rahmen die eigenverantwortlich wahrgenommene Sorge um den eigenen Körper durch sportliche Aktivität zu einem Erfordernis wird. So handelt es sich zwar nur um einen Marketing-Gag, scheint in diesem Zusammenhang jedoch äußerst vielsagend, wenn eine Fitnessstudio-Kette in Köln mit dem Untertitel 'die Fitness-Polizei' für ihr Angebot wirbt: Die Nicht-Wahrnehmung der Aufgabe, sich körperlich 'fit' zu halten, rückt damit in die Nähe eines Delikts. Angesichts des Stellenwerts, den Fitness und sportlich-körperliche Aktivität im Leben einzelner Menschen, aber auch für das Leben des, wie auch immer imaginierten, Bevölkerungskollektivs einnimmt, erstaunt die Tatsache, dass das von Michel Foucault geprägte Analysekonzept der Biopolitik bisher so selten in sportsoziologischen oder -historischen Untersuchungen ins Spiel gebracht worden ist. Dabei liefert es ein geeignetes Interpretationsschema für die hier skizzierten Phänomene, deren Geschichte mehr als ein Jahrhundert zurückreicht. Denn spätestens seit dem 19. Jahrhundert haben sich zahlreiche diskursive und praktische Verknüpfungen zwischen sportlichen respektive bewegungskulturellen Phänomenen und der Gesundheit der Einzelnen wie auch des Bevölkerungskollektivs herausgebildet. Sie äußerten sich in Kampagnen und Appellen zur sportlich-körperlichen Selbstführung im Namen der Gesundheit, aber auch des nationalen Wohlergehens bzw. der nationalen Überlebensfähigkeit, in Praktiken der datenmäßigen Erfassung und der Einwirkung auf den individuellen wie auch den 'Bevölkerungskörper' durch unterschiedliche Instanzen sowie in einer gesteigerten Reflexion wiederum unterschiedlichster Akteure über das 'Wie' solcher Maßnahmen. Wie Henriette Gunkel und Olaf Stieglitz jüngst festgehalten haben, korrespondierte 'die Etablierung des modernen Sports [...] mit der Herausbildung einer biopolitischen Gesellschaftsordnung, in der individuelle, leistungs- und reproduktionsfähige Körper effizient zu einem ?gesunden? und starken Kollektivkörper verschmelzen sollten.' Der vorliegende Band, der aus einer Tagung hervorgegangen ist, die im Herbst 2016 an der Universität Siegen stattfand, möchte dieser Korrespondenz nachspüren und das Analysekonzept der Biopolitik an ausgewählte, recht unterschiedliche Fallbeispiele aus der Sportgeschichte anlegen. In dieser Einleitung soll in einem ersten Schritt die analytische Perspektive umrissen werden, die die hier versammelten Beiträge eint. Im zweiten Teil wird der Versuch unternommen, eine historische Skizze der Herausbildung biopolitischer Konstellationen im Bereich der Leibesübungen und des Sports seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu liefern. Die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Beiträge sollen dabei herausgearbeitet und gemeinsame Akzentsetzungen verdeutlicht werden. 1. Biopolitik und Gouvernementalität als Analyserahmen Mit dem Begriff der Biopolitik entwarf Foucault am Ende seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76) und in Der Wille zum Wissen (1977) das Panorama eines historischen Umbruchs seit dem 18. Jahrhundert, in dem die Regulierung des individuellen wie kollektiven 'Lebens' ins Zentrum politischer Strategien rückte. Die souveräne 'Macht über den Tod' wurde - so Foucault - 'zunehmend von einer neuen Machtform überlagert, deren Ziel es ist, das Leben zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften.' Das 'Leben', nicht im biologistisch-essentialistischen Sinne, sondern als in diesem Prozess konstituierter Wissensbereich, tauchte im 18. Jahrhundert 'als politischer Einsatz, als Gegenstand politischer Strategien' auf: 'Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. [...] [Die Tatsache des Lebens] wird zum Teil von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfaßt.' Ohne auf die einzelnen Aspekte im Detail weiter einzugehen, schreibt Foucault von einer 'Expansion der politischen Technologien [...], die von nun an den Körper, die Gesundheit, die Ernährung, das Wohnen, die