Fritz Bauer (eBook)

Kleine Schriften (1921-1961 Band 1, 1962-1969 Band 2) VE
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2023 | 2. Auflage
1853 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43874-0 (ISBN)

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Fritz Bauer -
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Fritz Bauer ist als der Staatsanwalt in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen, der den Auschwitz- Prozess initiiert und in einer Vielzahl weiterer Fälle die Verfolgung von NS-Verbrechen in die Wege geleitet hat. In Büchern, Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Interviews und Reden in Hörfunk und Fernsehen reflektierte er die gesellschaftliche und politische Lage der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit. Daneben formulierte er ein kriminalpolitisches Programm, in dem er Ziel und Zweck des Strafrechts grundlegend infrage stellte. Bauer hat in diesen Schriften oft Positionen bezogen, die für seine Zeit ungewöhnlich waren; zugleich zeigen sie, wie eng er dem Denken seiner Zeit verbunden war. Sie gewähren Einsicht in Diskussionen der frühen Bundesrepublik und führen eindrucksvoll vor Augen, wie sich Bauer als Jurist, Remigrant, jüdischer Intellektueller und Sozialdemokrat einmischte und Gehör verschaffte. So eröffnen seine »Kleinen Schriften« aus heute meist unzugänglichen Zeitungen und Zeitschriften, den Blick auf die Brüche in Bauers Biografie, auf Exil und Remigration als Schlüsselerfahrungen. Fritz Bauer (1903-1968) war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im Kampf für die juristische Ahndung der NS-Verbrechen in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Bundesrepublik. Von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben, kehrte Bauer 1949 nach West-Deutschland zurück und setzte sich als hessischer Generalstaatsanwalt für die Demokratisierung des Landes ein. Er hatte wesentlichen Anteil am Zustandekommen des Eichmann-Prozesses, war maßgeblicher Initiator des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main (1963-1965) und strengte ein Verfahren gegen Beteiligte am NS-»Euthanasie«-Programm an. »Ein Humanist und Demokrat [...] ein Visionär des Rechtsstaats« Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de

Lena Foljanty ist Juristin und Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. David Johst ist Historiker und arbeitet als freier Wissenschaftler und Journalist.

Lena Foljanty ist Juristin und Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main. David Johst ist Historiker und arbeitet als freier Wissenschaftler und Journalist.

Inhalt
Vorwort
Raphael Gross, Sybille Steinbacher
Einleitung
Lena Foljanty, David Johst
Kleine Schriften
1921
Hochschule und Politik
1923
F. W. V. Heidelberg: Stiftungsfest- und Maibericht
Der Staat gegen die Kartelle
1936
Glückliche Insel Dänemark
Sonderbericht für die C.-V.-Zeitung
1937
Einwanderer in Skandinavien
Offiziöse Zahlen und Daten
Panorama in Helsingör
Sonderbericht für die C.-V.-Zeitung
1938
Der "andere Heinrich"
Das Nansen-Amt
Juden in Europas Norden
[Rezension zu "Socialpolitik och Planekonomi"]
1939
[Rezension zu Georg Brandes]
Den politiske Pris
Der politische Preis
1944
Unvoreingenommen Stellung nehmen!
1945
Nationale Front?
Die Abrechnung mit den Kriegsverbrechern
Ein kommunistisches Manifest von heute
[Referat auf dem Presseempfang des Arbeitsausschusses der antinazistischen Organisationen in Schweden]
[Antwort auf eine Umfrage der Zeitschrift Politische Information]
Zum 7. Mai 1945
Wiedergutmachung und Neuaufbau
Den ryska planhushållningen
Die russische Planwirtschaft
Brief aus Dänemark
Världsmoral i vardande
Eine Weltmoral entsteht
1946
Freund oder Feind?
Das neue Geschwätz vom Dolchstoss
Die Splitterrichter
Der Todestag des Dritten Reiches
"Das Deutsche Arm"
Freunde, nicht diese Töne
"Recht oder Unrecht … mein Vaterland"
Die erste Etappe
Nürnberg
Graf Helmuth James von Moltke
Rättegången i Nürnberg
Der Nürnberger Prozess
1947
Mörder unter uns
Die Wirtschaftsgesetzgebung in der Ostzone
Ein bisschen Arsenik
Blick hinter die Kulissen der Wirtschaft
Sozialismus und Sozialisierung
U.S.A. heute
Für und wider die Planwirtschaft
Europäische Zollunion
Zwei Welten - eine Welt - keine Welt
Das verlorene Paradies
1948
Herausforderung und Antwort
1949
Warum Gefängnisse?
