Als Freud das Meer sah (eBook)

Essay
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2018 | 1. Auflage
184 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490844-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als Freud das Meer sah -  Georges-Arthur Goldschmidt
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Ein wunderbares Buch über die Sprache, die wie der Blutkreislauf unsere Existenz durchzieht. Goldschmidt, der gebildetste und feurigste Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, schreibt auf erstaunliche Weise über das Leben in zwei Sprachen und das Übersetzen. Leidenschaftlich und spannend öffnet er die Bedeutungsräume zwischen den beiden Sprachen, in dem Wissen, dass sich hinter dem Gesagten ungeahnte Kostbarkeiten verbergen. »Ein verblüffendes Buch über die Sprache« Peter von Matt

Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L'Académie de Berlin. Zuletzt erschienen seine Erzählungen »Der Ausweg« und »Die Hügel von Belleville«.

Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren, musste als Zehnjähriger in die Emigration nach Frankreich gehen. Er lebt heute in Paris. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Bremer Literatur-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. Im November 2013 erhielt er den Prix de L'Académie de Berlin. Zuletzt erschienen seine Erzählungen »Der Ausweg« und »Die Hügel von Belleville«. Brigitte Große wurde für ihre Übersetzungen aus dem Französischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt übersetzte sie Sorj Chalandon »Mein fremder Vater«, Amélie Nothomb »Töte mich«, Gaël Faye »Kleines Land« (zusammen mit Andrea Alvermann).

Einleitung

Die Fluten der Sprache


»Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See …«

Hölderlin, Andenken

Die Sprache des Menschen ist wie die See: Unzählbar sind ihre Gestade, ihre Inseln; über unbekannte, unsichtbare Tiefen nimmt man Kurs aufs Unendliche. Das Wasser ist stets dasselbe und ändert sich ständig, es fließt, weicht zurück, schmiegt sich an alles, was eintaucht, wechselt dauernd die Farbe, den Himmel über sich spiegelnd; in der Sonne schillert es blaßgrün bis tiefblau, je nach Breitengrad und Augenblick.

Die geringste Berührung prägt sich der See wie der Seele des Menschen ein; sie gibt allem nach, bei Windstille läßt der leiseste Hauch sie erschauern, und wenn eine Wolke die strahlende Sonne plötzlich verdunkelt, wird sie düster und drohend.

Gezeichnet vom Wechsel der Farben, vom Wandel der Stimmungen, die von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend unendlich variieren und sich doch immer wiederholen, bleibt sie sich gleich: Alles ist Meer, nirgends ein Bruch; vom höchsten Norden bis zum tiefsten Süden erlauben dieselben Fluten eine stetige Fahrt.

So ist es auch mit den Sprachen: Dasselbe Gewässer, von anderen Ufern gesehen, erlaubt die unendliche Reise rund um die Welt, ohne das Schiff zu verlassen, die Reise von Sprache zu Sprache. Abends auf See ein Wolkenband, weit entfernt, der Gipfel einer Insel, die sich eines Morgens aus den Fluten erhebt, und doch ist man immer auf See. Sprache ist, was zwischen den Sprachen auftaucht, und ist doch die See selbst, die uns trägt.

Reisende aller Zeiten und Länder haben sie vielfach beschrieben, indes sie kannten den Grund nicht tief unter ihnen, träumten wohl von geheimnisvoll schaurigen Tiefen und schöpften doch keinen Verdacht, bis das Meer sie verschlang.

Erst unlängst, Ende des letzten Jahrhunderts, begann man den Grund des Meeres zu erforschen, zur gleichen Zeit, als die Psychoanalyse sich aufmachte, die Seelengründe des Menschen zu entdecken. Man fand, daß das Sonnenlicht nur 250 bis 300 Meter unter die Oberfläche dringt, und Freud erkannte, daß nur die Oberfläche der Seele bewußt und das Bewußtsein weit davon entfernt ist, deren Gesamtheit zu durchdringen. Man hielt die Tiefen des Ozeans für unbewohnt und wußte noch nichts vom Leben des Unbewußten.