Lebensbedingungen und den gesamten Raum der Existenz besetzen.' Laut Foucault ordnete sich Biopolitik um zwei miteinander verbundene Pole herum an: Den einen Pol bildet der individuelle menschliche Körper, '[s]eine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit'. Der zweite Pol bezieht sich auf den Gattungs-Körper, d.h. die 'Bevölkerung', die als Wissensobjekt sowie als Zielscheibe regulierender und kontrollierender Maßnahmen konstituiert wird. Die 'Bevölkerung' tauchte im Laufe des 17. und 18. Jahrhundert als Problem verschiedener Wissensarten auf - Foucault nennt die politische Ökonomie, die Biologie und die Philologie. Sie bildete nunmehr, verstanden 'als Menge von Elementen, die einerseits dem allgemeinen Regime der Lebewesen unterlag [...] und andererseits konzertierte Eingriffe zuließ (über Gesetze, aber auch über eine Veränderung der Einstellungen, des Verhaltens und des Lebens, die man durch ?Kampagnen? erreichen konnte)', ein Korrelat verschiedener Machttechniken. Die Disziplinierung individueller Körper, wie sie im Zentrum von Überwachen und Strafen stand, fällt mit der Emergenz der 'Bevölkerung' keineswegs weg, sondern ordnet sich vielmehr in biopolitische Erwägungen ein. Oder anders ausgedrückt: Die 'Bevölkerung' rückt zwar als Entität mit ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten und ihr eigenem 'Leben' in den Blick, sie setzt sich jedoch zugleich zusammen aus dem 'Leben' der individuellen Körper. Wie Foucault betont hat, war die Disziplin 'also niemals wichtiger und wurde niemals höher bewertet als von dem Moment an, da man versuchte, die Bevölkerung zu verwalten', da dies eine Verwaltung 'in der Tiefe [...], in den Feinheiten, im Detail' nötig machte. Nun mag es so erscheinen, dass das Konzept von Biopolitik eine totalisierende Komponente aufweist, eine Macht, die das Leben einzelner Individuen wie auch der Gesamtbevölkerung umfassend beobachtet, reglementiert, reguliert und kontrolliert. Und in der Tat wurde und wird Biopolitik oftmals mit autoritären Regimen in Verbindung gebracht und ihr Kulminationspunkt in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gesehen. Dieser Lesart hat Foucault speziell mit einigen Ausführungen in der Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft durchaus Vorschub geleistet. Zum einen verortet er Biopolitik dort primär beim Staat, zum anderen konzentriert er sich im zweiten Teil der Vorlesung vor allem auf die Verbindung von Biopolitik und Rassismus, an deren Spitze er den 'Nazismus' sieht. Foucault selbst hat nun jedoch mit seiner Einordnung von Biopolitik in die Geschichte der Gouvernementalität, d.h. der Geschichte der liberalen 'Regierung' (im Sinne von Fremd- und Selbstführung) von Individuen und Gesellschaften, die Spur gelegt, Biopolitik nicht nur oder gar nicht zuvorderst bei autoritären und rassistischen Regimen zu verorten. Vielmehr ist sie als Grundkomponente gerade liberaler Regierungstechniken des 18., 19. und 20. Jahrhunderts zu begreifen. Im Laufe seiner Vorlesungsreihe am Collège de France Ende der 1970er Jahre verschob sich sein Fokus zwar tendenziell von der Problematik der Biopolitik und der 'Bevölkerung' in Richtung einer Analyse des ökonomischen Neoliberalismus, allerdings regte er in der Zusammenfassung seiner Vorlesung zur Geburt der Biopolitik selbst an, nunmehr zu untersuchen, wie 'die spezifischen Probleme des Lebens und der Population innerhalb einer Regierungstechnologie gestellt wurden, die, weit davon entfernt, stets liberal gewesen zu sein, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unablässig von der Frage des Liberalismus beherrscht wurde.' Im Klartext bedeutet dies, dass Biopolitik nicht notwendigerweise und nicht in erster Linie technokratisch, autoritär und eingrenzend funktionierte, sondern in vielen Fällen ungeplant, Möglichkeiten eröffnend und 'ermächtigend' wirkte und auf die freiwillige Mitarbeit von Subjekten angewiesen war. Wie Foucault in einigen Kommentierungen, die