Die Strafe in der modernen Rechtspflege
1950
Schmutz, Schund und Kriminalität
Der Kampf ums Recht
1951
Die Kriminalität der Jugendlichen
Zu den Prozeßberichten von G. H. Mostar
Ein Generalstaatsanwalt entgegnet
1952
Die Wiederaufnahme teilweise abgeschlossener Strafverfahren
Das Land der Kartelle
Der Generalstaatsanwalt hat das Wort
Das Plädoyer des Anklägers Dr.?Bauer im Prozeß gegen Remer
1953
Der Unrechtsstaat und das Recht
Zum Begriff des Verletzten in der StPO
Der politische Streik
Politischer Streik und Strafrecht
1954
Die Stärke der Demokratie
[Anmerkung zu BGH, Urteil v. 10.11.

Vorwort Fritz Bauers Engagement galt dem Kampf gegen autoritäre Strukturen im Staat, im Rechtswesen und in der deutschen Gesellschaft - und das über die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg. 1903 geboren und im Kaiserreich aufgewachsen, setzte sich Bauer in der Weimarer Republik für die Sozialdemokratie ein. Deswegen und weil er Jude war, wurde er im Nationalsozialismus verfolgt. Er konnte rechtzeitig nach Skandinavien fliehen und kehrte im Jahr 1949, als die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, aus dem Exil zurück. Sein Ziel war es, die NS-Verbrecher zu verfolgen, das west-deutsche Rechtssystem zu reformieren und in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jeder Einzelne für das, was im 'Dritten Reich' geschehen war, Verantwortung zu tragen hatte. Bauer war davon überzeugt, dass ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat in Deutschland nur dann entstehen konnte, wenn sich die Deutschen über die Verbrechen Rechenschaft ablegten und sich auf diese Weise verbindliche Normen gaben, die den neuen Staat vom nationalsozialistischen Unrechtsstaat abgrenzten. Fritz Bauer hat viel geschrieben, mehrere Bücher und eine große Zahl an Aufsätzen und Artikeln für diverse Zeitungen und Zeitschriften. Er begann früh damit und war nach seiner Rückkehr aus dem schwedischen Exil in den west-deutschen Medien bald sehr präsent. Der vorliegende Band enthält die 'Kleinen Schriften' Fritz Bauers, also die nicht-monographischen Veröffentlichungen, die er zwischen 1921 und 1968, dem Jahr seines Todes, verfasst hat. Darunter sind einige, die bisher entweder gänzlich unbekannt oder kaum verfügbar waren, und manche, die erst postum erschienen sind. Zweck der Edition ist es, Bauers Texte sowohl der historischen Forschung als auch einer zunehmend an ihm interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ins Exil war Bauer 1936 als politisch Verfolgter und als jüdischer Sozialdemokrat gegangen, der die Haft in einem Konzentrationslager hinter sich hatte. Seine jüdische Herkunft prägte ihn womöglich stärker, als seine späteren öffentlichen Bekundungen dies erkennen lassen: Als er 1949 nach West-Deutschland kam, bezeichnete er sich ausdrücklich als Atheisten, als 'glaubenslos'. Später stand er der Humanistischen Union nahe, einer religionskritisch eingestellten bundesdeutschen Bürgerrechtsvereinigung. Bauer war ein 'nichtjüdischer Jude', ganz im Sinne des Schriftstellers Isaac Deutscher. Bei aller Glaubenslosigkeit war er nämlich mit den religiösen Riten des Judentums vertraut und mit einigen jüdischen Gruppierungen verbunden. In seinem assimilierten jüdischen Elternhaus wurden die jüdischen, nicht die christlichen Feiertage begangen. Als Student trat er sowohl in Heidelberg als auch in München der jüdischen Studentenverbindung 'Freie Wissenschaftliche Vereinigung' bei. Als 'jüdischer Amtsrichter', der sein Amt missbraucht habe, wurde er verunglimpft, als er in den frühen 1930er Jahren, noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, in Stuttgart tätig war. Adolf Gerlach schrieb das in einem antisemitischen Artikel