Die Stille des Meeres und das Schweigen der Seele sind heute gleichsam umzingelt vom Sprechen, doch dieses Sprechen enthält auch alle Tiefen des Schweigens. Denn die Stille (le silence) ist das Schweigen der Dinge, wo das Schweigen (le silence) die Stille hinter den Worten ist; schweigen (se taire) bedeutet: nichts sagen, aber das Deutsche besitzt hier ein Substantiv, wo das Französische keines hat.

Le silence de la mer – ist das die Stille der See oder das Schweigen des Meeres? Auch hier drückt das Deutsche sich anders aus. Die See bedeutet das offene Meer, das Meer als Element: Wir fahren an die See – nous allons à la mer. Das Meer ist entfernter, geographisch definiert, an einem bestimmten Ort gelegen und, streng betrachtet, nicht dieses fundamentale Element im individuellen Fühlen: Das Meer hat einen allgemeinen Charakter, den die See nicht hat.

»Es beginnet nemlich der Reichtum im Meere«, sagt Hölderlin in dem eingangs zitierten Gedicht[2], denn größer als jenes, umfängt die hoch aufpeitschende[3] See das Meer; und wenn auch das Deutsche das Wortspiel mer/mère (Meer/Mutter) nicht kennt, gelangt es doch auf anderen Wegen, anderen Umwegen zu demselben Ergebnis.

Es ist, als berge die deutsche Sprache die ursprüngliche Brandung der See, bewahre ihr Wiegen, Ebbe und Flut. Wie der Spaziergänger am Strand mit dem Wellenschlag atmet (und das nicht weiß), ist das Deutsche durchdrungen von der Bewegung der Lunge.

Die ganze deutsche Sprache ist auf dem Wechsel von Hebung und Senkung des Brustkorbs aufgebaut, auf An- und Abstieg, Hin und Her im Raum: Das berühmte Fort-Da des kleinen Kindes in Freuds »Jenseits des Lustprinzips« verleiht dem Ausdruck. Im Deutschen geht alles vom Körper aus, kehrt zu ihm zurück, geht durch ihn hindurch: Der Leib (der das Leben selber ist) hat denselben Ursprung wie das Leben (la vie, life). Der Leib ist das Lebendige selbst, das Leben, wie es leibt und lebt; der Leib (le corps) ist etwas ganz anderes als der Körper (le corps), der dem lateinischen corpus entsprungen ist, der organische Körper und auch der Lehrkörper, le corps de métier, die Körperschaft. Der Leib dagegen ist der Körper, der ich bin, mein Leib und Leben.

Die Sprache ist ihm eingepflanzt, unaustilgbar. Es gibt wirklich keine größere Dummheit, als vom abstrakten Charakter des Deutschen zu reden: Keine andere Sprache ist so konkret, so räumlich; das Deutsche ist, genaugenommen, unfähig zu jeder Abstraktion. Seine abstrakten Begriffe bezieht es aus dem Französischen oder konstruiert es nach dem Französischen. So bei Hegel: immanent, positiv, negativ, das Subjekt, die Reflexion, das Princip usw. Bewahrt nicht das Deutsche in der physischen Präsenz des Körpers eine vage Erinnerung an die verlorene Einheit von Leben (Leib) und Erkenntnis? Und die Räumlichkeit trägt noch zum konkreten Charakter der Sprache bei: Freud mußte nur ihren Übergängen folgen, ihren Linien, ihrem Ansteigen und Abfallen.

Nichts einfacher, nichts unmittelbarer als das philosophische Vokabular. Das erste Kapitel von Hegels »Phänomenologie des Geistes«[4] besteht nur aus Wörtern, über die schon ein fünfjähriges Kind verfügt (mit Ausnahme vielleicht der Begriffe Vermittlung und Unmittelbarkeit). Je tiefer sich die deutsche »Philosophie« gibt, desto simpler und konkreter ihre Sprache, in jedem Fall aber sehr nahe dem leiblichen Befinden, dieser inneren und äußeren Befindlichkeit des Leibes.