den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität folgten, ausführte, kann unter 'Regierung' die 'Gesamtheit an Institutionen und Praktiken verstanden werden, mittels derer man Menschen lenkt [bzw. diese sich selbst lenken, S. Sch.], von der Verwaltung bis zur Erziehung.' Diese Machtform, die an einigen Stellen von ihm auch als Pastoralmacht bezeichnet wird, werde manchmal 'vom Staatsapparat oder zumindest von einer öffentlichen Institution wie der Polizei ausgeübt.' Andere Male werde sie jedoch 'auch von privaten Einrichtungen, Hilfsvereinen, einzelnen Wohltätern oder von Philanthropen ausgeübt.' Für die Anwendung einer biopolitischen Perspektive auf den Sport ist dieser Hinweis äußerst bedeutsam, hat man es hier doch oftmals mit Konstellationen zu tun, in denen staatliche Instanzen nur mittelbar involviert sind. Entsprechende Beispiele liefern Vereine und Verbände sowie einzelne am Sportgeschehen beteiligte Personen wie aktive Sportler*innen, Trainer*innen oder sonstige Expert*innen. Wichtig ist außerdem, dass dieses Verständnis von Regierung oder Führung nicht zuvorderst auf Zwang, Unterwerfung oder Gewalt gründet, sondern dass Praktiken der Regierung von Menschen nach Foucault die 'Freiheit' von Individuen voraussetzen, diese quasi konstitutiv in ihre Rationalität miteinbeziehen und zugleich produzieren. Wie Foucault in einer klassischen Passage schreibt: 'Wenn man Machtausübung als ein auf Handeln gerichtetes Handeln definiert, wenn man sie als ?Regierung? von Menschen durch andere Menschen im weitesten Sinne des Wortes beschreibt, dann schließt man darin ein wichtiges Element ein, nämlich das der Freiheit. Macht kann nur über ?freie Subjekte? ausgeübt werden, insofern sie ?frei? sind.' Foucault zufolge bezeichnet 'Regierung' also weniger solche Fälle, in denen Menschen gezwungen werden, das zu tun, was der Regierende will, sondern ein Feld, auf dem sich Techniken, die Zwang (aber auch Verpflichtung oder Konsens) herstellen mit Prozessen berühren, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert oder modifiziert wird. Die Verzahnung 'freiwilliger' Selbstführung und gesellschaftlicher Normalisierungsprozesse wird für den Bereich des Sports vor allem von Arbeiten hervorgehoben, die sich mit jüngeren Phänomenen 'postmoderner', 'neoliberaler' Bewegungspraktiken befassen. Im Hinblick auf die Beiträge dieses Bandes gilt es jedoch zu betonen, dass der Aufruf zum eigenständigen Engagement und die Anleitung zur freiwilligen Selbstführung sich spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die Geschichte von Sport und Leibesübungen ziehen. Analysen von (biopolitischer) Gouvernementalität fragen also danach, 'wie Herrschaftstechniken sich mit ?Praktiken des Selbst? verknüpfen' beziehungsweise auf wie 'Formen politischer Regierung auf Techniken des ?Sich-selbst-Regierens? rekurrieren.' An diesen Kontaktpunkten wiederum spielt die Kategorie des Wissens eine zentrale Rolle: des Wissens von Individuen über sich selbst, über seine Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten, des Wissens verschiedener Instanzen über die Beschaffenheit der Individuen wie auch des Kollektivs usw. Während Foucault in erster Linie das Sexualitätsdispositiv als vermittelnde Instanz zwischen den Disziplinierungen und Anleitungen der individuellen Körper sowie den Regulierungen des Gattungs-Körpers - der 'Bevölkerung' - im Blick hatte, gilt es mit dem Sportphilosophen Volker Caysa zu betonen, dass 'auch der Sport und die Industrien, die ihm zu dieser Macht verholfen haben (als da sind Medien, Mode und Medizin) für die Analyse von Körper-Macht und Körper-Politik entscheidend sind.' Denn zum einen spielen beide Seiten des Foucaultschen Konzepts - der Umgang mit individuellen Körpern wie auch die Regulierung des Bevölkerungs-Körpers - eine eminent wichtige Rolle in der Geschichte von Leibesübungen und Sport. Zum anderen deckt sich der Zeitraum, den Foucault für die Entfaltung biopolitischer Gouvernementalität ausgemacht