im NS-Kurier. Fritz Bauer wehrte sich gegen die Verleumdung des Journalisten und stellte Strafantrag gegen ihn wegen übler Nachrede und Beleidigung. Dass er dem Jüdischen trotz Verfolgung und Exil verbunden blieb, kam nach dem Zweiten Weltkrieg auf vielfältige Weise zum Ausdruck. So erwog er, wie seine Schwester Margot sagte, nach seinem - allerdings niemals erfolgten - Eintritt in den Ruhestand für einige Zeit in Israel zu leben. Fraglos steht Bauer in der Tradition der assimilierten deutschsprachig-jüdischen Intellektuellen, in der sich so große Namen finden wie Sigmund Freud, Albert Einstein, Hannah Arendt und Hans Kelsen. Eines ist besonders wichtig: Fritz Bauer war Teil einer spezifisch linken jüdischen Tradition. Gerade in Frankfurt am Main steht er in einer Reihe mit zahlreichen jüdischen Sozialdemokraten und Sozialisten: etwa dem Begründer des deutschen Arbeitsrechts Hugo Sinzheimer, der in der NS-Zeit ins holländische Exil flüchtete, wo er zwar das Ende der deutschen Besetzung im Versteck überlebte, aber noch 1945 an den Nachwirkungen der Verfolgung starb. Auch Franz Neumann, Sinzheimers Assistent in Frankfurt, ist zu nennen, der Autor von Behemoth, einer der ersten wissenschaftlichen Studien über den NS-Staat, 1942 in den USA erschienen. Der umtriebige Journalist und Gewerkschafter Jakob Moneta, der 2012 in Frankfurt am Main verstorben ist, gehört auch dazu. Der Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann, zwar kein Sozialdemokrat, sondern Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, ebenfalls; er stammte aus einer jüdischen Familie, war aber konfessionslos, was die Nationalsozialisten nicht davon abhielt, ihn zu verfolgen. Landmann floh wie Sinzheimer in die Niederlande, wo er wenige Wochen vor Kriegsende starb. Zu nennen sind besonders auch die Vertreter der Kritischen Theorie: Mit Max Horkheimer, dem Leiter des Instituts für Sozialforschung, und mit Theodor W. Adorno, einem weiteren Exponenten der Frankfurter Schule, war Fritz Bauer gut bekannt. Was für diejenigen, die den Holocaust überlebt hatten, grundlegend anders war als für ihre nichtjüdischen sozialdemokratischen Genossen, lag in dem Umstand begründet, dass ihnen ein familiäres Umfeld zumeist vollständig fehlte. Ihre Familien und ihre Freunde waren ermordet worden. Und oft war deswegen ihr fortschrittsgewisses linkes Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert. Die Vernichtung der europäischen Juden, geschehen allein um der Vernichtung willen, brachte es mit sich, dass sie sehr häufig ihren Glauben an einen unaufhaltsamen Fortschritt in der Geschichte verloren, und damit auch die in der linken Tradition fest verankerte Vorstellung von der Ökonomie als zentralem Antriebsmoment der Geschichte. Fritz Bauer kämpfte darum, dass jeder einzelne Bürger in der Bundesrepublik Deutschland die Erschütterung begriff, die mit den Ereignissen des Holocaust verbunden war. Denn was passiert war, war etwas fundamental Neues: Nicht der Kampf gegen eine bestimmte politische Strömung, gegen einen politischen Feind, gegen eine unliebsame Klasse hatte stattgefunden, sondern etwas anderes. Und das, was geschehen war, musste erst noch zur Sprache gebracht, ja überhaupt erst in Worte gefasst werden. Bauer erkannte in der justiziellen Ahndung der NS-Verbrechen ein Mittel zur politischen Aufklärung. Dafür setzte er sich zunächst als Generalstaatsanwalt in Braunschweig (1950-1956) und später in gleicher Funktion auch in Hessen ein (1956-1968). Auschwitz mitten im Kalten Krieg ins Zentrum eines Gerichtsverfahrens zu stellen war schon an sich eine Herausforderung und in politischer, zumal außenpolitischer Hinsicht zudem eine Provokation. Probleme taten sich