Alles Denken nimmt seinen Ausgang notwendig von einem bestimmten Punkt des Raumes aus, an dem sich das Ich (je) befindet. Dieses Ich kann übrigens niemals moi sein, das in ihm ruht, ohne sich selbst meinen zu können, als ob es ein Ich (moi) gäbe, das in der Sprache eingemauert ist. Wilhelm von Humboldt (der etwas zu oft vergessen wird) stellte fest, daß die Sprache sich immer von diesem synästhetischen Punkt aus organisiert[5] – vielmehr: Sie nimmt dort Platz.

Die Gesamtheit der deutschen Sprache bildet sich von der Lage und der Bewegung im Raum aus. Das wird sehr hübsch veranschaulicht durch einen Würfel mit Figuren, der jungen Franzosen, wenn sie Deutsch lernen, die Präpositionen auf, über, neben usw. begreiflich machen soll, die entweder den Dativ oder den Akkusativ regieren, je nachdem, ob ein Ortswechsel stattfindet oder nicht.

Die Sprache ist um einige Grundwörter wie stehen, liegen, sitzen und die ihnen entsprechenden Faktitiva stellen, legen, setzen aufgebaut – das heißt um Verben, die eine Bewegung im Raum ausdrücken. Diese Grundwörter, zu denen noch viele andere kommen, haben im Französischen kein Äquivalent, kommen aber praktisch in jedem dritten deutschen Satz vor und lassen sich unbegrenzt mit einer Vielzahl von Partikeln kombinieren: Legen kann man mit mindestens zwanzig Partikeln zusammensetzen, deren jede wiederum mindestens zehn verschiedene Bedeutungen hat, wie ablegen, anlegen, auslegen.

So verhält es sich auch mit der Mehrzahl der Verben, deren Kombinationsmöglichkeiten, die immer auch eine räumliche Bedeutungsnuance haben, unerschöpflich sind. Leicht lassen sich vollkommen kohärente und grammatikalisch korrekte Wörter finden, wie umfenstern oder durchlöschen, für die es noch keine Bedeutung gibt.

Stehen, die Senkrechte, und Liegen, die Waagrechte, bestimmen den Sinn jeder sprachlichen Äußerung im Deutschen. Nicht zufällig hat Luther vor dem Landtag zu Worms gesagt: »Hier stehe ich und kann nicht anders.« Er hätte auch sagen können: Darauf bestehe ich. Hier ist Luther, aufrecht steht er für seine Wahrheit ein, und niemals würde er gestehen, wozu er nicht stehen kann[6]. Dafür wäre er fähig, kerzengerade alles durchzustehen und bis zum Ende zu leiden, ohne gestanden zu haben. Das Wort stehen ist eine der Hauptstützen der deutschen Sprache, einer der im Meer des Sinns aufragenden Pfähle, an denen sie ihre Pontons baut.

Unermüdlich schwappt Wasser um diese Pfosten, es kommt und geht, steigt und fällt, dieses Flüssige, aus dem die Sprache entsteht; See und Sprache sind so eng verwandt, daß im Deutschen (wie wir noch sehen werden) sogar die Seele, die bei Freud eine so große Rolle spielt, aus dem Wasser kommt. Sie hat den Geschmack der See, sie treibt in ihr, wie sie in der Lymphe schwimmt oder im Likör, den so viele Jünglinge zu schmecken bekamen. Die deutsche Sprache versteht es, den Geschmack eines jeden zu treffen, ihm zu schmeicheln und selbst darüber noch hinwegzutäuschen.

In seinem schönen Buch über Friedrich Hölderlin[7] wies Pierre Bertaux darauf hin, daß der Geist (l’esprit) auf schwäbisch (und Hölderlin war Schwabe) »Geischt« gesprochen wurde, Gischt also, das Emporschießende, Schäumende, Sprühende, vor dem man sich mit einem Südwester...

Erscheint lt. Verlag 6.5.2018
Übersetzer Brigitte Große
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Sprachwissenschaft
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Deutschland • Exil • Flucht • Frankreich • Gedanken • Georges-Arthur Goldschmidt • Linguistik • Literatur • Psychoanalyse • Sigmund Freud • Sprachanalyse • Sprache • Überleben • Verständigung
ISBN-10 3-10-490844-3 / 3104908443
ISBN-13 978-3-10-490844-1 / 9783104908441
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