hat, mit der Verbreitung von Leibesübungen und Sport seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, was wiederum keinesfalls zufällig zu sein scheint. Konkret müsste eine an Foucault gelehnte Perspektive danach fragen, welche wissenschaftlichen Disziplinen und Expertengruppen an der Formulierung biopolitischen Sport-, Körper- und Gesundheitswissens beteiligt waren und damit selbst erst legitimierte Positionen im Diskurs geschaffen haben. Dies betrifft sowohl die Frage nach den Methoden der Wissensproduktion (Erfahrungswissen, sportmedizinische Versuche, neue Labormethoden, statistische Erhebungen, Umfragen) als auch die Frage nach der diskursiven Konstruktion des 'Gewussten': Welche Körpervorstellungen, welche geschlechtlichen, sozialen, ethnischen Zuschreibungen, welche Kategorien 'gesundhaltender' und 'krankmachender' sportlicher Praktiken wurden formuliert? Welche zeittypischen Gesellschaftsdiagnosen flossen darin ein? Welche soziokulturellen Erwartungen wurden an Sport, körperliche Bewegung und Leibesübungen geknüpft? Wie wurden Individuen oder Kollektive zur Bewegung bzw. zum Sporttreiben an- und aufgerufen und motiviert? Welche gesellschaftlichen Ein- und Ausschließungen wurden dabei produziert? Wie regierten, d.h. führten, Sport treibende Individuen sich selbst? Diesen Fragen gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes nach. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, sie in einer historischen Skizze sportbezogener biopolitischer Gouvernementalität zu verorten. 2. Biopolitische Gouvernementalität und Sport - eine historische Skizze Wie beschrieben, datierte Foucault das Auftauchen einer biopolitischen Gouvernementalität auf das 18. Jahrhundert, in welchem das 'spezifische Problem der Bevölkerung' aufgetreten sei, deren Geschicke die Regierung nunmehr zu verbessern, deren Reichtümer, Lebensdauer und Gesundheit sie zu mehren suchte. Um dies zu erreichen, fungierten wiederum die Bevölkerung und die ausgemachten, ihr spezifischen Eigenschaften und Regelmäßigkeiten als Instrumente, 'die sie [die Regierung, S. Sch.] direkt durch Kampagnen oder wieder indirekt durch Techniken' der Verhaltensführung zu beeinflussen gedachte. Es ist nun keineswegs zufällig, dass jene Zeit, die Klaus Cachay unter systemtheoretischen Prämissen als 'Phase des take-off' des Sportsystems im 18. Jahrhundert behandelt hat, sich in ebenjene Konstellation einfügt. Geradezu mustergültig verknüpften sich medizinische, pädagogische und auf den 'Staat' bezogene Elemente im Bewegungsdiskurs des 18. Jahrhunderts zu einer biopolitischen Gouvernementalität der Leibesübungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem in Gestalt von Schul- und Vereinsturnen praktische Effekte zeitigen sollte. Während Ratschläge zu mehr körperlicher Bewegung bereits seit der Antike Teil ärztlicher Gesundheitsempfehlungen waren, erreichten die Leibesübungen, z.B. in Form einer 'medizinischen Gymnastik', vor dem Hintergrund neuer medizinischer Körpervorstellungen und einer Konzentration auf medizinische 'Volksaufklärung' im Laufe des 18. Jahrhunderts erneuerte Wertschätzung. Vor allem von Seiten der kameralistischen 'medizinischen Policey' erfuhr körperliche Bewegung als Mittel der Gesunderhaltung erhöhte Aufmerksamkeit. Im Diskurs und in den Erziehungsanstalten der Philanthropen flossen die medizinischen und staatsbezogenen Elemente zusammen und verknüpften sich mit einem erzieherischen Anspruch. Für unseren Zusammenhang erscheinen dabei mehrere Aspekte erwähnenswert: Erstens durchzog die zeitgenössischen Veröffentlichungen um 1800 ein kulturkritischer Gestus, der auf die Verwerfungen der 'ungesunden', 'modernen' Lebensweise hinwies. Wie beispielsweise Johann Christoph Friedrich Gutsmuths in seiner einflussreichen Gymnastik der Jugend konstatierte, sei die Bevölkerung schwächlich, da über Jahrhunderte die Erziehung des Körpers vernachlässigt worden sei. Die Diagnose eines gesundheitsschädlichen 'Bewegungsmangels', hervorgerufen