auf, denn mit Polen unterhielt die Bundesrepublik in den 1960er Jahren keine diplomatischen Beziehungen. Allein die für den Auschwitz-Prozess notwendige Ortsbesichtigung des Gerichts am Tatort des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers bereitete den deutschen wie den polnischen Behörden reichlich Kopfzerbrechen. Sie fand 1964 aber schließlich statt. Bauers Bemühen um die Verfolgung von NS-Verbrechern, sein Einsatz dafür, Auschwitz vor Gericht zu bringen, wurde in Deutschland erst allmählich als seine zentrale Lebensleistung erkannt. In der Todesanzeige der hessischen Landesregierung vom 4. Juli 1968 erschien dieses Thema noch eigentümlich ausgeklammert oder jedenfalls verborgen: 'Sein Name', so schrieb der hessische Justizminister Johannes E. Strelitz (SPD), 'wird mit der Vermenschlichung des Strafvollzugs und dem Dienst an der Gerechtigkeit verbunden bleiben. Sein Wahlspruch ?Die Würde des Menschen zu achten, ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt? wird auch über seinen Tod hinaus für uns Verpflichtung sein.' Das war eine ehrende Würdigung und gewiss auch ein Hinweis auf den von Fritz Bauer an den Gerichtsgebäuden in Braunschweig und in Frankfurt am Main angebrachten ersten Artikel des Grundgesetzes: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar'. Bauers weit über rechtspolitische Zusammenhänge hinausreichende gesellschaftliche Wirkung klang in den Äußerungen aber noch kaum an. Für ihn waren beide Aspekte eng miteinander verknüpft: Eine humane Rechtspflege galt ihm als notwendige Reaktion auf die zutiefst inhumane Strafrechtspraxis und den von Willkür und Gewalt geprägten Strafvollzug im NS-Staat. Das brachte ihn dazu, unermüdlich auf eines hinzuweisen: darauf nämlich, dass der Staat gegenüber seinen Bürgern Grenzen zu wahren hat. Dies galt beispielsweise in Bezug auf das Sexualstrafrecht, das für Bauer im Mittelpunkt seines Kampfes für ein von Schuld- und Vergeltungsdenken befreites Strafrecht stand. Die Rede von der Sittlichkeit war in Politik und Öffentlichkeit der Bundesrepublik bis in die frühen 1970er Jahre weitverbreitet. Das verwundert nicht, denn auf dem Gebiet der Sexualmoral ließ sich gewissermaßen herstellen, was Deutschland mit Blick auf seine NS-Vergangenheit gänzlich verwehrt war: der Eindruck, 'anständig' zu sein. Wurde Sittlichkeit eingefordert, ging es aber auch darum, amerikanische Einflüsse, sowohl politische als auch kulturelle, vehement abzuwehren. Gerade sexualmoralische Freizügigkeit galt als Verfallserscheinung, die die 'Amerikanisierung' mit sich gebracht habe. Nur rigides staatliches Vorgehen dagegen, so eine verbreitete Meinung, biete Schutz, insbesondere auch vor Homosexualität. Der einschlägige Paragraph, der Homosexualität unter Männern seit dem Kaiserreich unter Strafe stellte, war in der NS-Zeit verschärft worden und wurde in dieser Form auch in der Bundesrepublik beibehalten. Bauer, der aller Wahrscheinlichkeit nach homosexuell war, darauf deutet vieles hin, Bauer wurde nicht müde, gegen das Sittlichkeitsregime gesellschaftlicher Eliten und gegen einen Staat anzugehen, der das Privatleben seiner Bürger reglementierte. Den Staat in seine Schranken zu weisen, war sein unmissverständliches Ziel. Die in der Edition der 'Kleinen Schriften' zusammengetragenen Texte zeigen nicht nur, mit welchen Themen sich Fritz Bauer im Laufe seines Lebens befasst hat, sie verweisen auch auf die Entwicklung seiner Interessen. Drei Schriften stammen aus Bauers Studienzeit und beschäftigen sich mit Hochschulpolitik, der 'Freien Wissenschaftlichen Vereinigung', der er angehörte, und mit Thesen, die mit seiner Doktorarbeit über die rechtliche Struktur von Trusts in Zusammenhang stehen. Nach