durch jeweils variierende Veränderungen der 'modernen' Lebens- und Arbeitsweise, bildete seitdem die Hintergrundfolie, vor der die Aufrufe zu einem Mehr an körperlich-sportlicher Bewegung erst Sinn ergaben. Des Weiteren lässt sich zweitens ein In-Beziehung-Setzen von individueller und kollektiver, d.h. meistens staatlicher, Gesundheit beobachten. Die Gesundheit der Einzelnen, die zu erhalten der moderne Staat versprach, bildete gleichsam in Zusammensetzung die Gesundheit des Gemeinwesens: 'Denn wie ein Staat in dem Grade reich ist, in welchem unter seinen Landleuten und Bürgern Industrie herrscht', schrieb der Philanthrop Karl Friedrich Bahrdt, 'eben so wird auch seine Stärke, Macht, Ansehen, blos und allein, theils durch die Menge seiner Bürger und Landleute, theils durch deren Gesundheit, Leibesstärke, Geschicklichkeit und moralischer Bildung bestimmt'. Daraus resultierte einerseits die Forderung nach öffentlicher Förderung und Bereitstellung von Möglichkeiten zur Leibesertüchtigung, andererseits erwuchs daraus aber auch eine individuelle Pflicht des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv, 'den Körper in den Stand zu setzen, daß er [...] die Anstrengungen und die Mühseligkeiten, welche mit den Arbeiten, für welche er bestimmt ist, verknüpft sind, aushalten kann. Dieß ist eine der ersten Pflichten, die wir nicht blos uns, sondern auch dem Ganzen schuldig sind.' Drittens scheint aus einer Perspektive biopolitischer Gouvernementalität interessant, dass es sich bei den meisten philanthropischen und turnerischen Konzepten um 1800 um eine Erziehung zur Selbstführung handelte. Gymnastische und turnerische Übungen sollten den (zumeist jungen, männlichen) Menschen ermöglichen, ihre körperliche und geistige Stärke zurückzugewinnen, sie aber zugleich moralisch formen und zu einem 'vernünftigsachlichen' Umgang mit dem eigenen Körper anleiten. Leibesübungen waren insofern kein 'Selbstzweck, sondern wurde[n] als praktische Lebensvorbereitung betrieben.' Letztlich findet sich viertens bereits in den Veröffentlichungen des 18. und 19. Jahrhunderts eine Tendenz zur Ausweitung des Bewegungsappells auf die gesamte Bevölkerung - wohlgemerkt bei gleichzeitiger Abstufung der empfohlenen Übungen hinsichtlich Geschlecht, Alter und sozialer Schicht. Dieser Anspruch, aber auch diese Zergliederung nach 'Zielgruppen' und ihren spezifischen Charakteristika und Bedürfnissen, sollte ein prägendes Kennzeichen biopolitischer Sport- und Bewegungsdiskurse bleiben, das im 20. Jahrhundert mit dem Leitspruch 'Sport für alle' auf den Begriff gebracht wurde. Mit Cachay lässt sich jedenfalls an dieser Stelle festhalten, dass 'die Ausrichtung der Kontingenzformel ?Vollkommenheit? auf ?Gesundheit?' um 1800 'eine Begründungsformel [...] [hat] entstehen lassen, über die alle gesellschaftlichen Schichten [...] und die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen [...] zum Betreiben von Leibesübungen angehalten [wurden].' In diesem Zeitraum begannen die Leibesübungen 'allmählich ein Recht, aber auch eine Pflicht für alle Mitglieder der Gesellschaft zu werden.' Während sich die praktische Umsetzung der Leibesübungen anfangs auf die privaten philanthropischen Erziehungsanstalten sowie die - zeitweise politisch unterdrückten - 'Turngesellschaften' und deren 'Turnanstalten' bzw. 'Turnplätze' beschränkte, drängten Befürworter von Leibesübungen zunehmend auf deren öffentliche Institutionalisierung in Form des Schulturnens. Erneut lässt sich hier der Grundbegleitton der Kritik an den 'modernen' Lebensverhältnissen aufweisen, so beispielsweise in der Denkschrift Zum Schutze der Gesundheit an den Schulen des Medizinalrates Karl Ignaz Lorinser von 1836, in der er den katastrophalen Gesundheitszustand der Jugend anprangerte. Und im königlichen 'Schulturnerlass' von 1842, mit dem das Schulturnen in Preußen schließlich verbindlich eingeführt wurde, war von der Notwendigkeit die Rede, 'der Erhaltung und Kräftigung der körperlichen