seiner Emigration schrieb er einige Jahre für die Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Für deren Leserschaft setzte er sich mit der Situation jüdischer Emigranten auseinander und reflektierte den Zustand der Staatenlosigkeit, in den viele Juden gestellt waren, die, wie er, Deutschland hatten verlassen müssen. Aufmerksam verfolgte der Jurist und Wirtschaftswissenschaftler die ökonomische Entwicklung insbesondere Skandinaviens und schrieb Artikel, durch die er sich vermutlich eine Anstellung erhoffte. In den Kriegsjahren publizierte Bauer allem Anschein nach lange Zeit nicht. Erst 1944, als er für die Zeitschrift Politische Information zu schreiben begann - sie war im Jahr zuvor in Schweden von einer Gruppe emigrierter Kommunisten und Sozialdemokraten gegründet worden -, fand er ein publizistisches Forum, in dem sich die drängenden Zeitfragen diskutieren ließen. Dass sich die Niederlage der Wehrmacht abzeichnete, bot Bauer Anlass, hier seine Gedanken zur Verfolgung der NS-Täter und zum künftigen Aufbau eines Rechtsstaats in Deutschland ausführlich darzulegen. Auch äußerte er sich zur Debatte über die Zukunftsfähigkeit einer sozialistischen Planwirtschaft, die seine sozialdemokratischen Genossen führten, und zu weiteren Themen. Zurück in Deutschland begann er, sich mit der Jugend zu beschäftigen. Auf sie hatte sich seine Hoffnung schon in Dänemark gerichtet, als er in Lagern für deutsche Flüchtlinge jungen Leuten begegnet war. Bauer war besorgt darüber, ob sich die Jugend in der Bundesrepublik, die ja im NS-Staat sozialisiert worden war, die Demokratie überhaupt zu eigen machen würde. Die Bedingungen des Strafvollzugs trieben ihn ebenfalls um, und er ging der Frage nach, worin die Ursachen und Beweggründe für Kriminalität liegen könnten. Kriminologie begriff Bauer als naturwissenschaftlich zu verstehende Wissenschaft, die Methoden besaß, um die sozialen Ursachen von Verbrechen erkennen und zum Schutze der Gesellschaft bekämpfen zu können. Seine Erkenntnisse darüber stammten in erster Linie aus der amerikanischen Fachliteratur und standen im Gegensatz zur deutschen theoretischen Tradition. Bauer hatte sich 1955, unmittelbar bevor er sein Amt als Generalstaatsanwalt in Hessen antrat, für einige Monate in den USA aufgehalten und dort die Diskussionen über Strafen, Resozialisierungsmaßnahmen und die Zustände in den Strafvollzugs- und Heilanstalten studiert. Von 1960 an beschäftigte er sich in seinen Schriften intensiv mit der Strafverfolgung von NS-Verbrechern. Dafür gaben ihm unter anderem die Ausstellung 'Ungesühnte Nazijustiz' und der Umstand Anlass, dass 1960 der Erlass der Nürnberger Gesetze, der ein Vierteljahrhundert zuvor erfolgt war, öffentlich diskutiert wurde. Nun entstand das Gros seiner Schriften, darunter diejenigen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, ein Thema, mit dem er sich befasste, seit er 1952 in Braunschweig gegen den ehemaligen hochrangigen Wehrmachtsoffizier Otto Ernst Remer prozessiert hatte. Einige seiner Texte, wie beispielsweise 'Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns', erschienen nun als Einzelpublikationen. Überraschend ist weniger, dass Bauer sich mit dem Widerstand des sogenannten 'kleinen Mannes' und auch dem der Kämpfer im Warschauer Ghetto auseinandersetzte, als vielmehr die Tatsache, dass er sich stets auf den militärischen Widerstand gegen die NS-Herrschaft bezog, der für ihn geradezu der Inbegriff von Widerstand war. Welche Sympathien hegte der 'nichtjüdische Jude' und Sozialdemokrat Fritz Bauer für die Männer und Frauen des 20. Juli, die zumeist aus konservativen preußischen, oft antisemitischen Adelsfamilien stammten und lange Zeit dem NS-System die Treue gehalten hatten? Für ihn lag darin ein zentrales Thema: Die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat war für ihn immer dann gegeben, wenn die Grundlagen des Rechts beseitigt worden waren. Vor diesem Hintergrund leitete Bauer sein Verständnis von Widerstand regelrecht aus den Aktivitäten der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ab. Denn an ihr ließ sich zeigen, dass gesellschaftliche Gruppen Regeln in ihrem Wertesystem finden konnten, die sie dazu brachten, sich gegen erkanntes Unrecht zu wenden und sich dem NS-System zu widersetzen. Diese Haltung zu bestärken und in die bundesrepublikanische Gesellschaft zu überführen, fasste Bauer als staatsbürgerliche Aufgabe auf. Die west-deutsche Gesellschaft als ganze, so seine Überzeugung, musste über die Verbrechen der NS-Zeit aufgeklärt werden, da sie nur zum Umdenken finden könne, wenn sie bereit war, sich mit den historischen Tatsachen zu konfrontieren. Besonders in Bauers Texten zum Widerstandsrecht und zur Widerstandspflicht fällt auf, wie sehr ihn seine Zeit im skandinavischen Exil geprägt hatte. Die Traditionen des Widerstands leitete er aus biblischen und historischen Beispielen ab, auch aus der jüdischen Geschichte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen und politischen Schlussfolgerungen war die Verbindung des Rechts auf Widerstand mit dem germanischen Recht, das er rechtshistorisch dem skandinavischen Raum zuordnete und von dem er das theoriegeleitete römische Recht unterschied, das sich auf dem europäischen Kontinent aber durchgesetzt hatte. Im germanischen Recht war der Herrscher dem Rechtssystem im Staat untergeordnet und dazu verpflichtet, der Verwirklichung des Rechts zu dienen. Dass Bauer das germanische Recht derart imponierte, hatte viel damit zu tun, dass er in der Zeit seines Exils die liberale Rechtsauffassung in Skandinavien selbst erfahren hatte. Die Nürnberger Prozesse waren seiner Auffassung nach denn auch ein Akt, mit dem die Alliierten den Widerstand gegen die NS-Herrschaft nachholten. Nach ihrem Vorbild und gestützt auf ihre rechtlichen Vorgaben wollte er die Aburteilung der nationalsozialistischen Verbrecher vor deutschen Gerichten in die Tat umsetzen. *** Mit der Edition der 'Kleinen Schriften' werden die vielen Facetten von Bauers Denken nachlesbar und für die historische Forschung zugänglich gemacht. Das Fritz Bauer Institut hat sich bemüht, mit der vorliegenden Sammlung den größtmöglichen Überblick zu bieten. Versammelt sind hier alle auffindbaren nicht-monographischen Veröffentlichungen Fritz Bauers. Unser besonderer Dank gilt den Inhabern der Rechte an seinen Texten: Rolf Tiefenthal und der Aktion Sühnezeichen. Ohne ihre Unterstützung hätte das Werk nicht auf den Weg gebracht werden können. Wir danken den Rundfunkanstalten, die uns die Veröffentlichung von Bauers Beiträgen genehmigt haben: dem Hessischen Rundfunk, dem Bayerischen Rundfunk, der SWR Media Service GmbH und dem Studio Hamburg Enterprises. Die Edition wurde seit 2013 mit Mitteln der Gerda Henkel Stiftung gefördert. Dafür bedanken wir uns herzlich bei der Stiftung. Wir danken ebenso der Herausgeberin und dem Herausgeber der Edition, Lena Foljanty und David Johst. Durch ihre Forschung, ihr großes Engagement und ihre Tatkraft kam dieser Band überhaupt zustande. David Johst stieß im Kontext der Recherchen auf Radioauftritte Fritz Bauers und hat daraus das ebenfalls von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Hörbuch Fritz Bauer. Sein Leben, sein Denken, sein Wirken zusammengestellt, das 2016 im Audio Verlag erschienen ist. Dafür erhielt er im März 2018 den Deutschen Hörbuchpreis im Bereich Sachhörbuch, wozu wir ihm herzlich gratulieren. Wir