Gesundheit eine besondere Sorgfalt zu widmen und durch eine harmonische Ausbildung der geistigen und körperlichen Kräfte dem Vaterlande tüchtige Söhne zu erziehen.' Die Einführung der Leibeserziehung, die sich in den deutschen Ländern und beispielsweise auch in Frankreich und Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog, ist in ihrer biopolitischen Bedeutung nicht zu unterschätzen, wurden durch das Schulturnen doch weite Teile der (meist männlichen) Bevölkerung an den gymnastisch-turnerisch-sportlichen Umgang mit dem eigenen Körper geführt. Ebenso kam es in dieser Phase zu materiellen und personellen Auswirkungen, beispielsweise im Hallenbau oder in der Turnlehrerausbildung. Zunehmend bildete sich außerdem ein Expertentum heraus, das Anspruch auf das Wissen um die 'richtigen' Übungen und deren Zielsetzung erhob. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich vor allem das Turnsystem von Adolf Spieß, das die 'Einzelnen [...] in ihrer Eigenschaft als Glieder eines Gemeinkörpers' zu erziehen gedachte und dabei den Ordnungsbegriff in den Vordergrund rückte. Entsprechend entwickelten sich die Bewegungs- und Übungsabläufe im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in Richtung eines 'Drillturnens' und näherten sich damit militärischen Exerzierformen an. Dies entsprach einer weiteren Sinngebung an die Leibeserziehung, die zwar bereits früher hin und wieder zu finden ist, aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewann, nämlich die Betonung der Rolle von Leibesübungen und Sport für die militärische 'Wehrhaftmachung'. Im Deutschen Reich war es vor allem der 1891 gegründete Zentralausschuss für Volks- und Jugendspiele, der die Fragen der 'Volksgesundheit' und der Hebung der Wehrkraft öffentlichkeitswirksam diskutierte. Hintergründe dieser Debatten bildeten zum einen die zunehmenden weltpolitischen Spannungen und Rivalitäten, andererseits die parallel stattfindende Darlegung ständig sinkender militärischer Tauglichkeitsziffern seitens verschiedener Expertengremien, die wiederum Teil eines weit verbreiteten Degenerationsdiskurses an der Wende zum 20. Jahrhundert war. Die biopolitisch 'positive' Seite dieses Diskurses bildete die Hoffnung, die Kraft und 'Vitalität' der Bevölkerung bzw. der sie konstituierenden Individuen durch die Steuerung ihrer biologischen Ressourcen wiederherstellen und steigern zu können. Als zentrales Element wurde dabei die sportlich-turnerische Körperertüchtigung betrachtet, die sich im selben Zeitraum stetig ausdifferenzierte und zunehmend auch Mädchen und Frauen erfassen sollte. Neben das traditionelle Turnen, das teilweise aufgrund seiner mangelnden Flexibilität kritisiert wurde, trat der 'Sport' im - damals - britischen Sinne, verstanden als spielerische Form des regelgeleiteten Wettstreits. Pierre de Coubertin beispielsweise hielt gerade den Wettkampfsport für besonders geeignet, die durch die Krisenerscheinungen der 'Moderne' bedrohte (französische) Zivilisation zu revitalisieren. Dazu setzte er vor allem auf gouvernementale Techniken der Selbstbestimmung, Eigeninitiative und Mobilität: 'An die Stelle einer repressiven Machtausübung durch gymnastischen Drill sollte die stimulierende Kontrolle des Sports treten.' Auch der eben erwähnte Zentralausschuss für Volks- und Jugendspiele im Deutschen Reich setzte um die Jahrhundertwende auf die erzieherische Wirkung der Spiel- und Wettkampfpädagogik des (bürgerlichen) Sports.

Erscheint lt. Verlag 9.5.2018
Co-Autor Edith Arps-Aubert, Noyan Dinçkal, Rudolf Müllner, Pierre Pfütsch, Lukas Rehmann, Kai Reinhart, Stefan Scholl, Angela Schwarz, Olaf Stieglitz, Tim Veith, Diana Wendland, Melanie Woitas
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Biopolitik • Geschlechtergeschichte • Gesundheit • Körper • Körpergeschichte • Körpervorstellung • Michel Foucault • Sport • Sportgeschichte
ISBN-10 3-593-43882-8 / 3593438828
ISBN-13 978-3-593-43882-5 / 9783593438825
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