danken Werner Konitzer, der die Edition als Interimsdirektor des Fritz Bauer Instituts begleitet hat. Katharina Rauschenberger hat das Projekt von Beginn an in vielfacher Weise getragen und mit hohem Einsatz vorangetrieben. Bei ihr bedanken wir uns ebenfalls herzlich. Sabine Grimm danken wir für das sorgfältige Lektorat der Texte. Für wissenschaftliche Recherchen bedanken wir uns bei Werner Renz und Maja Jochem. Vanessa Gelardo, Thilo Herbert, Monika Kubrova und Laura Tittel danken wir für die Ermittlung der Rechte an den Texten und für weitere Unterstützung. In der Kanzlei Freshfields bedanken wir uns bei Michael Rohls und Stephan Hillenbrandt. Die Schreibbüros Gudrun Weidner und Mona James haben uns ebenfalls unterstützt, auch ihnen sei gedankt. Die Edition entstand im Wissen, dass womöglich weitere Texte gefunden werden können, denn Fritz Bauer hat sich zu vielen Themen geäußert und stets fleißig publiziert. Noch bestehende Rechte von Verlagen und Redaktionen wurden nach bestem Wissen abgeklärt. Sollten trotz eingehender Recherche die Belange einzelner Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, erbittet das Fritz Bauer Institut Hinweise darauf. Berlin und Frankfurt am Main, im Februar 2018 Raphael Gross, Sybille Steinbacher Einleitung Lena Foljanty, David Johst Das Interesse an Fritz Bauer ist in den letzten Jahren immens gewachsen. Es liegen mittlerweile zwei auch über die Wissenschaft hinaus breit rezipierte Biographien des hessischen Generalstaatsanwaltes vor, daneben zwei Doktorarbeiten über Bauers Wirken und ein Sammelband zu Bauer im Kontext der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte. Im Jahr 2010 ist ein erster Dokumentarfilm erschienen, in den Jahren 2014 bis 2016 folgten zwei Kinofilme und ein Fernsehfilm, die sich mit Bauers Rolle als Staatsanwalt in den 1950er und 1960er Jahren beschäftigen. Eine Ausstellung, die auf eine Kooperation zwischen dem Fritz Bauer Institut und dem Jüdischen Museum Frankfurt zurückgeht, befasste sich 2014 mit der Person und dem Wirken Fritz Bauers und wurde seither an mehreren Orten in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt. Das wachsende Interesse an Bauer zeigt sich auch in der zunehmenden Nachfrage nach einzelnen Publikationen, die zum Teil schwer erhältlich oder bereits vergriffen sind. Hier setzt die vorliegende Edition an. Mit ihr werden Bauers weitverstreut aufgefundene 'Kleine Schriften' zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit zugänglich gemacht. Das Werk Bauers war bisher nur bedingt verfügbar. Seine zehn Bücher sind über Bibliotheken und Antiquariate erhältlich, Bauers Hauptwerk besteht jedoch aus Aufsätzen, verschriftlichten Vorträgen, Zeitungsartikeln und Interviews, die zum Teil in Tageszeitungen und kleineren Zeitschriften veröffentlicht wurden. Diese sind bei weitem nicht in jeder Bibliothek vorhanden. Eine Sammlung ausgewählter Schriften Bauers wurde 1998 von Irmtrud Wojak und Joachim Perels herausgegeben, sie ist jedoch seit langem vergriffen. Die dort publizierten Beiträge fließen zur Gänze in die vorliegende Edition ein.

Erscheint lt. Verlag 2.1.2023
Reihe/Serie Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts
Co-Autor Lena Foljanty, Raphael Gross, David Johst, Sybille Steinbacher
Zusatzinfo in zwei Teilbänden
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Ausätze • Auschwitz-Prozess • Bundesrepublik • Deutschland • Frankfurt am Main • Fritz Bauer • Fritz Bauer Institut • Interviews • Nationalsozialismus • NS • open access • Schriften • Verbrechen • Zeitschriften • Zeitungen
ISBN-10 3-593-43874-7 / 3593438747
ISBN-13 978-3-593-43874-0 / 9783593438740
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